Fakemedizin. Christian Kreil

Fakemedizin - Christian Kreil


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durch den Nationalsozialismus einen neuen und durchaus nachhaltigen Drive. Ein kurzer Disclaimer: Ich verfolge mit den Ausführungen auf den folgenden Seiten nicht die Absicht, Anwender oder Kunden von Fakemedizin in ein rechtes Eck zu stellen. Was ich den Lesern nicht ersparen kann, ist der Nachweis dafür: Das Wort »Schulmedizin« hat eine eindeutige Geschichte, und wir müssen uns davon verabschieden, den Begriff wertneutral verwenden zu können.

      In den Jahrzehnten, in denen die Nazis ihre rassistischen Ideen zu spannen und die braunen Truppen ihre Stiefel zu schnüren begannen, gelangen der medizinischen Forschung bahnbrechende Entwicklungen. Paul Ehrlich gelang im Jahr 1909 die erste medikamentöse Behandlung von Syphilis – das war der Grundstein für das, was wir heute als Chemotherapie kennen. 1923 wurde der erste Impfstoff gegen Diphterie entwickelt. Die Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming in den späten zwanziger Jahren kam ein gutes Jahrzehnt zu spät – es hätte in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs hunderttausenden Verwundeten das Leben gerettet.

      Der Blut- und Boden-Ideologie der Nazis war die Medizin und deren Forschung allerdings suspekt. Sie entsprach nicht dem, was die vermeintlichen Herrenmenschen von einer Medizin erwarteten: Eine Medizin habe, so der perverse Gedanke der Braunhemden, der arischen Rasse zugutezukommen und ganz besonders dem deutschen Volk. Dass an den Universitäten viele jüdische Mediziner erfolgreich wirkten, verstärkte den Hass der Nazis auf die Wissenschaft.

      Was die Medizin in jener Zeit erforschte, hatte das Potenzial – auch wenn es etwas pathetisch klingt –, der gesamten Menschheit von Nutzen zu sein. Bakterien und Viren scheren sich bekanntlich einen Dreck um die Nation des Körpers, in dem sie sich ausbreiten, und das Blut kennt definitiv weder eine überlegene noch eine minderwertige Rasse. Die Schutzimpfung für den Arier in den Kolonien schützte auch den »Buschmann«, und ein »Primitiver« – so er geimpft wurde – schützte den deutschen Herrenmenschen.

      Doch die Nationalsozialisten erwarteten etwas ganz anderes von der Medizin: Forschung für den deutschen »Volkskörper« und nicht für angeblich unterlegene Völker. Die wissenschaftliche Medizin stand unter den Nationalsozialisten schnell als »verjudete Schulmedizin« am Pranger. Konnte kein jüdischer Forscher als Hintermann einer Entwicklung ausfindig gemacht werden, tat es auch der Begriff »marxistische Schulmedizin«, um die aus der Sicht der Nazis nivellierende Heilkunde und sozialmedizinische Ansätze zu diskreditieren.

      Das ist vielen, die den Begriff »Schulmedizin« verwenden, natürlich nicht bewusst. Treibt man es auf die Spitze, so lassen sich auch ideologische Gemeinsamkeiten im Denken von Fakemedizin und Nationalsozialismus feststellen: Die Feindseligkeit gegenüber Wissenschaftlichkeit und Evidenz und die Nonchalance im Umgang mit Fakten. Eine bizarre Fußnote des braunen Wissenschaftsverständnisses macht das deutlich: Die Nazis haderten nicht nur mit der »Schulmedizin«, sondern tatsächlich auch mit der »Schulphysik«. Der »jüdischen Relativitätstheorie« Albert Einsteins wollte man eine »arische Physik« entgegenstellen, die auf dem »unverbildeten deutschen Volksgeist« beruhen sollte. Wer heute Einstein infrage stellt oder auch nur das Wort »Schulphysik« verwendet, wird wohl bei jedem Frühschoppen dieser Welt aus der Gaststube gelacht.

      Impfungen gegen ansteckende Krankheiten sind Medizin und Signal zugleich: Der »Untermensch« schützt den »Arier« und vice versa, der Starke und Gesunde übt sich in Solidarität gegenüber dem Schwachen und Verletzlichen. Der Herdenschutz ist den Nazis suspekt, weil die Herde weitaus größer ist als das, was sie als eigenes »Volk« und daher als schützenswert ansehen. Der Rechte wünscht sich die Auslese der Lebensunwerten durch die Natur, was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Das vulgär-darwinistische Denken hat überdauert. Wer heute in »impfkritischen« Foren Diskussionen verfolgt, wird das entlang zweier Phänomene beobachten: am Zynismus, der Kranken gegenüber gezeigt wird, und an einer bizarren Verklärung von Krankheit.

      Maserntote von heute sind nicht etwa Opfer einer Impfmüdigkeit, die von den Seuchenfreunden und derer hartnäckiger Anti-Impf-Propaganda mitverursacht wurde. Die Opfer hätten – Impfungen hin oder her – ohnehin eine zu »schwache Konstitution«. Mit anderen Worten: Die Natur putzt aus, die Schwachen bleiben zurück und werden aussortiert. Die Krankheiten der eigenen Kinder werden als Stahlbad eines natürlichen Erwachsenwerdens verklärt.

      1 per E-Mail, 4. September 2020

      2 C. Tomasetti/B. Vogelsterin, Variation in cancer risk among tissues can be explained by the number of stem cell divisions, 2015

      3 R. Dahlke, Krankheit als Symbol, 1996, S. 37

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