Fakemedizin. Christian Kreil
York, 2004, S. 47
5 https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/schulmedizin-und-arische-physik/
6 ORF 1, Immun gegen Fakten. Die wundersame Welt der Impfgegner, 22. April 2020
7 https://youtu.be/oIICv4ln44Q ODER: Welt im Wandel TV, Rüdiger Dahlke, Krankheit als Sprache der Seele, 6. Oktober 2015
Warum funktioniert der faule Zauber?
Das hätten wir geklärt: Es gibt also keine »Alternativmedizin«, und mit dem Begriff »Schulmedizin« samt seiner ideologischen Last haben wir aufgeräumt. Was nachweislich hilft und heilt, ist Medizin, was nicht hilft oder keine Wirkung hat, ist Fakemedizin. Mit diesen Feststellungen sind die Würfel aber noch nicht gefallen, wir können die Augen nicht vor der Realität verschließen. Fakemedizin wird nachgefragt, sie ist erfolgreich am Markt und in aller Munde, sie wird in den Medien oftmals kritiklos als sanfte Alternative präsentiert und gelobt.
Fakemedizin wird aber nicht deswegen nachgefragt und angewandt, weil sie wirksam oder erfolgreich wäre. Fakemedizin erfüllt offensichtlich Bedürfnisse, die außerhalb des objektiv Feststellbaren und Messbaren liegen, und die nichts mit Heilung zu tun haben,
Das »wilde Denken« lässt uns nicht los
Kehren wir noch einmal kurz zu den eingangs erwähnten Zande im zentralafrikanischen Südsudan zurück. Wir müssen dazu eine kleine Zeitreise unternehmen und uns in ein Afrika vor knapp 100 Jahren zurückdenken. Irgendwo an der Wasserscheide der beiden Ströme Nil und Kongo lebten und leben die Zande. Das Dreiländereck von Zentralafrikanischer Republik, dem Südsudan und der Republik Kongo ist auch heute noch ein wenig abseits gelegen. Die Zande waren vor knapp 100 Jahren jedenfalls noch eine Gesellschaft ohne nennenswerte Kontakte zur sogenannten Zivilisation, wie wir sie kennen. Auch nachdem die Kolonialmächte ihre Pflöcke in die rote Erde des schwarzen Kontinents schlugen und die Kirchen ihre ersten Missionen eröffneten, ging es im Land der Zande sehr langsam voran mit der Modernisierung. Vor nicht ganz 100 Jahren verbrachte der britische Ethnologe Edward Evan Evans-Pritchard zwei Jahre bei den Zande. Er war es auch, der den Zauber des Medizinmannes beobachtete, der den Sonnenuntergang mit einem Stein in einer Astgabel verzögern wollte. Und das war beileibe nicht der einzige Zauber, den der Forscher bei den Zande dokumentierte. Evans-Pritchard hielt fest: »Mangu, Hexerei, das war eines der ersten Worte, die ich bei meinem Aufenthalt im Zandeland hörte. Und von nun an sollte ich es jeden Tag hören.«1
Dieses Schicksal teile ich mit dem britischen Sir. Ich höre auch jeden Tag etwas von Mangu. Bei uns heißt Mangu Homöopathie, Bioresonanztherapie oder Informationsmedizin.
Evans-Pritchard schrieb nach seinem Aufenthalt im Südsudan das Buch Hexerei, Magie und Orakel bei den Zande, es gilt als Meisterwerk der Ethnologie. Das 1937 erschienene Werk ist aus mehreren Gründen interessant: Evans-Pritchard begegnet den Objekten seiner Forschung mit Respekt. Das ist beachtlich für die damalige Zeit. Der Ethnologe beschreibt die Zande als ausgesprochen heitere und freundliche Menschen, mit denen es sich gut plaudern lässt. Er begegnet seinen Forschungsobjekten auf Augenhöhe und kanzelt die Zaubereien und Hexereien, von denen die Zande ausführlich und gern erzählen, nicht als Zeugnisse von »Primitivität« oder »Wildheit« ab.
Allerdings, und das ist der ganz entscheidende Punkt: Obwohl er die Praktiken der Medizinmänner und der Hexer detailliert schildert, gibt Evans-Pritchard niemals zu verstehen, dass er der Zauberei und dem Wirken der Medizinmänner Glauben schenkt. Später sollte man Evans-Pritchards bahnbrechende Arbeit so charakterisieren: Ihm sei als Erstem der Versuch gelungen, »fremde Denksysteme auf ihre eigene Logik hin zu untersuchen«.
