Fakemedizin. Christian Kreil
ihrer eigenen Beweisführung bloßstellen: die Anekdote. Wie bereits erwähnt: Wenn die Nachbarn darauf schwören, dass die Kinder bei Ohrenschmerzen irrsinnig gut auf Globuli ansprechen, ist das eine Anekdote. Sie ist subjektiv geprägt und naturgemäß beeinflusst von Erwartungshaltungen und der persönlichen Präferenz der Person, die Auskunft gibt: Wer bei Kindern mit Ohrenschmerzen Homöopathie einsetzt, wird selbstverständlich eine Wirkung bezeugen – vor allem weil er weiß, dass Homöopathie mehr als umstritten ist. Alles andere würde ja das Eingeständnis bedeuten, bei seinen Kindern mit wirkungslosen Mitteln herumzudoktern. Das gilt für die Kunden von jedwedem esoterischen oder pseudomedizinischen Tand. Wer sich teure und wirkungslose Bioresonanz-Geräte kauft, lügt sich gern selbst und auf Anfrage auch andere an. Wer das nicht tut, gibt ja zu, einem teuren Schmäh aufgesessen zu sein. Das will niemand, und das ist das Erfolgsrezept der Fakemedizin. Sie sorgt dafür, dass sich ihre Kunden mit ihr gemein machen, sie gegen Zweifel und Kritik verteidigen. In der Werbebranche gilt: Von einem durchschlagend erfolgreichen Marketing spricht man dann, wenn die Kunden freiwillig und mit Überzeugung den überhöhten Preis oder das Unnütze eines Produkts verteidigen.
Evidenz und Empirie stellen sicher, dass persönliche Erwartungen und Präferenzen bei den Versuchen und Studien, die eine Wirksamkeit beweisen sollen, keine Rolle spielen. Dafür sorgt eine sorgfältige und im Idealfall doppelte Verblindung. Ein Beispiel, sehr vereinfacht dargestellt: Wenn 200 Probanden ein neues Arzneimittel gegen Kopfschmerzen testen, erhalten 100 Probanden ein Placebo ohne Wirkstoffe und 100 Probanden ein Verum – ein Präparat mit Wirkstoffen. Die Verblindung ist ideal, wenn nicht nur der Proband, sondern auch der Arzt und der Apotheker nicht wissen, ob an den Probanden ein Placebo oder ein Verum ausgegeben wird. Die Auswahl erfolgt per Zufall. Die Auswertung erfolgt von Personen, die Placebo und Verum codiert haben und im Setting der Beratung, Medikation und Abgabe der Mittel gar nicht mit den Probanden in Kontakt kommen. Damit fallen persönliche Vorbehalte oder auch hohe Erwartungen der Testpersonen gegenüber dem Medikament weg.
Der Proband hat zwangsweise ein Vorurteil gegenüber einem Medikament. Er wird entweder sagen, das wird wieder nicht viel helfen bei meinen Kopfschmerzen, oder er wird sagen: Hoffentlich ist das mal ein Medikament, das hilft. Eine völlig neutrale Position ist unrealistisch, und das ist auch menschlich. Der Vergleich zwischen Verum- und Placebo-Gruppe bügelt diese bestehenden Vorbehalte aus. Wer ein Placebo bekommen hat und eine positive Wirkung bekundet, scheidet als Referenz für die Wirksamkeit natürlich aus.
Um als Medizin zugelassen zu werden, muss das Medikament natürlich in der Verum-Gruppe signifikant bessere Werte erzielen. Gleichzeitig werden in der Versuchsanordnung die echten Nebenwirkungen des Medikaments erfasst. Die Erfahrung zeigt, dass Personen nach Einnahme eines Medikaments sehr oft über Magenschmerzen, Schwindel oder Unwohlsein klagen. Das beruht auf Erfahrungen, die man tatsächlich mit Medikamenten gemacht hat, weil es diese Nebenwirkungen natürlich gibt oder weil man davon gehört hat, dass sie häufig vorkommen. Dass diese vermuteten Nebenwirkungen auch bei Probanden auftreten, die nur ein Placebo erhalten haben, ist der Beweis für den gleichnamigen Effekt. Beschwerden, die das Medikament allerdings wirklich und spezifisch hervorruft, müssen in der Verum-Gruppe natürlich signifikant höher vorkommen als in der Placebo-Kontrollgruppe. Und vor denen warnen uns die Hinweise auf Nebenwirkungen im Beipacktext echter Medikamente.
Um es auf den Punkt zu bringen: Keine einzige »alternativmedizinische« Methode wird in einer seriösen Versuchsanordnung, mit der die Wirksamkeit von Mitteln oder Behandlungen festgestellt werden kann, ein Ergebnis erzielen, in der das getestete Medikament in der Verum-Gruppe ein besseres Ergebnis zeigt als jene der Placebo-Gruppe. Oder noch besser gesagt: Jeder Schwachsinn, den wir uns auszudenken imstande sind, und der mit dem Brimborium von Medizin oder Heilung versehen wird, kann einen Placeboeffekt bewirken.
