Fakemedizin. Christian Kreil
das Konzept des »wilden Denkens« etwas Versöhnliches, Kulturübergreifendes. Es lässt uns verstehen, dass es in allen Gesellschaften, auf allen Kontinenten und vermutlich unabhängig von formaler Bildung und Entwicklung oder dem, was man als »Zivilisationsgrad« versteht, ein Bedürfnis gibt: nach einem »wilden Denken«, das sich aus Bequemlichkeit oder warum auch immer dem Hausverstand, der Ratio und der Nüchternheit entzieht. Es gibt eine Sehnsucht im Menschen, sich dem Medizinmann anzuvertrauen, auch wenn man ahnt, dass der sein Spiel treibt. Dem Medizinmann in Afrika, der die Sonne beim Untergehen aufhält; dem Medizinmann bei uns, der uns Zuckerkugeln auf die Zunge legt. So absurd die Versprechen eines Schamanen oder das Angebot »alternativmedizinischer« Ärzte auch sein mag, auf den gar nicht so diskreten Charme der Scharlatanerie fällt nun einmal ein Teil der Menschen herein, und das sogar mit einer Freude.
Aber es gibt Hoffnung: Es gibt in allen Gesellschaften eine reichlich große Anzahl von Menschen, die Hausverstand, redliche Argumentation und Rationalität in Ehren halten und den Schlangenölverkäufern die Stirn bieten. Ich habe es bereits angeführt: Auch im Land der Zande im tiefen Afrika vor 100 Jahren zweifelten Menschen an der Zauberkraft ihrer Medizinmänner. Das gibt Hoffnung darauf, dass sich kritisches Denken auch bei uns schön langsam durchsetzt.
Zur Ehrenrettung der Zande und Afrikas sei gesagt: Die Zande und ihre Medizinmänner, das war vor 100 Jahren. Mittlerweile gibt es Zande, die Medizin studiert haben, die Ärzte sind und die von der Zauberei ihrer Großväter nichts mehr wissen wollen. Im Kongo und im Südsudan gibt es Krankenhäuser, die Menschen nach den Regeln der Medizin behandeln, wenngleich die ärztliche Unterversorgung in diesen und vielen anderen Ländern der Welt eine Schande ist. Aber selbst im Land der Zande weiß man mittlerweile zu schätzen, was Medizin kann: Wer Kopfweh hat, der ist dankbar für ein Aspirin, das ist in Afrika nicht anders als in Europa. Man weiß auch im Land der Zande den Segen der Impfungen gegen Krankheiten zu schätzen, die vormals die Menschen bei einer Epidemie dahinrafften.
Ich war als Student mehrere Jahre in Afrika unterwegs, zwischen Kairo und Kapstadt kenne ich alle Länder, darunter auch den Sudan. Auf dem Campus der Universität der Khartoum lernte ich eine junge Zande-Frau kennen. Sie studierte Medizin, ich scherzte mit ihr und ihren Freundinnen, dass ich von ihrem Volk und von deren Zauberkünsten gelesen hatte. Kaum hatte ich das angesprochen, breitete sei eine Decke aus. Sie würde mir jetzt meine Zukunft vorhersagen. Dann warf sie allerlei Steine und ein paar Muscheln darauf und blickte ernst. Das Orakel ergab: Ich würde in politische Unruhen geraten und Mädchen kennenlernen. Ich bedankte mich und merkte an: Ich befinde mich im Sudan, in dem seit Jahren ein brutaler Bürgerkrieg tobte, für den Hinweis mit den Unruhen brauche ich kein Orakel. Außerdem war ich ein 21-jähriger Mann, und in dem Alter ist man als Mann so gut wie hinter jedem Rock her. Das teilte ich der Studentin mit, und sie und ihre Freundinnen lachten. Sie haben das selbst nicht ernster genommen als wir, wenn wir in der Tageszeitung unser Horoskop lesen. Vor ein paar Jahren kontaktierte mich die Frau via Facebook. (Es ist eine der schönen und verbindenden Seiten von Facebook, dass ich immer wieder Kontaktanfragen von Menschen aus fremden Ländern erhalte, die sich an einen Fremden erinnern können – und das teilweise nach Jahrzehnten.) Nach der Unabhängigkeit des Südsudan hat sie in der südsudanesischen Hauptstadt Juba eine Stelle als Krankenhausärztin angenommen. Sie impft Kinder gegen Masern und Gelbfieber, und gibt ihren Patienten wenn es sein muss Antibiotika und keine Paste aus zerstoßenen Rinden und zerkochten Termiten und Heuschrecken, wie es einst Evans-Pritchard von ihren Großvätern beschrieb. Die Medizinmänner unter den Vorfahren ihres Volkes gereichen ihr weder zur Ehre noch zur Schande.
Was wir daraus lernen: Das »wilde Denken« ist kein Stempel für sogenannte »Wilde«, wir finden es überall, am Weißen Nil, im Mostviertel und im Ruhrgebiet, und es kann überwunden werden.
