Einsicht durch Meditation. Joseph Goldstein
beziehungsweise erst gar nicht entwickelt. Durch ruhiges und gewissenhaftes Beobachten des Körpers, des Herzens und des Geistes wachsen Verstehen und Weisheit.
Weisheit entsteht, wenn wir direkt die Grundlage unserer Erfahrung beobachten. Wir lernen in dem Maße, in dem wir in der Lage sind, völlig im Jetzt zu leben, statt uns in Träumen, Plänen, Erinnerungen und inneren Selbstgesprächen zu verlieren. Ob man eine Tasse Tee trinkt und dabei völlig bei der Sache ist oder ob man unterdessen an fünf andere Dinge gleichzeitig denkt, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Einen Spaziergang im Wald zu machen und wirklich dort zu sein, ist etwas völlig anderes, als beim Gehen unentwegt zu plaudern, über einen Besuch in Disneyland nachzudenken, das Menü fürs Abendessen zu entwerfen oder sich Geschichten auszumalen, die man später seinen Freunden erzählen will, um zu beweisen, was für ein großartiger Waldspaziergang dies doch war. Nur wer ganz und gar im gegenwärtigen Augenblick verweilt, kann die grundlegenden Fragen des Herzens beantworten: Nur im zeitlosen Augenblick können wir uns jener intuitiven, stillen Erkenntnis der Wahrheit nähern, und nur durch diese intuitive Weisheit können wir uns befreien.
Erforschen und Beobachten
Weisheit erwächst aus dem klaren Sehen in jedem Augenblick. Wir sehen dann das Entstehen und Vergehen unserer Erfahrung und auch, wie wir uns dazu verhalten. Dies geschieht durch sanftes und gewissenhaftes Untersuchen der Vorgänge in Körper und Geist und durch unvoreingenommenes Erforschen der Beziehung dieses Körpers und Geistes zur gesamten Umwelt. Einsicht kann sich nur entwickeln, wenn dieses Beobachten und tiefe Fragen stets an erster Stelle steht. Zunächst geht es darum, den Geist zu sammeln und zu beruhigen, doch dann müssen wir ihn beobachten, prüfen, seine Eigenarten und Gesetze untersuchen.
Durch Meditation lernen wir mehr über die Begierde, wir erkennen ihre Wurzeln, erkennen, ob sie angenehm oder leidvoll ist, und wir sehen, wie sie entsteht und unser Leben beeinflußt. Ebensogut können wir Augenblicke der Stille und Zufriedenheit beobachten. Das gleiche gilt für die inneren Prozesse von Ursache und Wirkung, die Gesetze des Karma. Auch das Gesetz der Unbeständigkeit kann sich uns im Lichte unserer Aufmerksamkeit enthüllen, und wir können erkennen, ob es irgend etwas in unserer Erfahrung gibt, das sich nicht verändert. Während die Dinge sich verändern, können wir weiterhin beobachten, wie das Anhaften wirkt und wie Spannungen und Festhalten-Wollen in unserem Körper und Geist entstehen. Wir können beobachten, was unser Herz verschließt, und herausfinden, wie wir es öffnen können. Vielleicht entdecken wir im Laufe der Zeit bisher unbekannte Tiefen der Stille in uns, und Lichter, Visionen oder andere neuartige innere Erfahrungen erschließen sich uns. Auch unseren Schatten können wir erforschen, indem wir unser Gewahrsein auf unsere Ängste und Schmerzen und auf die tiefen Gefühle richten, die wir so lange unterdrückt haben. Einsichten über die psychischen Muster, die unser Leben bestimmen, können auftauchen, und die Funktionsweise jenes ununterbrochen kreisenden Rades kann sich offenbaren, das wir als Persönlichkeit bezeichnen. Wenn wir diesen Geist des Erforschens und des Gewahrseins auf alle unsere Beziehungen zur Welt ausdehnen, kann uns unsere Beobachtung zeigen, daß unsere Grenzen in Wahrheit Illusionen sind, und uns den Weg weisen, wie wir das Innere und das Äußere wahrhaft miteinander verbinden können.
Darüber hinaus führt uns unser Forschen zu den grundlegendsten spirituellen Fragen, nämlich denen über unser eigenes Wesen. Wenn alles, was wir beobachten, sich verändert, was können wir dann in diesem Prozeß als »ich selbst« definieren? Wir können erkennen, welche Konzepte oder Körperbilder oder welches tiefe Selbstgefühl wir als »ich« oder »mein« ansehen, also als das, was wir sind, und dann diese ganze Struktur in Frage stellen. Und vielleicht gelangen wir – wenn wir ganz ruhig werden – zu etwas, das über unser begrenztes Selbstgefühl hinausgeht, zu etwas, das still, zeitlos und universal ist.
Weisheit ist weder eine bestimmte Erfahrung noch eine Folge von Ideen oder Erkenntnissen, die gesammelt werden müssen. Vielmehr handelt es sich um einen fortlaufenden Entdeckungsprozeß, der sich entfaltet, wenn wir in innerem Gleichgewicht und mit vollem Gewahrsein in jedem Augenblick leben. Er erwächst aus unserer Aufrichtigkeit und aus unserer echten Offenheit und kann uns in eine völlig neue Welt der Freiheit führen.
