Einsicht durch Meditation. Joseph Goldstein

Einsicht durch Meditation - Joseph  Goldstein


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zur Wahrheit des Lebens erwachen und frei werden kann.

      Der Pfad des Erwachens beginnt mit einem Schritt, den der Buddha als vollkommenes Verstehen bezeichnete. Vollkommenes Verstehen umfaßt zwei Aspekte. Am Anfang steht eine Frage, die sich an unser Herz richtet. Was ist uns wirklich wertvoll und wichtig im Leben? Unser Leben ist kurz. Unsere Kindheit geht schnell vorüber, dann folgt die kurze Jugend, und das Erwachsenenleben eilt ebenso schnell dahin. Wir können unser Leben selbstzufrieden seinen Lauf nehmen und es schließlich in einem Traum verschwinden lassen, oder wir können uns seiner bewußt werden. Bevor wir anfangen zu meditieren, müssen wir uns fragen, was uns am wichtigsten ist. Was möchten wir vollbracht haben, wenn die Stunde unseres Todes gekommen ist? Was wird uns dann am wichtigsten sein? Menschen, die versucht haben, bewußt zu leben, stellen sich in der Todesstunde nur die folgenden beiden Fragen: Habe ich gelernt, weise zu leben? War mein Leben von Liebe bestimmt? Wir können uns diese Fragen auch jetzt schon stellen.

      Dies ist der Anfang des vollkommenen Verstehens: Wir schauen uns unser Leben an, sehen, daß es unbeständig und flüchtig ist, und besinnen uns auf das, was uns am tiefsten berührt. In gleicher Weise können wir die Welt um uns anschauen, in der es unendlich viel Leid, Krieg, Armut und Krankheit gibt. Hunderte Millionen von Menschen in Afrika, Mittelamerika, Indien, Südostasien und sogar in Nordamerika leben unter schrecklichen Bedingungen. Was braucht die Welt, damit alle Menschen ein sicheres und von Mitgefühl geprägtes Leben fuhren können? Durch simples Auswechseln von Regierungen oder durch eine neuartige Finanzpolitik läßt sich menschliches Leid und Elend nicht beseitigen, obgleich natürlich auch solche Mittel eine Hilfe sein können. Auf einer tieferen Ebene sind Probleme wie Krieg und Hunger jedoch nicht durch ökonomische und politische Maßnahmen zu beseitigen. Ihr Ursprung sind Vorurteile und Angst im menschlichen Herzen – und auch ihre Lösung ist im Herzen des Menschen zu finden. Am dringendsten braucht die Welt Menschen, die sich weniger stark von Vorurteilen leiten lassen. Die Welt braucht mehr Liebe, mehr Großmut, mehr Mitgefühl und mehr Offenheit.

      Die menschlichen Probleme wurzeln letztlich nicht in der Knappheit von Ressourcen, sondern im Mißverstehen, in der Furcht und in der Isolation, also in Eigenschaften, die im Herzen der Menschen zu finden sind.

      Vollkommenes Verstehen beginnt mit dem bewußten Wahrnehmen des Leidens und der Probleme in der Welt und in unserem eigenen Leben. Außerdem beinhaltet vollkommenes Verstehen die Aufforderung, mit dem in Kontakt zu treten, was uns in unserem tiefsten Inneren wichtig ist, und es zur Grundlage unserer spirituellen Übung zu machen. Wenn wir sehen, daß die Dinge in der Welt und in unserem eigenen Leben nicht zum besten stehen, werden wir uns auch einer anderen Möglichkeit bewußt, nämlich unseres Potentials, uns größerer Herzensgüte und einer tiefen intuitiven Weisheit zu öffnen. Unser Herz kann uns Inspiration für die spirituelle Reise geben. Bei einigen von uns drückt sich dies in einem Erahnen der großen Möglichkeiten aus, die ein erwachtes, freies Leben mit sich bringt. Für andere ist das Üben der Einsichtsmeditation eine Möglichkeit, sich mit der Macht des Leidens in ihrem Leben auseinanderzusetzen. Einige fühlen sich inspiriert, Einsicht durch Untersuchung und Erforschung zu gewinnen, während andere intuitiv die Verbindung zum Göttlichen spüren oder den Übungsweg der Öffnung des Herzens gehen. Was auch immer uns zum spirituellen Üben bringt, kann in unserem Herzen zu einer Flamme werden, die uns leitet, schützt und zum wahren Verstehen führt.

      Vollkommene Einsicht verlangt von uns auch, daß wir das Gesetz des Karma verstehen. Karma beinhaltet mehr als nur eine geheimnisvolle Idee über esoterische Phänomene wie beispielsweise frühere Leben in Tibet. Der Begriff Karma bezieht sich auf das Gesetz von Ursache und Wirkung. Nach diesem Gesetz beeinflußt all unser Tun und Handeln unsere zukünftigen Erfahrungen. Wenn wir oft auf Menschen wütend sind, erzeugen wir ein Klima des Hasses, was zur Folge hat, daß andere Menschen uns ebenfalls hassen. Wenn wir hingegen in unserem Leben die Liebe pflegen, kehrt sie auch zu uns zurück. So wirkt das Gesetz des Karma in unserem Leben.

