Einsicht durch Meditation. Joseph Goldstein

Einsicht durch Meditation - Joseph  Goldstein


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oder Druckgefühle charakterisiert ist. In jedem Fall sehen wir ganz klar, daß daran nichts fest ist. Sobald wir dies selbst erfahren, löst sich die Illusion der Festigkeit auf. Beim Üben markiert dies den Beginn eines Prozesses der Auflösung von Energieknoten und Blockaden in unserem Körper. Wir lassen ein freieres Fließen der Energie zu, das sehr heilsam wirkt.

      Es ist sehr wichtig, das Arbeiten mit den schmerzhaften Empfindungen, die beim Üben auftreten, zu lernen. Dies ist ein Tor zu tieferen Ebenen des Verstehens, und schon allein die Tatsache, daß wir uns dieser schmerzhaften Gefühle bewußt werden, ist ein Zeichen für das Erstarken unserer Aufmerksamkeit. Wenn wir uns diesem Tor des Verstehens nähern, wollen wir uns sicher nicht mehr davon abwenden. Wir dringen zu tieferen Ebenen vor, indem wir uns weich und sanft machen und uns dessen bewußt werden, was im Augenblick geschieht. Auf diese Weise werden wir dem ersten Aspekt der Übung gerecht: zu öffnen, was verschlossen ist. Und eben diese Offenheit für Erfahrung ist die Grundlage für den zweiten Aspekt des Übens: das auszugleichen, was reaktiv ist.

      Was ist reaktiv? Unser Geist ist reaktiv: Er mag oder mag nicht, er urteilt und vergleicht, er hält fest und verdammt. Unser Geist gleicht einer Waagskala, und solange wir uns mit diesen Urteilen und Vorlieben identifizieren, mit all dem Mögen und Nicht-Mögen, mit dem Wollen und den Abneigungen, kippt unser Geist ständig aus dem Gleichgewicht und verfängt sich in einem erschöpfenden Wirbel von Reaktivität. Durch die Macht der Achtsamkeit können wir in einen Zustand des Gleichgewichts und der Ruhe gelangen. Achtsamkeit ist jene Qualität der Aufmerksamkeit, die registriert, ohne zu wählen, ohne zu bevorzugen. Es ist ein nicht-selektives Gewahrsein, das wie die Sonne ihr Licht in gleichem Maße auf alle Dinge wirft.

      Können wir unser Gewahrsein so umfassend werden lassen, daß wir bereit sind, allen unseren Erfahrungen Aufmerksamkeit zu schenken? Das ist ungefähr so, als würden wir zu einer langen Reise in ein fremdes Land aufbrechen, einer Reise, die uns durch die unterschiedlichsten Landschaften führt – durch Gebirge und Dschungel, durch Wüsten und Regenwälder. Wenn echter Forschergeist uns beseelt, werden wir im Gebirge kaum denken: »Ach wäre ich doch in der Wüste.« Und wenn wir in der Wüste sind, werden wir nicht Tagträumen über den Regenwald nachhängen. Wenn wir von echtem Entdeckerdrang erfüllt sind, sind wir an jedem neuen Ort interessiert, den wir erreichen.

      Die Erfahrung der Meditation ist eine ähnliche Art von Reise: eine Reise in unser Inneres, die uns zu jedem Aspekt unserer Erfahrung führt. Dabei gibt es ein ständiges Auf und Ab, Hochs und Tiefs, angenehme und schmerzhafte Zeiten. Unsere Übung schließt alles ein, denn sie besteht darin, daß wir die Totalität unseres Seins erforschen, die Totalität dessen, wer wir sind. Dies erfordert ein ungeheures Maß an Bereitschaft. Sind wir bereit, uns dem ganzen Spektrum dessen, was geschieht, auszusetzen?

      Eine Zeile aus einem Song, der schon einige Jahre alt ist, bezieht sich auf diesen Zusammenhang: »Some People say that life is strange, but what I’d like to know is, compared to what?« (Manche Leute sagen, das Leben sei seltsam, doch ich möchte wissen, verglichen womit?) Alles ist Teil des Lebens, und nichts liegt außerhalb unserer Übung. Die Erfahrung verschiedener Empfindungen wie Lust oder Schmerz, die verschiedenen Emotionen wie Glück und Traurigkeit, Depression und freudige Erregung, Interesse und Langeweile – sie alle sind Bestandteil der Reise. Können wir uns all diesen Zuständen öffnen, können wir ihnen allen gegenüber gleichermaßen Achtsamkeit entwikkeln, so daß wir lernen, ihre wahre Natur zu verstehen?

      Meditation ist weder Festhalten noch Vermeiden, sondern bedeutet, daß wir uns wieder auf den Augenblick zentrieren und uns dem öffnen, was wir dort vorfinden. Und dieses Gleichgewicht des Geistes, in dessen Gegenwart Bevorzugung, Anhaften, Festhalten und Urteilen nicht existieren, sondern nur das Gegenwärtigsein für alles, was auftaucht, läßt uns einen tiefen Rhythmus wahrnehmen. Jeder Aktivität ist ein bestimmter Rhythmus eigen. Auch die Natur hat viele eigene Rhythmen, so den von Nacht und Tag oder den Wechsel der Jahreszeiten. Auch in der Musik, im Sport, in der Poesie und beim Tanz gibt es Rhythmen. Jeder Aktivität ist ein bestimmter Rhythmus angemessen, und wenn wir ihn finden, stellt sich eine Empfindung der Mühelosigkeit, der Leichtigkeit und der Anmut ein.

