Fakemedizin. Christian Kreil

Fakemedizin - Christian Kreil


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ganzheitlichen Medizin fehlt dafür – und das wissen wir alle – vor allem die Zeit, und oftmals auch die nötige Empathie der Ärzte. In diese Bresche springen die Anbieter von Fakemedizin mit Verve. Sie nehmen sich Zeit, lassen sich diese entgelten und nutzen sie, um ihren Tand und ihren faulen Zauber an den Mann und an die Frau zu bringen. Fernheilung gegen Vorauskasse, Zuckerkugeln aus der Apotheke und QR-Codes gegen Haarausfall und Heilsymbole gegen Corona sind trotzdem kein Beitrag zu einer ganzheitlichen Medizin. Dass unser Medizinsystem und die Kommunikation mit dem Kranken Defizite aufweist, bedeutet nicht, dass Scharlatanerie einen Beitrag zu einer ganzheitlichen Medizin leistet.

      8 Fakemedizin hat mit Naturheilkunde nichts zu tun. Fake­medizin ist weder sanft, alternativ oder ganzheitlich, und sie ist ebenso wenig natürlich. Humbug ist kein Teil der ­Natur, so sehr sich die Anbieter des Humbugs auch in diese hineinzu­reklamieren versuchen. Vor allem die fakemedizinische Königsdisziplin Homöopathie hat der Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten erfolgreich die Erzählung geprägt, als »Naturheilkunde« eine Alternative zur angeblich sterilen und kalten Medizin zu sein. Stimmige Bilder wurden mitgeliefert: Kaum eine Publikation zur Homöopathie kommt ohne Blätter tiefgrüner Pflänzchen aus, über die Tautropfen kullern, die inhaltslosen Zuckerkugeln der Disziplin werden geschickt daneben drapiert. Allerdings gilt auch hier die unromantische Feststellung: Wo nichts drinnen ist, ist auch keine Natur drinnen. Natürlich gibt es wirksame Naturheilmittel und Phytopharmaka – vom Salbeitee gegen Halsschmerzen bis zum Beifuß, dessen Extrakte gegen Malaria helfen. Die Natur ist Teil der Medizin, nicht der Fakemedizin.

      9 Kranke tragen keine Schuld. Wer vom Jugendalter an täglich 30 Zigaretten inhaliert, darf sich im Alter nicht beklagen, wenn die Lunge sich schwer beleidigt zeigt. Das wissen wir und wohl auch der Betroffene. Wir sind uns auch darüber im Klaren, dass das kein Grund ist, dem Lungenkranken eine bestmögliche Behandlung zu verweigern. Vermutlich kennen wir alle in unserem Freundes- und Bekanntenkreis Menschen, die von einer Krankheit betroffen sind, für die es keine kausale Erklärung gibt. Hautkrebs bei Menschen, die sich nie unnütz der Sonne ausgesetzt haben, ein Schlaganfall, der einen 40-jährigen Nichtraucher von den Beinen holt, der immer Sport getrieben, kaum Alkohol getrunken und gesund gegessen hat. Diese Geschichten schreibt das Schicksal. Die Wissenschaft geht davon aus, dass Krebserkrankungen in 29 Prozent der Fälle auf Umweltbedingungen und Lebensstil zurückzuführen sind, in nur fünf Prozent der Fälle hat die Erkrankung genetische Ursachen. In 66 Prozent der Fälle erfolgen die Krebsmutationen durch Zufall während der Zellteilung.2 Diese zwei Drittel sind ein gefundenes Fressen für die Fakemediziner. Nicht weil sie eine Therapie für die Erkrankung hätten, sondern weil sie die Krankheit bedeutungsschwer einem Defizit im geistigen Mindset des Menschen zuschreiben. Der Erkrankte darf sich dann nicht nur über ein bei ihm diagnostiziertes Karzinom den Kopf zerbrechen, sondern auch über den Beitrag seines unzulänglichen Denkens und Geists dazu. Sehr hemdsärmelig geht der Kalauer-Mediziner Rüdiger Dahlke in seinen zahlreichen Büchern an die Sache heran. Egal ob Schnupfen oder Krebs, Dahlke hat eine flache Metapher parat. Bei Brustkrebs ortet Dahlke jovial einen »Egotrip« der Zellen, der durch eine Vernachlässigung der Prinzipien »Versorgung von Kindern und Familie« oder »im Bereich Beziehung und Partnerschaft« begründet sei.3 Mit anderen Worten: Die Frauen sind selbst schuld am Krebs mit der Vernachlässigung ihrer Rolle als Frau. Auf die Spitze treibt die Schuldzuweisung die anthroposophische Medizin, die Krankheit im Wesentlichen als karmische Notwendigkeit betrachtet. Krankheit sei die Konsequenz aus einem imaginären, früheren Leben des Kranken. Das Durchmachen der Krankheit sei die Chance, das schlechte Karma zu verarbeiten. Das klingt so wunderbar tiefsinnig und ist nichts anderes als zynische Menschenverachtung: Wer krank ist oder an einer Krankheit stirbt, hat es aus Sicht der Anthroposophen auch verdient: »Blame the Victim« (»Gib dem Opfer die Schuld«) nennt man diese Attitüde, sie ist widerlich.

