Einsicht durch Meditation. Joseph Goldstein
Diese Art des Gebens zu erlernen ist wundervoll.
Wenn wir großzügiger werden, mehr von unserer Zeit, unserer Energie, unserem Besitz und unserem Geld geben, lernen wir, dies nicht nur zu tun, weil es einem bestimmten Selbstbild gerecht wird oder einer äußeren Autorität gefällt, sondern weil es eine Quelle echten Glücks in unserem Leben ist. Natürlich bedeutet das nicht, daß wir alles weggeben sollen. Das wäre exzessiv, denn wir müssen auch uns selbst gegenüber mitfühlend und fürsorglich sein. Daß wir die Kraft kennenlernen dürfen, die dieser Art von Offenheit innewohnt, ist eine besondere Gunst. Es ist geradezu ein Privileg, daß wir diese Großmut in unserem Leben praktizieren können.
Die dritte Empfehlung für eine bewußte Lebensführung ist, sich falscher Rede zu enthalten. Im Rahmen des Achtfachen Pfades wird dies als Vollkommene Rede bezeichnet. Das bedeutet: Lüge nicht; sprich Dinge nur aus, wenn sie wahr sind und wenn es nützlich ist, sie auszusprechen; rede weise, verantwortlich und im geeigneten Augenblick. Vollkommene Rede konfrontiert uns ständig mit der Frage, ob wir uns dessen bewußt sind, wie wir die Energie unserer Worte benutzen. Wir verbringen ungeheuer viel Lebenszeit damit, zu analysieren, zu diskutieren, zu klatschen und Pläne zu schmieden, und der größte Teil dieses Redens ist weder von Bewußtsein noch von Gewahrsein geprägt. Man kann auch die Sprache für das Erwachen nutzen. Wir können achtsam dem gegenüber sein, was unsere Worte bewirken, was unsere Motivation beim Reden ist und wie wir uns dabei fühlen. Auch beim Zuhören können wir Achtsamkeit üben. Wir können es uns zum Kriterium machen, ob das, was wir sagen, wahr, gütig und hilfreich ist. Üben der Achtsamkeit kann uns helfen, die Macht des Redens zu erkennen und zu verstehen.
Einst wurde ein Meister gerufen, urn ein krankes Kind durch ein kurzes Gebet zu heilen. Ein Skeptiker unter den Anwesenden beobachtete den Vorgang und gab seinen Zweifeln Ausdruck, da er diese Art des Heilens für ziemlich oberflächlich hielt. Der Meister wandte sich ihm zu und sagte: »Du verstehst nichts von diesen Dingen; du bist ein unwissender Narr!« Da wurde der Skeptiker sehr wütend. Sein Gesicht lief rot an, und er zitterte vor Wut. Doch bevor er etwas entgegnen konnte, fragte ihn der Meister: »Wenn ein Wort die Macht hat, dein Gesicht rot anlaufen zu lassen und dich wütend zu machen, warum soll dann nicht ein anderes Wort die Macht haben können zu heilen?«
Unsere Rede ist mächtig. Sie kann destruktiv oder erleuchtend wirken, dummes Geschwätz oder mitfühlende Kommunikation sein. Wir werden aufgefordert, achtsam zu sein und aus dem Herzen zu sprechen. Wenn wir aussprechen, was wahr und hilfreich ist, fühlen sich die anderen Menschen zu uns hingezogen. Achtsamkeit und Ehrlichkeit machen unseren Geist ruhiger und offener und unser Herz glücklicher und friedvoller.
Die vierte Empfehlung ist, sexuelles Fehlverhalten zu vermeiden. Dies erinnert uns daran, unseren sexuellen Begierden nicht auf eine Weise nachzugehen, die anderen Leid zufügt. Wir werden angehalten, in sexuellen Beziehungen verantwortlich und ehrlich zu sein. Die Sexualität ist eine machtvolle Energie. In unserer Zeit verändern sich die Beziehungen schnell, und die sexuellen Werte sind einem rapiden Wandel unterworfen. Angesichts dieser Situation werden wir aufgefordert, mit der Macht der Sexualität bewußt umzugehen. Wenn diese Energie in unserem Leben mit Haben-Wollen und Gier, mit Ausbeutung und Triebhaftigkeit verknüpft ist, fügen wir durch unser Handeln – wie zum Beispiel durch Ehebruch – anderen und uns selbst Leid zu. Im Gegensatz zu diesem Leiden kann die einfache Abwesenheit solcher Handlungen zu großem Glück führen.
Der Sinn dieser Empfehlung besteht darin, daß wir uns die Motive unseres Handelns vergegenwärtigen. Wenn wir (als Laien) auf diese Weise Aufmerksamkeit üben, können wir entdecken, wie Sexualität mit dem Herzen verbunden werden kann, und wir können sie dann zum Ausdruck von Liebe, Fürsorge und echter Vertrautheit werden lassen. Wir haben uns fast alle zu irgendeinem Zeitpunkt in unserem sexuellen Leben wie Narren aufgeführt, doch haben wir auch alle irgendwann schon einmal das Bedürfnis verspürt, mittels der Sexualität das Wunderbare in einem anderen Menschen zu berühren und so in tiefen Kontakt mit ihm zu treten. Bewußte Sexualität spielt in einem Leben, das der Entwicklung der Achtsamkeit gewidmet ist, eine wichtige Rolle.
