Fakemedizin. Christian Kreil
kletterte ich in den Bergen, in jungen Jahren durchaus extrem. Meinen Kletterhelm in wilden Jahren schmückte das Abziehbild eines Engels aus dem Wallfahrtsort Maria Taferl, ein kleiner Davidstern und die erste Sure des Korans. Hie und da fragte mich in den Bergen jemand, was das bedeuten soll. Ich sagte scherzhaft: Ich bereite mich auf alle Eventualitäten vor in der Nordwand der Westlichen Zinne. Sollte ich den Heldentod in den Bergen erleiden, so bin ich auf der sicheren Seite beim Eintritt ins Paradies, egal ob der Pförtner Christ, Muslim oder Jude ist. Hinduistische und buddhistische Symbole habe ich keine auf meinem Helm. Noch ein paar Karmarunden mit unvorhersehbaren Reinkarnationen als Lastenesel, als Fan des FC Bayern oder als Vegetarier, darauf kann ich verzichten.
Anfang der neunziger Jahre forschte ich im Sudan und ritt mit Nomaden und ihren Kamelherden durch die Wüste. Die Atmosphäre im Sudan war damals etwas aufgeladen, marodierende Viehräuber überfielen manchmal Herden und Hüter. Alle Nomaden, mit denen ich unterwegs war, trugen auf ihren Oberarmen kunstvoll vernähte Lederetuis. In die waren Zaubersprüche eingenäht, die eine Art islamischer traditioneller Heiler verfasste, ein Sufi. Die Zaubersprüche versprachen Glück in der Liebe, Gesundheit und noch wichtiger: Glück auf der Suche nach saftigen Weiden, Glück beim Finden der wenigen Tränken. Mir wollte man unbedingt einen Zauberspruch zum Schutz vor Gewehrkugeln aufschwatzen. Ich blieb hart und sagte: »Wenn geschossen wird, dann lauf ich weg und verstecke mich hinter einem Felsen.« Die Nomaden haben über meine Antwort gelacht. Sie haben die Sache auch nicht so ernst genommen, denn der beste Schutz vor fremden Kugeln waren die Kugeln in den eigenen Gewehren, die sie selbstverständlich dabeihatten, wenn es mit den Herden auf Tour ging.
10 Prämissen zur Fakemedizin
Zurück zu den Zaubereien, die mir mitten in Europa angeboten werden. Die Phänomene, Angebote und Versprechen, über die ich in diesem Buch schreibe, stelle ich nicht zur Diskussion, sondern an den Pranger. Das klingt hart, aber irgendjemand muss es nun mal machen, und ich denke, dass ich die Argumente für diese durchaus apodiktische Aussage auf meiner Seite habe. Im Folgenden skizziere ich kurz, von welchen Prämissen und Überzeugungen ich ausgehe. Lesen Sie sich das gut durch, sonst werden Sie sich schwertun mit dem Buch.
1 Ich muss nicht rund und um die Erde segeln – zumindest nicht, um zu beweisen, dass die Erde eine Kugel ist. Es gibt tatsächlich eine wachsende Anzahl von Menschen, die behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist. Wenn wir es mit diesen Flat-Earthern zu tun haben, reicht ein Verweis auf Geografen, Physiker und Astronomen. Die erklären Phänomene wie Ebbe, Flut, Gravitation und die Bahnen der Gestirne recht schön. Deren Modelle für die Kugelform der Erde bauen wunderbar aufeinander auf. Die in dieser Sache firmen Wissenschaftler können die Gestalt der Erde und die Ausgestaltung des Universums recht gut veranschaulichen, und sie erklären uns plausibel, warum sich eine Scheibe im Universum verdammt schwertäte. Wer die Kugelform der Erde anzweifelt, der darf gern die Segel setzen, zum Rand der Scheibe segeln und uns Fotos von dort schicken. Und ab diesem Zeitpunkt bin zumindest ich beeindruckt und still. Bis dahin gilt allerdings für die Astrophysik und die Geografie, was auch für die Medizin gilt, und damit kommen wir zu Regel Nummer 2:
2 Die Regeln der Wissenschaft gelten immer. Wer behauptet, dass er mit Fernheilung Krebs besiegen kann, muss die Beweise dafür bringen. Wer behauptet, dass in wirkstofffreien Zuckerkugeln eine imaginäre Information gespeichert ist, die uns heilt, der muss Beweise dafür liefern. Die Beweise müssen belastbar und reproduzierbar sein, so einfach ist das. Die Beweislast liegt beim Anbieter. Es ist nicht meine Aufgabe, nachzuweisen, dass die von den anthroposophischen Medizinern angebotenen Mistel-Präparate Krebs nicht heilen. Natürlich darf jemand behaupten, dass er mit Weißwurst-Senf, den er auf einem Fensterbrett in Form von Mandalas verschmiert, Multiple Sklerose heilt. Allerdings muss der Weißwurst-Mandala-Experte den Beweis für die Wirksamkeit bringen. Machen wir es kurz: Das mit der Beweisführung, das wird nicht geschehen. Fakemedizin scheut Wissenschaft, Fakten, Messbares, Nachvollziehbares und die Evidenz wie der Teufel das Weihwasser. Bei fast allen Scharlatanerien, mit denen ich Sie in diesem Buch konfrontiere, werden Sie auf der Webseite oder in den Foldern der Anbieter irgendwo einen Disclaimer finden, der das implizit bestätigt. Dort lesen wir im zumeist Kleingedruckten, dass die