      10 Dieses Buch ist politisch. Fakemedizin ist ein Angriff auf die Wissenschaft – und auch das hat mich zu dem Buch motiviert. Ein Angriff auf die Wissenschaft ist – auch wenn das pathetisch klingt – immer auch ein Angriff auf die Demokratie. Der wissenschaftliche Diskurs und die redliche Argumentation sind Populisten ein Dorn im Auge. Für Populisten ist wahr, was massentauglich ist. Das Johlen ersetzt den Peer-Review, die platte Parole die Diskussion samt ihren Zwischentönen. Dass Populisten des rechten und rechtsextremen Spek­trums oftmals ein Herz für Fakemedizin haben, kommt nicht von ungefähr. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat die Fake News von Autismus, der angeblich durch Impfungen hervorgerufen werde, verbreitet. Ganz offensichtlich wurde ein Schulterschluss von Rechtsextremisten, Impfgegnern und Vertretern der Neuen Germanischen Medizin bei den Demonstrationen gegen die vermeintliche Corona-Diktatur, die seit April 2020 ihr Unwesen treiben. Eine ideologiefreie Impfkritik gibt es nicht. Wer Krankheiten als Resultat schlechten Karmas betrachtet, agiert politisch. Ich erlaube mir, auf politische Hintergründe des Phänomens und der Anbieter von Fakemedizin hinzuweisen. Das bedeutet nicht, dass ich alle, oftmals arglosen Nutzer, damit gleichsetze. Nicht alle Spielarten der Fakemedizin haben einen offensichtlichen politischen Hintergrund, fast alle sind aber mit politischen Hintergründen aufgeladen. Über eines müssen wir uns aber im Klaren sein, und das auszusprechen darf auch den freudigen Anwendern von Fakemedizin zugemutet werden: Es gibt nichts Politischeres als die Dummheit!

      Es gibt keine »Alternativmedizin«

      »Schulmedizin«. Das Wort fällt so sicher wie das Amen im Gebet, wenn wir mit schlauen Anbietern oder überzeugten Kunden der »Alternativmedizin« diskutieren. Der Hardcore-Anwender »alternativer« Heilmethoden wird bei dem Begriff ein wenig die Nase rümpfen, die »Schulmedizin« verteufeln oder sie zumindest rundum ablehnen. Der gemäßigte User oder Anbieter wird der »Schulmedizin« generös einen Bereich zuweisen, in dem sie neben der »sanften« oder »alternativen« Medizin »auch ihre Berechtigung« hat. Das geschieht meistens dann, wenn wir höflich darauf hinweisen, dass die neue Hüfte der Oma, die ihr plötzlich wieder schmerzfreies Gehen ermöglicht, kaum mit Aurachirurgie implantiert werden konnte. Wer auf sanfte Medizin schwört, kann bei einer Hüftoperation, die ein durchaus blutiges Gemetzel sein kann, maximal mit großen traurigen Augen zusehen. Der Esoteriker versucht sich dabei in der Regel mit diesem Kalauer aus der Bredouille zu ziehen: »Ja, da ist die ›Schulmedizin‹ eh gut, aber ...«

      Der Haken an der Sache: Es gibt kein »Aber«, und es gibt keine »Schulmedizin«. Dass wir das Wort heute in vielen Fällen unbedacht verwenden und dass dies auch Vertreter der evidenzbasierten Medizin hie und da tun, ist ein Erfolg der »Alternativ­medizin«, die es so pauschal ebenfalls nicht gibt. Der Begriff »Schulmedizin« hat zudem eine sehr bedenkliche Geschichte.

      Den Vermarktern der »Alternativmedizin« ist mit der Etablierung des Begriffspaars »Alternativmedizin« und »Schulmedizin« als weithin akzeptierte Antipoden ein großer Wurf gelungen, das müssen wir neidlos anerkennen. Die begriffliche Dichotomie erzeugt den Anschein, dass es eine »Alternativmedizin« gebe, die auf Augenhöhe mit der echten Medizin agiere. Natürlich sind die Begriffe »Alternativmedizin« und »Schulmedizin« Unsinn. Es lässt sich ganz einfach auf den Punkt bringen: Wenn eine Operation, ein Medikament, eine Therapie oder jede andere Form psychischer oder physischer Intervention wirkt – und zwar nachweislich –, dann sprechen wir von Medizin. Das kann die neueste Chemotherapie sein oder der Käsepappeltee gegen Magenschmerzen. Das kann Hühnersuppe bei Erkältungen sein oder das Antibiotikum gegen Borreliose nach einem Zeckenbiss. Wenn etwas nicht über den Placeboeffekt hinauswirkt, dann ist das keine »sanfte« Medizin oder »Alternativmedizin«, sondern Fakemedizin oder schlichtweg: keine Medizin. Dieses Wort bringt den Sachverhalt einfach besser auf den Punkt.

      Mancher Leser wird jetzt einwenden, dass die Nachbarn darauf schwören, dass Globuli bei den Kindern bei Ohrenschmerzen immer helfen würden, dass die Bachblüten-Notfalltropfen den Hund zu Silvester immer beruhigen, wenn draußen das Silvesterfeuerwerk tobt, und dass Hunderttausende Menschen, denen der Wunderheiler João de Deus in den letzten Jahrzehnten in Brasilien ein paar Sekunden seiner Aufmerksamkeit und Heilung geschenkt hat, nicht irren können. Um das aufzuklären, müssen wir uns mit ein paar Phänomenen und Begriffen auseinandersetzen: Placebo, Anekdote, Evidenz.

      Evidenz in der Medizin sagt nichts anderes aus, als dass eine Wirksamkeit empirisch nachgewiesen werden kann. Dieses Prinzip stellt sicher, dass nur Medikamente und Therapien


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