Die fünfte Empfehlung beinhaltet, den achtlosen Umgang mit Rauschmitteln zu unterlassen. Wir sollten Rauschmittel nie in einem solchen Maße konsumieren, daß unser Geist unklar wird und sie unser Leben bestimmen – auf Kosten der Entwicklung von Klarheit und Wachheit. Wir haben nur diesen einen Geist, deshalb müssen wir ihn sorgsam hüten. In Amerika gibt es Millionen von Alkoholikern und anderen Menschen, die ihr Leben durch Drogenmißbrauch zerstört haben. Unbewußter und aus Angst geborener Rauschmittelkonsum verursacht bei den Betroffenen selbst, in ihren Familien und bei allen Menschen ihrer Umgebung großes Leid. Bewußt zu leben ist nicht leicht – es bedeutet, daß wir uns häufig mit Ängsten und Schmerzen konfrontieren müssen, die unser Herz auf die Probe stellen. Rauschmittelmißbrauch ist eindeutig kein heilsamer Weg.
In das Reich des Menschseins einzutreten, die Grundlage für ein spirituelles Leben zu schaffen erfordert, daß wir Gewahrsein in alle unsere Handlungen hineintragen; dies gilt für den Rauschmittelkonsum ebenso wie für unser Reden sowie für alles andere, das wir tun. Eine von Sittlichkeit getragene und harmonische Beziehung zur Welt erfüllt das Herz mit Wohlbehagen und Leichtigkeit und den Geist mit einer unerschütterlichen Klarheit. Eine grundlegende Sittlichkeit wirkt schon an sich sehr beglückend und befreiend, doch außerdem ist sie die Voraussetzung für wahre Meditation. Sie ist die Grundlage für ein bewußtes Leben, welches das außergewöhnliche Glück einer menschlichen Geburt nicht ungenutzt verstreichen läßt, die Chance, in unserem Leben durch die Entwicklung von Mitgefühl und echtem Verstehen zu wachsen.
Geistige Sammlung
Auf der Grundlage der bewußten Lebensführung, der ersten Stufe des Weges der Achtsamkeit, erwächst der zweite Schritt auf diesem Weg, die Entwicklung von Samādhi oder der Beständigkeit und Sammlung des Geistes. So wie wir unser äußeres Leben mit der Anmut und Harmonie der Sittlichkeit erfüllen können, können wir auch in unserem Inneren eine Ordnung schaffen, ein Gefühl des Friedens und der Klarheit. Dies ist der Bereich der formellen Meditation, bei der zunächst Herz und Geist in der Sammlung geübt werden. Der Geist wird gesammelt, Geist und Körper werden vereinigt, die Aufmerksamkeit wird auf die eigene Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick konzentriert. Die Fähigkeit der Sammlung und Beruhigung des Geistes ist die Grundlage aller Arten von Meditation und außerdem grundlegend für alle menschlichen Bestrebungen, ganz gleich, ob es um Sport, um das Programmieren von Computern oder um Selbsterkenntnis geht. Bei der Meditation wird die Konzentrationskraft systematisch geübt. Dies kann mittels einer Vielzahl von Objekten geschehen, unter anderem mittels der Atmung, der Visualisation, mittels eines Mantra oder eines bestimmten Gefühls wie etwa der Herzensgüte. In späteren Kapiteln wird die Kunst der geistigen Sammlung wegen ihrer zentralen Bedeutung ausführlicher dargestellt. Grundsätzlich handelt es sich dabei um ein einfaches Ausrichten der Aufmerksamkeit auf ein Objekt wie zum Beispiel auf den Atem. Voraussetzung hierfür ist, daß wir unsere Gedanken über Vergangenheit und Zukunft, unsere Phantasien und Anhaftungen loslassen und den Geist wieder auf das lenken, was tatsächlich geschieht, auf den Augenblick des Empfindens, auf das Fühlen des Atmens so, wie es ist. Samādhi tritt nicht einfach von selbst ein, sondern erfordert Übung. Dem Buddha und allen großen Yogis haben wir die wundervolle Entdeckung zu verdanken, daß man den Geist tatsächlich üben kann.
An der Tür eines Spielkasinos in Las Vegas ist ein Hinweisschild mit folgender Aufschrift angebracht: »Wer gewinnen will, muß persönlich anwesend sein.« Das gleiche gilt auch für die Meditation. Wenn wir die Natur unseres Lebens erkennen wollen, müssen wir wirklich präsent, gewahr und wach sein. Die Entwicklung von Samādhi ähnelt dem Polieren einer Linse. Wenn wir die Zellen und Funktionen des Körpers mit einer Linse untersuchen wollen, die nicht präzise genug geschliffen ist, werden wir kaum etwas klar erkennen. Um die Natur von Geist und Körper durchdringen zu können, müssen wir unsere Kräfte sammeln und konzentrieren und mit einem beständigen und ruhigen Geist beobachten. Genau das tat der Buddha: Er saß, sammelte seinen Geist und schaute nach innen. Um ein Yogi zu werden, ein Erforscher des Herzens und des Geistes, müssen auch wir diese Fähigkeit entwickeln.
Weisheit
Auf der Grundlage der Sammlung wächst die dritte Stufe vom Buddha-Weg des Erwachens: Klarblick und die Entwicklung von Weisheit. In unserem