Einsichtsmeditation ist ein Weg des Entdeckens, geradlinig, direkt und ohne Schnörkel. Dieser Weg ist zwar einfach, aber keineswegs leicht. Obgleich die Formen variieren, ist die authentische Übung der Einsichtsmeditation eine stets gleichbleibende Suche: Es geht darum, eine Grundlage für harmonisches Handeln zu schaffen, Geist und Körper zu sammeln und die Gesetze des Lebens durch die eigene, wahrhaftige, gewissenhafte und direkte Beobachtung zu erkennen. Wenn wir die Methode des Übens verstanden und erkannt haben, daß ein meditatives Leben den gesamten Prozeß des Erwachens umfaßt, bleibt uns nur noch eins zu tun: Wir müssen uns an die Arbeit machen.
J. K.
Übung: Aus den Fünf Empfehlungen lernen
Wählen und üben Sie eine oder mehrere der fünf grundlegenden Empfehlungen und versuchen Sie, sie zur Entwicklung und Stärkung der Achtsamkeit zu nutzen. Arbeiten Sie mit jeder Empfehlung gewissenhaft eine Woche lang, überprüfen Sie anschließend, was dies bewirkt hat, und wählen Sie dann für die folgende Woche eine andere Empfehlung. Hier ein paar Vorschläge für die Arbeit.
1. Nicht töten: Achtung dem Leben gegenüber. Versuchen Sie eine Woche lang, keiner lebenden Kreatur absichtlich in Gedanken, Worten oder Taten Leid anzutun. Werden Sie sich insbesondere der lebenden Wesen in Ihrer Umgebung bewußt (der Menschen und Tiere und sogar der Pflanzen), die Sie gewöhnlich ignorieren, und entwickeln Sie auch ihnen ge-genüber ein Gefühl der liebevollen Zuwendung und Achtung.
2. Nicht stehlen: sorgfältiger Umgang mit materiellen Gütern. Bemühen Sie sich eine Woche lang, jeden Gedanken der Großmut, der spontan Ihrem Herzen entspringt, in die Tat umzusetzen.
3. Enthaltung falscher Rede: aus dem Herzen sprechen. Bemühen Sie sich eine Woche lang, nicht zu klatschen (ganz gleich, ob im Guten oder im Bösen) und nicht über Menschen zu sprechen, die nicht anwesend sind.
4. Sexuelles Fehlverhalten vermeiden: Bewußtheit in der Sexualität. Bemühen Sie sich eine Woche lang, gewissenhaft zu beobachten, wie oft sexuelle Gefühle und Gedanken in Ihrem Bewußtsein auftauchen. Achten Sie jedesmal darauf, welcher Geisteszustand damit verbunden ist, ob es Liebe, Spannung, innere Getriebenheit, Zuneigung, Einsamkeit, Bedürfnis nach Kommunikation, Gier, Lust, Aggression oder was auch immer ist.
5. Rauschmittel nicht exzessiv konsumieren. Bemühen Sie sich eine Woche oder einen Monat lang, alle Rauschmittel und suchtauslösenden Mittel zu meiden (Wein, Marihuana, sogar Zigaretten und Koffein, wenn Sie wollen). Beobachten Sie die Impulse, diese Stoffe zu benutzen, und werden Sie sich dessen bewußt, was im Herzen und im Geist vorgeht, wenn die Impulse auftreten.
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Warum meditieren?
Anfängern in der Meditation und manchmal auch Meditierenden mit langjähriger Übungserfahrung stellt sich hin und wieder die Frage: »Warum üben wir eigentlich?« Regelmäßiges Meditieren erfordert soviel Anstrengung und Hingabe, daß die Frage nach dem Wert und Sinn der Meditation durchaus ihre Berechtigung hat. Meditation zielt darauf zu öffnen, was in uns verschlossen ist, auszugleichen, was reaktiv ist, und zu erforschen, was verborgen ist. Dies ist die Antwort auf die Frage, warum wir üben. Wir üben, um uns zu öffnen, um einen Gleichgewichtszustand in uns zu schaffen und um uns zu erforschen.
Öffnen, was verschlossen ist
Was ist verschlossen in uns? Unsere Sinne sind verschlossen, unser Körper ist verschlossen. Wir verbringen einen so großen Teil unserer Zeit verloren in Gedanken, Urteilen, Phantasien und Tagträumen, daß wir der unmittelbaren Erfahrung unserer Sinne kaum Aufmerksamkeit schenken – dem, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und in unserem Körper empfinden. Da wir häufig zerstreut sind, ist unsere Sinneswahrnehmung getrübt. Werden Gewahrsein und Konzentration durch die Meditation stärker, so verbringen wir nicht mehr so viel Zeit in Gedanken, wodurch wir unsere Sinneseindrücke sensibler und feiner wahrzunehmen vermögen.
Außerdem wird unser