Wenn Schuldgefühle zur Qual werden. Doris Wolf
ohne Kinder, fühlen sie sich schuldig, obwohl daran objektiv nichts Verkehrtes zu entdecken ist. Sie sind sich ihrer Forderung nicht bewusst, immer für die Kinder dasein zu müssen. Deshalb glauben sie, sich grundlos schuldig zu fühlen. Menschen, die sich immer schuldig fühlen, werfen sich beispielsweise ein „unverzeihliches Vergehen“ vor. Andere haben in ihrer Kindheit die grundsätzliche Einstellung gewonnen, von Natur aus schlecht zu sein. Sie wurden oder werden auch heute noch in ihrer Familie als das schwarze Schaf angesehen, das an allem schuld ist. Sie laufen quasi mit der Grundeinstellung umher, mit ihnen stimme etwas nicht, sie seien grundsätzlich schlecht und ablehnenswert.
1.5Wer hat Einfluss auf unsere Regeln und Wertvorstellungen?
Schuldgefühle entstehen, weil wir unser Tun anhand bestimmter Wertmaßstäbe als falsch bewerten und uns verurteilen. Bis wir erwachsen sind, haben wir eine Unmenge von Normen, Regeln und Wertmaßstäben in unserem Kopf installiert. Wie ein Roboter reagieren wir in einer bestimmten Situation mit einer ganz bestimmten Bewertung. Es gibt im wesentlichen drei Quellen, aus denen wir unsere Maßstäbe für richtiges und falsches Verhalten beziehen: 1) von den Eltern und nahen Bezugspersonen, später auch von dem Lebenspartner, 2) von der katholischen/evangelischen Kirche oder anderen religiösen Vereinigungen und 3) von der Gesellschaft.
1.Eltern und nahe Bezugspersonen
Die meisten Eltern wünschen sich „brave“ Kinder, die sich nach ihren Vorstellungen verhalten. Außerdem wünschen sie sich, dass aus den Kindern erfolgreiche Erwachsene werden, die anerkannt werden, es zu etwas bringen und sich in die Gesellschaft einfügen. Mittel zur Erziehung sind unter anderem:
a) Belohnung
durch Materielles, durch die Erlaubnis bestimmter Handlungen „Wenn du lieb bist, bekommst du … darfst du …“, durch den Wegfall unangenehmer Konsequenzen „Wenn du lieb bist, brauchst du nicht mehr …“
b) Bestrafung
durch negative Konsequenzen „Wenn du nicht tust, dann kriegst du …“, durch den Wegfall positiver Konsequenzen „Wenn du nicht lieb bist, bekommst du nicht mehr …“
c) Schuldgefühle
„Mami mag dich nicht mehr, wenn du … Du machst mich traurig, wenn du …“, „Du bist schlecht, wenn du nicht … befolgst/machst.“ Das Kind bekommt die Verantwortung für das Wohlergehen der Bezugspersonen auferlegt. Da es gerne gemocht werden möchte, wird es höchstwahrscheinlich alles tun, um brav zu sein, oder sich zumindest schlecht fühlen, wenn es zuwiderhandelt. Das Kind hat noch keine Möglichkeit, die Regeln der Eltern in Frage zu stellen und zu trennen zwischen ihrer Liebe und einem einzelnen Verhalten, was es zeigt. (Wie man dies macht, dazu werden wir später noch kommen). Es lernt, sich als guten Menschen anzusehen, wenn die Eltern es mögen, und als schlechten, wenn die Eltern es ablehnen.
Meine Mutter liebt mich.
Ich fühle mich gut.
Ich fühle micht gut, weil sie mich liebt.
Ich bin gut, weil ich mich gut fühle.
Ich fühle mich gut, weil ich gut bin.
Meine Mutter liebt mich, weil ich gut bin.
Meine Mutter liebt mich nicht.
Ich fühle mich schlecht.
Ich fühle mich schlecht, weil sie mich nicht liebt.
Ich bin schlecht, weil ich mich schlecht fühle.
Ich fühle mich schlecht, weil ich schlecht bin.
Ich bin schlecht, weil sie mich nicht liebt.