Lassen wir unsere Fantasie spielen: Wenn Sie Bauchschmerzen haben und Ihrem Arzt vertrauen und er Ihnen sagt, dass sie zu Hause im Garten Senftuben an Apfelbäume nageln sollen, dann kann sich bei einem Teil von Anwendern durchaus ein Placeboeffekt einstellen. Das beweist allerdings nur, dass es einen Placeboeffekt gibt. Es beweist nicht, dass Senftuben an Apfelbäumen etwas bewirken. So einfach ist das. Ein Placeboeffekt ist kein Beweis für die Wirksamkeit von Globuli, Fernheilungen, Aurachirurgie oder schamanischen Räuchereien. Er ist vielmehr der Beweis für ihre Wirkungslosigkeit.
Pseudomediziner und deren Anhänger, just wenn sie argumentativ in die Ecke getrieben werden, weisen gern darauf hin: Es sei doch wunderbar, dass es den Placeboeffekt gebe, die »Schulmedizin« verstehe das nicht, natürlich könne man sich den Placeboeffekt zunutze machen und so weiter. Das ist Unsinn. Der Placeboeffekt ist Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, und wir kennen ihn aus der Praxis: Wenn uns nach einer durchzechten Nacht der Kopf gewaltig brummt und wir unser Leid mit einem Aspirin ein wenig zu lindern versuchen, stellt sich die Wirkung des Medikaments oftmals schneller ein, als das Medikament tatsächlich wirken kann. Bis der Wirkstoff ins Blut gelangt und dort verteilt ist, wo er benötigt wird, dauert es nämlich länger. Wer jetzt den Schluss zieht, nur noch Placebos zu schlucken, wenn es wo zwickt, sitzt leider einem Trugschluss auf. Auf die Dauer und vor allem, wenn es darauf ankommt, lässt sich der Körper leider nicht so leicht belügen.
Nochmals zurück zur Begrifflichkeit. Es gibt keine »Alternativmedizin«, ebenso wenig wie es eine Alternativphysik gibt. Auch wenn Sie ganz fest dran glauben. Aber wenn wir mit dem Auto gegen eine Mauer knallen, dann gelten Newtons Gesetze von der Trägheit der Masse, ganz ohne Zweifel. Das ist der Grund dafür, dass wir uns im Auto angurten. Es gibt auch keine Alternativbiologie, die Erdbeeren im Schnee gedeihen lässt, und keine Alternativgeografie.
Okay, die gibt es, wie bereits erwähnt, doch. Die Flat-Earther wehren sich tapfer und mit allen Mitteln und Tricks der naturwissenschaftlichen Argumentation dagegen, die Erde als Kugel zu akzeptieren. Bislang scheitern sie an der Beweisführung, und bis es so weit ist, dass die Scheibenform der Erde tatsächlich bewiesen ist, beobachten wir diese Leute mit Staunen und Faszination. Einen Grund dafür, ihnen an den Instituten für Geografie einen Lehrstuhl für Flache-Erde-Theorien zu überlassen, gibt es allerdings nicht.
Die Medizin ist eine recht pragmatisch agierende Wissenschaft. Sie sucht sich aus dem Potpourri der Naturwissenschaften zusammen, was sie benötigt. Der Anästhesist stünde ohne Chemie auf verlorenem Posten, kein Medikament könnte entwickelt werden ohne die Grundlagen der Biologie, die Behandlung abgenützter Bandscheiben wäre ohne die Basics der Physik schwierig. Und sogar die Materialwissenschaftler von der Technischen Universität, die ansonsten an Leichtbauteilen für Flugzeuge tüfteln, können mit ihrer Expertise ein wenig dazu beigetragen, haltbare und verträgliche Legierungen für die bereits angesprochene künstliche Hüfte unserer Großmutter zu entwickeln. Und natürlich vergessen wir nicht die Psychologie, die ein wenig zu erhellen vermag, was sich in unserem Kopf abspielt, wenn wir mit Krankheiten kämpfen. Die Psychosomatik ist weder aus der medizinischen Forschung noch aus der Praxis wegzudenken. Kein ernst zu nehmender Mediziner leugnet die Bedeutung unseres Denkens, unsere Lebenseinstellung, psychischer und sozialer Umstände für die Entstehung von Krankheiten und für die Genesung.
Der Begriff »Schulmedizin« wäre – wenn überhaupt – auf die Homöopathie anzuwenden. Die Homöopathie beharrt nämlich auf den Prinzipien, die ein Arzt vor mehr als 200 Jahren postulierte, so, als hätte sich die Welt seit damals nicht mehr weitergedreht. Würde die Medizin ähnlich wie die Homöopathie einer Schule im Wort sein, dann wünsche ich uns viel Spaß im Krankenhaus: Dann würden wir heute bei fast allen Krankheiten mit den Therapien der Zeit vor 200 Jahren behandelt werden. Die waren in der Regel grauslich, schmerzhaft und nicht wirksam: Aderlass, künstlich herbeigeführtes Erbrechen und durch allerlei Mittelchen provozierte Durchfälle. Wir können beruhigt sein, in den letzten 200 Jahren hat sich einiges getan in der evidenzbasierten Medizin.
Was heißt eigentlich »Schulmedizin«?
1832 tauchte die Bezeichnung »Mediziner der Schule« erstmals auf. Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, bezeichnete damit abfällig Ärzte, die seiner Theorie nicht folgen wollten. Hier sei eine kleine Fußnote gestattet. Im Vergleich zu dem, was die »Schulmedizin« zur Zeit Hahnemanns an Therapien offerierte, war die Homöopathie durchaus ein Fortschritt. Besser als