Parkour. Herbert Lipsky
einen Brunch einnahmen. Marie und seinem Vater gab er einen Kuss. Marie musterte ihn kritisch. Dann begrüßte er vage einige Leute, holte sich Kaffee, nahm sich ein Croissant und setzte sich allein an einen Tisch.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Die bretonische Jungfrau stand vor ihm, und wie er hatte sie einen Kaffee und ein Croissant in der Hand.
„Es ist mir ein Vergnügen, Madame.“ Er rückte ihr den Sessel zurecht.
Schweigend tunkte er sein Croissant in den Kaffee und blickte in den Park hinaus.
Nach einer Weile sagte Charlotte: „Sind Sie am Morgen immer so gesprächig?“
„Meistens bin ich am Morgen allein, und mit mir selbst spreche ich noch nicht.“
„Diese Einsamkeit muss furchtbar sein.“
Er blickte auf, sie saß mit einem unschuldigen Lächeln vor ihm, ihr frischer bretonischer Teint ließ sie heute eher wie einen Teenager denn als eine Aristokratin aussehen.
„Ich bin eben ein einsamer Wolf.“
„Gestern Abend hatte ich diesen Eindruck aber nicht. Sie scheinen Geselligkeit zu lieben, Sie gingen förmlich von einer Hand zur anderen. Sie schienen mir wie ein Fisch im Wasser zu sein. Ist das in Wien auch der Fall?“
Er stand auf, um sich einen zweiten Kaffee zu holen, trank stehend ein Glas Mineralwasser und kam zum Tisch zurück. Diese junge Dame setzte ihm zu.
„Bevor ich Ihnen auf Ihre kritischen Fragen über mein Privatleben eine Antwort geben kann, muss mein Kopf etwas klarer werden. Derzeit bin ich Ihnen noch nicht gewachsen.“
Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn ab.
„Diese Spitzentaschentücher, bekommt man die in Wien zu kaufen?“
Er griff nochmals in die Hosentasche und zog das Taschentuch wieder heraus. Entsetzt betrachtete er es, er hatte in seinem benommenen Zustand den spitzenbesetzten Slip eingesteckt, den er im Bett gefunden hatte. Er wurde rot, brachte kein Wort heraus.
„Also ich kann Sie beruhigen, mir gehört er nicht“, meinte sie begütigend. „Wir Bretoninnen tragen nur weiße Baumwollunterwäsche.“
Verzweifelt sagte er: „Ich habe keine Ahnung, wie er in mein Bett gekommen ist.“
„Dann haben Sie auch keine Erinnerung, was passiert ist und ob es überhaupt ein Vergnügen war?“
„Doch, ich erinnere mich, einen erotischen Traum gehabt zu haben.“
„Das ist doch wenigstens etwas. Also ich tippe auf die Dame, die dort im Schatten sitzt. Die macht ein so zufriedenes Gesicht. Der könnten Sie das Corpus Delicti anbieten.“
„Von der habe ich nicht geträumt.“
„Aber Sie haben mit ihr eng umschlungen getanzt.“
Zu seiner Erleichterung war Catherine Deneuve nicht auf der Terrasse zu sehen. Er hatte keine Ahnung, wie er sich ihr gegenüber verhalten hätte sollen.
„Was machen Sie jetzt mit dem interessanten Taschentuch?“
„Ich behalte es als Souvenir.“
Der Kaffee schien seine Wirkung zu entfalten, sein Verstand begann wieder zu arbeiten.
„Ich wäre noch gern geblieben, vor allem, um Ihnen Rede und Antwort über mein Privatleben zu stehen, aber mein Flug geht heute am Nachmittag, und morgen sitze ich wieder im Streifenwagen und halte Verkehrssünder an.“
„Ich fahre heute noch nach Paris, wenn Sie vom Charles de Gaulle abfliegen, kann ich Sie vor der Oper absetzen, von dort können Sie den Bus nehmen ...“
„Womit verdiene ich so ein Angebot?“
„Mit gar nichts. Betrachten Sie es als Samariterdienst. Aber wir sind jetzt immerhin verwandt, Cousins, da Marie meine Tante ist. Und ich werde doch meinen Cousin mitnehmen. Abfahrt in zwei Stunden.“
Sie stand auf und verließ den Tisch, er tat desgleichen, setzte sich aber zu seinen Eltern, um noch ein wenig mit ihnen zu plaudern.