Abschließend sei zur Ehrenrettung Afrikas gesagt: Auch vor 100 Jahren spielte Magie nicht in allen Gesellschaften auf dem schwarzen Kontinent eine große Rolle. Evans-Pritchard forschte nach seinem Aufenthalt bei den Zande bei den Nuern im Südsudan. Als er dort beharrlich nach Magie und Zauberei zu fragen begann, reagierten die Nuer mit Kopfschütteln. Sinngemäß gaben sie ihrem britischen Gast zu verstehen: »Was hast du bloß mit deiner Besessenheit nach Magie?« Die Nuer erwiesen sich als begnadete Rinderzüchter, sie verehrten ihre prächtigen Herden und wollten – so die Schilderungen Evans-Pritchards – tagein, tagaus über gar nichts anderes reden als über ihre Rinder. Magie, Medizinmänner und Ähnliches, das ging den Nuern offensichtlich irgendwo unterhalb des Rückens vorbei. Die Nuer sind mir sehr sympathisch. Sie zeigen uns: Das »wilde Denken« ist kein Schicksal, man kann sich davon befreien, auch als Gesellschaft.
Die »Granderisierung« der Welt
Sie haben sicherlich schon einmal belebtes Wasser getrunken, vermutlich »Granderwasser«, in einem Hotel oder einem Gasthof, und mit Sicherheit hat das Haus mit dem »belebten« oder »energetisierten« Wasser stolz geworben. Das Tiroler Unternehmen Grander ist Marktführer im Gewerbe des »Wasserbelebens« und macht damit Millionenumsätze, vermutlich nicht trotz, sondern gerade wegen des offensichtlichen Humbugs. Die sogenannte »Wasserbelebung nach Grander« – sie ist eine wunderbare Metapher für den Erfolg von Esoterik und Pseudomedizin – und ein weiterer Beweis für die Beständigkeit des »wilden Denkens«.
In dem Fall versteckt sich das »wilde Denken« hinter einer angeblichen »Technologie«: Sie beruht, vereinfacht gesagt, darauf, dass Leitungswasser an einem geheimnisvollen »Informationswasser« vorbeifließt. Das »Informationswasser« ist ein geheimnisvolles Ur-Granderwasser – nur die Familie Grander kennt dafür das »Rezept« –, und es befindet sich in den Wasserbelebungsgeräten. Diese werden in die Wasserleitung eingebaut, das Informationswasser befindet sich in abgeschlossenen Kammern. Das Leitungswasser rinnt – getrennt durch zentimeterdichtes Metall – daran vorbei. Eine wie immer geartete Manipulation des Trinkwassers oder einen Kontakt mit dem geheimnisvollen Ur-Granderwasser gibt es dabei nicht. Das Leitungswasser wird weder erhitzt noch bestromt oder verquirlt, es kommt mit keinen biowirksamen oder chemischen Stoffen in Berührung, es wird nicht gesiebt, geschüttelt oder gekühlt. Nichts wird dem Wasser zugesetzt oder entzogen. Das behauptet Grander auch nicht. Das Unternehmen behauptet in beeindruckend ehrlicher Schlichtheit: Das Leitungswasser erhält beim Vorbeifließen am Ur-Granderwasser »Informationen«. Das klingt verdächtig nach Homöopathie, und das ist kein Zufall, die Phänomene ähneln sich frappant.
In die Kammern mit dem geheimnisvollen Ur-Granderwasser könnte man getrost auch Buttermilch, Marillenmarmelade oder Luft füllen, auch ein starkes Gift würde unserem Leitungswasser nichts anhaben. Das Wasser, das wir nach dem Einbau einer Granderanlage trinken, ist in jedem Fall exakt das Wasser, das wir vor dem Einbau einer Granderanlage getrunken haben.
Damit wäre alles gesagt. Aus dieser Perspektive ist es natürlich unsinnig, der Grandertechnologie und dem Wesen des Ur-Granderwassers weiter auf den Zahn zu fühlen. Seit einem Gerichtsurteil aus dem Jahr 2006 darf man diesen Zinnober als »aus dem Esoterikmilieu stammenden, parawissenschaftlichen Unfug« bezeichnen. Geschadet hat dieses Urteil dem Unternehmen kaum.
Auch hier gilt: Die angeblichen Mechanismen der Wasserbelebung sind irrelevant. Nicht das, was das Unternehmen als Grandertechnlogie bezeichnet, interessiert uns. Was unser Interesse weckt, das sind die Mechanismen, die Menschen dazu bringen, diesen Unfug zu akzeptieren, zu verteidigen oder Geld dafür auszugeben.
Die »Granderisierung der Welt« – das ist die Transformation des »wilden Denkens« ins Marketing, ist das sichtbare Symptom für die Lust, belogen zu werden, mitzuspielen bei einer Chimäre und darauf auch noch stolz zu sein.
Wer sich die Granderwasser-Technologie für sein trautes Heim leistet – und dabei ist man schnell eine vierstellige Summe los –, der will kein besseres Wasser. Er will lediglich besser dastehen. Er kommuniziert mit seiner Umwelt, mit Bekannten und Freunden und gibt zu verstehen: Ich gebe mich nicht zufrieden mit dem Wasser, das bei uns aus der Leitung kommt, ich lege was drauf für etwas Besonderes. Und das klappt, solange niemand dem Besonderen auf den Zahn fühlt.
Bei der Fakemedizin ist es ganz ähnlich. In der Regel muss dafür bezahlt werden, über die Pflichtbeiträge zur Krankenversicherung hinaus. Wer mit seinen Kindern