Und die Logik der Zande rund um ihre Medizinmänner lässt sich rational erklären. Evans-Pritchard stellt die richtigen Fragen dazu. Eine davon lautet: Warum glauben die Menschen bei den Zande dem – aus unserer Sicht offensichtlich falschen – Zauber? Um auf das Beispiel mit dem verzögerten Sonnenuntergang zurückzukommen – es gibt einen recht banalen Grund dafür, dass die Zande dem Glauben schenkten: Die Zande hatten vor 100 Jahren keine Uhren. Sie hatten auch keine andere Methode zur Messung von Zeit. Sie hatten nicht einmal eine Vorstellung, dass es so etwas wie eine Uhr geben könnte, und sie hatten – und das macht sie durchaus sympathisch – offenbar auch kein Verlangen nach einer Uhr. Und das ist einer der Gründe dafür, dass der Medizinmann im Land der Zande leichtes Spiel hat bei seinem Spiel mit der Sonne und der Zeit.
So gut wie niemand aus dem Volk der Zande hatte vor 100 Jahren eine Möglichkeit, mal schnell in eine Bibliothek zu spazieren, um sich über Aberglauben und Magie schlauzumachen. Die Zande konnten nicht einmal wissen, dass es Bibliotheken gibt. Niemand hatte die Möglichkeit, ein Experiment zu wagen und dem Medizinmann zu sagen: »Hey, das ist fauler Zauber, den du da veranstaltest. Ich habe hier eine Stoppuhr mitgebracht, wir schauen uns das jetzt mit dem Hinauszögern des Sonnenuntergangs ein wenig genauer an.« Mit anderen Worten: Die Medizinmänner der Zande konnten sich einigermaßen sicher sein, dass niemand in ihrem Dorf oder in ihrer Gesellschaft ihren Zauber zu widerlegen vermochte.
Das bedeutet allerdings nicht, dass alle in der Gesellschaft der Zande sich jeden Bären aufbinden ließen: Im Kapitel »Die Stellung der Medizinmänner in der Gesellschaft« in Evans-Pritchards Buch erfahren wir vom Unmut mancher im Land der Zande gegenüber den Rosstäuschern. Der Autor schreibt: »Viele sagen, dass die meisten Medizinmänner Lügner sind und einzig daran interessiert, reich zu werden.«
Die Zande brachten vor 100 Jahren im tiefen Afrika offenbar kritischere Geister hervor, als unsere Gesellschaft es heute tut. Das ist etwas überspitzt formuliert, aber wer schon einmal in einem Kreis von impfkritischen Eltern gesessen oder mit überzeugten Anwendern von Homöopathie diskutiert hat, der kann ohne Weiteres zu diesem Schluss kommen. Im Gegensatz zu den Zande steht uns jede Bibliothek offen. Wir können Studien einsehen, wir sind stolz auf unsere Bildung, und trotzdem konsumieren wir – im wahrsten Sinne des Wortes wie verrückt – das, was die Zande Mangu nennen: Magie, Zauberei. Unzählige Studien und Metastudien belegen, dass homöopathische Arzneimittel nicht besser wirken als ein Placebo – und trotzdem schwören Millionen Menschen darauf.
Der Grund dafür ist das »wilde Denken«, dem eine Gesellschaft offenbar nicht entkommen kann. Wir verstehen uns als Zivilisation, die sich von angeblich Primitivem abhebt, wir sind stolz auf die Aufklärung, auf Schrift und Wissenschaft und Fortschritt, wir fliegen zum Mars und statten Roboter mit künstlicher Intelligenz aus, wir fragen Siri und Alexa, und sie antworten uns tatsächlich, und wir verharren – ohne dass es uns bewusst ist – im »wilden Denken«. Das ist ein Begriff, der uns der Sache näherbringt. Er wurde von dem 2009 verstorbenen französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss geprägt. Das Konzept des »wilden Denkens« ist ein Ansatz zum Verstehen menschlicher Gesellschaften, die – etwas vereinfacht gesagt – auf »mythischer Weltanschauung« beruhen. Damit meint Lévi-Strauss Menschen wie die Zande, Kulturen und Gesellschaften vor und außerhalb eines Lebens, das wir gern mit den Labels Zivilisation und Aufgeklärtheit versehen. Aber, und das ist der entscheidende Ansatz im Konzept von Lévi-Strauss: Das »wilde Denken« erlebt in modernen Industriegesellschaften in neuen Manifestationen eine Renaissance.
Das ist der Punkt: Der »Wilde« ist nicht nur der Medizinmann der Zande, der im finsteren Afrika vor 100 Jahren heilt, zaubert und orakelt. Es ist auch der Arzt aus dem Zillertal, der sich nicht geniert, Zahlenreihen und Halbkreise als Schutz vor dem Corona-Virus zu empfehlen, der darüber ein Filmchen dreht und das an seine Freunde und Bekannten schickt. Der »Wilde« ist auch der Aurachirurg, der mit dem Messer über einem anatomischen Atlas herumfuchtelt und jemanden, der dahinter sitzt, zu »operieren« vorgibt. Der Glaube, dass ein Wirkstoff, der in einem Verhältnis von einem Tropfen zum Tausendfachen Volumen des Atlantiks