Sie liebt mich nicht, weil ich schlecht bin.
aus: Ronald Laing: Knoten, Reinbeck 1972 Rowohlt dnb 25
2.Kirchliche Einrichtungen
Jede kirchliche Einrichtung hat Gebote und Vorschriften erlassen, nach denen die Mitglieder sich verhalten sollen. Sind die Gebote formuliert, um Menschen dabei zu helfen, besser miteinander zusammenzuleben und sich wohlzufühlen, ist nichts dagegen einzuwenden. Doch häufig werden Mitglieder kirchlicher Organisationen sogar seelisch krank, weil sie es nicht schaffen, sich an die Gebote zu halten. Die zehn Gebote beispielsweise sind kaum von einem menschlichen Wesen vollständig immer und überall zu erfüllen. Vielfach sind die Gebote nicht einsichtig oder passen nicht mehr in die heutige Zeit (beispielsweise das Verbot bestimmter Empfängnisverhütungsmethoden oder das Zölibat). Viele gläubige Menschen leben zwar nach den Geboten der Kirche, aber nur weil es Gott von ihnen verlangt – nicht weil sie sie bejahen. – Der Motor, der dahintersteht, ist die Angst vor Bestrafung im diesseitigen oder jenseitigen Leben. Andere leben im Widerspruch zu den Geboten, aber plagen sich mit permanenten Schuldgefühlen herum. Für sie besteht die Gefahr, depressiv zu werden oder eine Suchtmittelabhängigkeit zu entwickeln.
3.Gesellschaft
•Schule
Auch Lehrer sind einflussreiche Vermittler von Schuldgefühlen. Vielleicht erinnern Sie sich auch an solch peinliche Situationen, als Sie an der Tafel die Rechenaufgaben nicht herausbekamen und der Lehrer Ihnen mitteilte: „Das müsstest du aber jetzt wissen.“ Der Hinweis auf die Enttäuschung der Eltern oder die Androhung, die Eltern über schlechte Leistungen oder mangelnde Mitarbeit zu informieren, hat sicher auch bei Ihnen genügt, um Schuldgefühle hervorzurufen. Wie wir mit Fehlern und Misserfolgen umgehen, auch das haben wir in der Schule mitbekommen. Aus der Sicht vieler Lehrer sollen uns Schuldgefühle zum Lernen und konzentrierten Arbeiten motivieren.
•Gesetze
Unser Staat hat für alle Lebensbereiche Gesetzesvorschriften formuliert: zur Ehe, zur Kindererziehung, zum Umweltschutz, zum Straßenverkehr, zum Umgang mit anderen Menschen, zur Anwendung von Gewalt in der Partnerschaft, zum Schwangerschaftsabbruch, zur Homosexualität, zur Abgabepflicht für Steuern, zur Meldepflicht, zur Eigentumswahrung, zum Verhalten am Arbeitsplatz usw. Für das Zusammenleben in einer Gesellschaft sind Gesetze notwendig und erforderlich. Sie sind die Grundlage, nach der sich alle Mitglieder der Gesellschaft orientieren sollen. Der Staat versucht, uns durch die Androhung von Strafen zur Einhaltung seiner Gesetze zu bewegen. Verhalten wir uns wider die Gesetze, so müssen wir mit Konsequenzen rechnen, die von finanziellen Strafen, bis hin zu vorübergehendem oder lebenslänglichem Freiheitsentzug reichen. Daneben erwartet der Staat auch, dass wir die Schuld einsehen, Reue zeigen und uns bessern. Die Gesetze des Staates sind nicht unumstößlich, sondern werden immer einmal wieder neuformuliert, das heißt was zu manchen Zeiten als Fehlverhalten verurteilt wurde, kann zu anderen Zeiten als angemessen und richtig definiert werden (zum Beispiel Scheidung, Homosexualtiät, Zusammenleben vor der Ehe).
•Werbung/Medien
Ein immer gewichtigerer Verursacher von Schuldgefühlen ist die Werbung. Sie ist quasi auf unsere Empfänglichkeit für Schuldgefühle angewiesen. Nicht immer setzt die Werbung so offen auf Schuldgefühle wie bei der Lenorwerbung und dem sprechenden schlechten Gewissen. Es genügen dafür auch subtile Andeutungen. Wer will denn keine gute Mutter sein, keine attraktive Ehefrau? Wer will denn andere durch seinen Mundgeruch belästigen, schuld an dem frühen Herztod seines Partners sein, weil er nicht die gesunde Margarine zum Frühstück serviert, oder aber durch das falsche Waschmittel Allergien bei den Kindern erzeugen? Wer will seine Kinder in Lebensgefahr bringen, weil er noch keinen Airback für sein Auto hat, oder den Kindern kein Spiel in eigenem Garten ermöglichen? Überhaupt – so will es uns die Werbung weismachen – brauchen Kinder Markenprodukte und das Beste vom Besten, um glücklich zu sein. Selbst unser Hund oder unsere Katze scheint in der Lage zu sein, Schuldgefühle zu erzeugen, weil wir nicht eines der köstlichen Katzen- oder Hundefutter in den Napf streuen. Die Werbung suggeriert uns, dass wir unsere Schuldgefühle vermeiden können, wenn wir nur die entsprechenden Produkte kaufen. Dann werden wir von unserer Umwelt gemocht werden und uns selbst auch glücklich fühlen.
•Kulturelle