„Charlotte ist ein hübsches Mädchen, aber sie hat eine lose Zunge“, meinte Marie.
„Damit habe ich bereits Bekanntschaft gemacht. Hat sie einen Freund?“
„Was höre ich da, bist du an ihr interessiert? Frag sie doch selbst!“ Sie lächelte. „Von mir erfährst du nichts.“
Er verabschiedete sich von allen. Die Dame, die ihn in der Nacht besucht hatte, bekam er nicht zu Gesicht.
Um drei Uhr nachmittags fuhr Charlotte in einem kleinen Peugeot vor dem Hotel vor. Er stellte seinen Koffer auf den Rücksitz und nahm neben ihr Platz. Zu seiner Erleichterung fuhr sie gleichmäßig und angenehm, so blieb er während der Fahrt entspannt, und sie konnten sich unterhalten. Ihre Mutter war die Schwester von Marie und hatte tatsächlich einen Aristokraten geheiratet. Zunächst sprachen sie über die beiden Frischvermählten, dann erzählte er ein wenig von seinem Leben als Polizist.
Dann fragte er sie: „Wohnen Sie in einem richtigen Schloss?“
„Schloss ja, aber es ist nicht Amboise. Es ist eher ein Landhaus, aber es kostet uns mehr als genug.“
„Was studieren Sie?“
„Ich werde nächstes Jahr mit Medizin fertig.“
„Dazu sind Sie noch zu jung.“
„Ich bin vierundzwanzig.“
„Haben Ihre Eltern schon einen standesgemäßen Mann für Sie ausgesucht?“
„Sie sind gerade dabei, es zu tun, aber unter einem Herzog geht gar nichts.“
„Sie haben recht, wenn schon, denn schon. Was würden Ihre Eltern sagen, wenn Sie etwa einen Flic heiraten würden?“
„Ich habe nicht die Absicht, das zu tun. Das war aber jetzt nicht ein Heiratsantrag?“
„Nein, nein, nur ein rhetorische Frage.“
„Also, meine Eltern würden unter der Bedingung zustimmen, dass derjenige ein lieber, treuer Ehemann wäre, aufopfernd für mich sorgen und mich nie verlassen würde.“
„Sie Arme. Diesen Mann gibt es nicht mehr, dann werden Sie eine alte Jungfrau bleiben.“
„Alt werde ich sicher, aber Jungfrau bleibe ich nicht. Aber ich merke, Sie haben bereits wieder zu Ihrer Form zurückgefunden, der Kopf ist klar.“
Inzwischen hatten sie die Oper erreicht und sie hielt an. Er blieb kurz sitzen.
„Charlotte, vielen Dank, und wenn Sie nach Wien kommen, werde ich mich für Ihre Freundlichkeit revanchieren. Entschuldigen Sie, wenn ich etwas keck gesprochen habe. Es war für mich eine Freude und ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben. Ganz abgesehen davon, dass Sie mir als Frau gut gefallen.“
Sie hielt ihm ihre Wangen huldvoll zum Kuss hin. Er kam der Aufforderung dreimal nach, stieg aus, holte seinen Koffer vom Rücksitz. Sie fuhr mit quietschenden Reifen los, er winkte ihr etwas traurig nach und bestieg den Roissybus, der ihn zum Flughafen Charles de Gaulle brachte.
Die neue Dienststelle
Seine Arbeit begann er am Montag bereits in seiner neuen Dienststelle. Die Sonderkommission hatte ihren Standort im Landeskriminalamt. Er betrat ein großes Besprechungszimmer, in dem rund um einen langen Tisch ein Dutzend Personen saß. Alle blickten ihn erstaunt an.
Frau Gruppeninspektor Bauer nickte ihm zu und sagte: „Das ist unser neue Kollege, Lukas Bernard, er war es, der Kabakow zur Strecke gebracht hat. Bernard, setzen Sie sich, ich werde Sie nach der Besprechung jedem einzeln vorstellen.“
Er sah sich neugierig um. Im Raum befanden sich drei Frauen und neun Männer. Eine Kollegin war etwas massiv, die andere zart, beide um die dreißig; die Männer