      Jemand fragte eine Vipassanā-Lehrerin, Ruth Dennison, ob sie den Begriff Karma mit ganz einfachen Worten erklären könnte. Sie sagte: »Natürlich. Karma bedeutet, daß wir nichts folgenlos tun können!« Was wir auch tun, wie wir auch handeln, alles beeinflußt, wie wir sein werden und wie die Welt um uns sein wird. Wenn wir das Gesetz des Karma verstehen, so gibt uns dies die Möglichkeit, die Richtung unseres Lebens zu verändern. Wir können tatsächlich durch bewußte Einflußnahme auf das Klima unseres Lebens einwirken. Wir können üben, liebevoller, achtsamer oder bewußter zu sein oder was immer wir sein wollen. Dazu eignen sich spezielle Meditationstage ebenso wie Autofahrten oder die Wartezeiten an der Kasse eines Supermarkts. Wenn wir Güte üben, erleben wir plötzlich sowohl in uns selbst als auch in der Welt um uns immer mehr Güte.

      Im Sufismus gibt es eine Geschichte über Mullah Nasruddin, die etwas Ähnliches ausdrückt. Nasruddin ist gleichzeitig ein Narr und ein Weiser. Eines Tages steht er im Garten und verstreut Brotkrumen um die Blumenbeete. Ein Nachbar kommt vorbei und fragt: »Mullah, warum tust du das?«

      Nasruddin antwortete: »Oh, das mache ich, um die Tiger fernzuhalten.«

      Der Nachbar entgegnete: »Aber hier gibt es doch im Umkreis von Tausenden von Meilen keine Tiger.«

      Worauf Nasruddin meinte: »Funktioniert gut, was?«

      Spirituelles Üben hat nichts mit geistlosem Wiederholen eines Rituals oder eines Gebets zu tun. Vielmehr besteht es darin, das Gesetz von Ursache und Wirkung bewußt zu erkennen und das eigene Leben an dieser Erkenntnis zu orientieren. Vielleicht spüren wir das Potential des Erwachens schon in uns, doch muß uns auch klarwerden, daß dieses Erwachen nicht von allein eintritt. Wenn wir bestimmten Gesetzen folgen, manifestiert sich dieses Potential in unserem Leben. Unser Handeln, unsere Beziehung zu uns selbst, zu den Menschen um uns und zu unserer Arbeit, all dies formt die Welt, in der wir leben, schenkt uns Freiheit oder bringt uns Leiden.

      Im Laufe der Jahrhunderte haben sich in verschiedenen Kulturen viele Techniken und Systeme buddhistischer Übung entwickelt, die zum Erwachen führen, doch die Essenz all dieser Praktiken ist immer gleich. Sie sollen uns lehren, klar und direkt in jedem Augenblick die Wahrheit unserer Erfahrung zu sehen, gewahr und achtsam zu sein. Das Üben besteht in der systematischen Erweckung und Entwicklung des Gewahrseins. Dieser Prozeß wurde vom Buddha als die Vier Grundlagen oder Erwekkungen der Achtsamkeit bezeichnet: Achtsamkeit auf den Körper, die Empfindungen, den Geist und auf die Wahrheit, die der Erfahrung zugrunde liegt, auch Geistobjekte genannt.

      Der Buddha sagte, Achtsamkeit erfolgreich zu entwickeln sei das höchste Verdienst; sie gebe uns Aufschluß über alle Aspekte des Lebens. »Sandelholz und Tagara sind äußerst wohlriechend und verströmen ein wenig Duft, doch der Duft der Tugend und eines wohlgeübten Geistes steigt bis zu den Göttern auf. «

      Wie aber sollen wir beginnen? Eine alte buddhistische Schrift, eine Meditationsanleitung mit dem Titel Der Pfad der Reinigung, wurde als Antwort auf das folgende kurze Gedicht verfaßt:

      Die Welt ist zu einem Knoten verstrickt.

       Wer kann das Gewirr entflechten?

      Weil wir den Knoten auflösen wollen, beginnen wir mit der Meditationspraxis. Um uns selbst zu entwirren, um frei zu sein, müssen wir unsere Aufmerksamkeit trainieren. Wir müssen lernen zu sehen, wie wir uns einfangen lassen durch Furcht, Anhaften und Aversionen – durch Leiden. Um dies zu durchschauen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere alltäglichen Erfahrungen lenken und lernen, auf unseren Körper, unser Herz und unseren Geist zu hören. Wir erlangen Weisheit nicht, indem wir Ideale aufbauen, sondern indem wir lernen, die Dinge klar zu sehen, so wie sie sind.

      Was ist Meditation? Eine gute Frage! Beschreibungen, Theorien, Handbücher, Schriften und Vorstellungen, die dies beantworten wollen, gibt es in Hülle und Fülle. Es gibt Hunderte von Meditationsschulen, in denen unter anderem Gebet, Reflexion, Hingabe, Visualisierung und Myriaden von Methoden zur Beruhigung und Konzentration des Geistes gelehrt werden. Ziel der Einsichtsmeditation (und anderer, ähnlicher Disziplinen) ist es, die Einsicht in Geist und Herz hineinzutragen. Einsicht beginnt mit der Übung des Gewahrseins und mit einem Prozeß der Selbst-Erforschung. Von diesem Standpunkt aus ist die Frage: »Was ist Meditation?« praktisch


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