Anbieter »darauf aufmerksam machen, dass die Methode von der Schulmedizin nicht anerkannt wird«, oder »... bitte bedenken Sie, dass mein Angebot keinen Arzt ersetzt« oder dass »die Schwingungsglobuli nur auf der energetischen Ebene wirken« und lediglich »dazu da sind, die Selbstheilungskräfte zu stärken«. Auf ein Ärztezentrum nahe meiner Heimatstadt Steyr bin ich aufmerksam geworden, als ich mich auf die Suche nach einem Facharzt für Interne Medizin gemacht habe. Auf der Webseite bieten die Ärzte dort von Aderlass bis Quantenheilung allerlei an, das mit diesem Hinweis versehen ist: »Es wird darauf hingewiesen, dass viele dieser Methodiken seitens der westlichen Schulmedizin derzeit nicht anerkannt werden.« Danke für den Hinweis, aber ich suche mir lieber Ärzte, die anerkannte und wirksame Methoden anwenden. Wären das keine Ärzte, sondern Kfz-Mechaniker, sie würden die Bremsleitung meines Autos vermutlich mit Luft füllen, dafür ein ordentliches Honorar verlangen, mich aber freundlich warnen: »Leider müssen wir Sie darauf hinweisen, dass unsere Methoden, die Bremsen zu reparieren, vom westlichen Schulmechanikertum derzeit nicht anerkannt werden.« Das ist ein kluger Schachzug, um als Mechaniker auf der sicheren Seite zu sein, wenn es nach der Reparatur kracht. Was man bei derlei Ärzten sinngemäß zwischen den Zeilen liest: »Lieber Patient, wir bieten Ihnen auch Schrott an. Danke für Ihr Interesse und danke vorab dafür, dass Sie nicht lästig nachfragen, ob der irgendwie wirken kann. Und wenn er nicht hilft, ist das ohnehin nicht unsere Schuld.« So funktioniert das Geschäftsmodell Fakemedizin. Der diskrete Disclaimer ersetzt die Evidenz. Die schöne Verpackung ersetzt den Beweis für die Wirksamkeit. Egal ob Fernheiler oder Homöopathen, sie werden – ebenso wie die Flat-Earther – auch in Zukunft daran scheitern, ihre Thesen beweisen oder eine Wirkung nachweisen zu können. Die Erde ist keine Scheibe und Fakemedizin wirkt nicht.
3 Ich muss dem Regenmacher nichts glauben. Ich bin Ethnologe. Der Ethnologe begibt sich – etwas vereinfacht gesagt – in eine »fremde Kultur«, er beobachtet das Leben dort, nimmt daran teil, er lässt sich etwas erzählen, und er dokumentiert das. Die Ethnologie ist allerdings keine rein deskriptive Wissenschaft. Als Ethnologe gebe ich nicht nur wieder, was ich gesehen und gehört habe und was mir in den Notizblock diktiert wurde. Ich muss allfällige fremde Phänomene auch interpretieren und in unsere Denkweise übersetzen. Das ist eine Herausforderung, vor allem wenn es um immaterielle Manifestationen einer Kultur geht: Spirituelles, Religiöses, Schamanismus, Voodoo und Ähnliches. Wenn mir am Blauen Nil, im Hochland von Neuguinea oder am Amazonas ein Regenmacher vorgestellt wird, werde ich als Ethnologe dort natürlich nicht sagen: »Hört mir auf mit dem Blödsinn, keiner kann Regen machen.« Ich höre mir natürlich geduldig an, wie der Regenmacher den Regen herbeizaubert, und höre den Leuten, die dem Regenmacher vertrauen, und den Bauern, die sehnlichst auf den Regen warten, zu. Natürlich ist die Technik des Regenmachens letztlich nicht relevant. Was wirklich wichtig ist und relevant: Ich muss herausfinden und hinterfragen, warum die Menschen dem Regenmacher glauben, warum sie seiner Zauberei eine Wirksamkeit attestieren. Natürlich wissen wir, dass ein Regenmacher keinen einzigen Tropfen Niederschlag herbeizaubern kann. Das scheinbar Irrationale oder Geheimnisvolle lässt sich in der Regel rational recht einfach erklären. Der Regenmacher ist vermutlich ein Mann, der ein Wissen über Wolken und das Entstehen von Wetter hat. Das hat er vermutlich von seinem Vater gelernt, der die Profession des Regenmachens in der Familie bewahrt haben will. Vielleicht hat der Regenmacher auch einfach ein Wissen über den Jahresverlauf des Klimas, er hat die Fähigkeit, sich die Tage, Wochen und Monate zu notieren oder hat gar so etwas wie einen Kalender, der dem »gewöhnlichen Volk« nicht bekannt ist. All das sind Dinge, die in einer schriftlosen Gesellschaft durchaus außergewöhnlich sind und die allerhand Informationsvorsprung bedeuten. Und der Regenmacher wäre dumm, wenn er nicht bei einer durch Cumulus-Wolken angekündigten Regenfront oder kurz vor dem Beginn der Regenzeit ein kleines Regenmacher-Fest organisiert, bei dem er auch ein wenig die Hand aufhalten darf für seine Dienstleistung. Die Wahrheit ist oft so herrlich unromantisch. Man muss scheinbar unerklärlichen Phänomenen nur ein wenig auf den Zahn fühlen. Ich mache beim Homöopathen, beim Heilpraktiker und beim Energetiker nichts anderes als beim Regenmacher. Ich lasse mir ins Notizheft zitieren, wie der Zauber wirkt, ich höre tapfer und aufmerksam zu, lese die