      Auch unserem Üben wohnt ein Rhythmus inne, der innere Rhythmus des Atems, der Empfindungen, Gedanken, Emotionen, Gefühle, Bilder und Klänge. Wenn wir uns nicht im Zustand der Reaktivität befinden, wenn wir uns öffnen und einfach registrieren, was in jedem Augenblick geschieht, ohne daran festzuhalten, ohne es zu verdrängen und ohne dagegen anzukämpfen, dann finden wir diesen inneren Rhythmus. Sobald wir dies erfahren, fangen wir an, beim Üben eine gewisse Leichtigkeit und Mühelosigkeit zu genießen.

      Es erfordert jedoch eine große Anstrengung, diesen Rhythmus zu finden – die Anstrengung der ständigen Aufmerksamkeit, die Anstrengung, die Achtsamkeit in jeden einzelnen Augenblick hineinzutragen. Zu Anfang ist der Geist zerstreut, deshalb müssen wir versuchen, ihn zu zügeln und zu konzentrieren. Doch wenn wir dies tun, Augenblick um Augenblick, wird gelegentlich etwas in unserem Inneren einrasten, so daß wir unser Gleichgewicht finden. Es ist wie beim Erlernen des Fahrradfahrens: Wir steigen auf, treten in die Pedale und kippen ständig auf die eine oder andere Seite, bis wir irgendwann das Gleichgewichtsgefühl entwickelt haben und alles wie von selbst geht. Meditation entwickelt sich auf die gleiche Weise. Es kostet uns Mühe, in jedem Augenblick achtsam zu sein, so daß wir den Rhythmus entdecken können. In jedem Augenblick der Achtsamkeit, auf welches Objekt sie sich auch beziehen mag – ob auf den Atem, auf Empfindungen oder Klänge, Gedanken oder Gefühle –, in jedem Augenblick des ausschließlichen Registrierens dessen, was da ist, gibt es im Geist keine Reaktivität. Es gibt kein Festhalten und kein Verurteilen, nur das akzeptierende Gewahrsein des Gegenwärtigen. Jeder Augenblick im Zustand der Achtsamkeit hilft uns dabei, uns in diesem inneren Gleichgewicht und in diesem Rhythmus zu verwurzeln.

      Der dritte Aspekt der Meditation besteht darin, zu erforschen oder zu enthüllen, was verborgen ist. Verborgen ist die wahre Natur unserer Erfahrung. Die Wahrheit ist verborgen. Am häufigsten verbirgt sich die Wahrheit hinter unserer Identifikation mit Vorstellungen und hinter unserer Tendenz, uns in ihnen zu verlieren. Wir verwechseln unsere Vorstellungen über Dinge häufig mit der Erfahrung selbst. Ein sehr wichtiger Bestandteil der Meditationspraxis besteht darin, von der Ebene der Begriffe und Vorstellungen zur Ebene des direkten Erfahrens überzuwechseln.

      Ich möchte nun ein paar Beispiele für diese Verwechslung von Vorstellung und Wirklichkeit aufführen. Wenn jemand eine Hand erhebt und fragt, was wir sehen, sagen wir wahrscheinlich »eine Hand«. In Wirklichkeit sehen wir keineswegs eine Hand. Das Auge sieht Farbe, Form, Licht und Schatten, und dann kommt der Geist ins Spiel und stülpt dieser Konstellation von Wahrnehmungen rasch ein Konzept über. Wir nennen es »Hand« und glauben dann, dies sei es, was wir wirklich sehen.

      Wenn eine Glocke geläutet wird, was hören wir dann? Die meisten Menschen hören eine »Glocke«. Und wenn wir draußen ein Geräusch hören, sagen wir wahrscheinlich, ein Auto oder ein Lastwagen fahre vorüber. Doch das ist es nicht, was wir hören. Wir hören bestimmte Geräusche, bestimmte Schwingungen, und der Geist bezeichnet diese dann sofort als »Glocke«, »Auto«, »Lastwagen« oder »Mensch«. Wir verwechseln die Konzepte des denkenden Geistes mit der Realität der direkten Erfahrung.

      »Mein Knie schmerzt.« Wenn man eine Stunde lang sitzt, entsteht Schmerz, und dann schmerzt das Knie. Doch »Knie« ist ein geistiges Konzept. Es gibt keine Empfindung, die »Knie« oder »Rücken« oder »Muskel« heißt. Das ist es nicht, was wir fühlen. Wir fühlen Verspanntheit, Druck, Härte, Weichheit, Kitzeln. Diese Empfindungen erfahren wir. »Knie«, »Rücken« und »Muskel« sind allesamt Konzepte.

      Doch warum ist das so wichtig? Zwischen unseren Vorstellungen und der Realität der Erfahrung müssen wir unterscheiden, wenn wir verstehen wollen, wohin das Üben führt, denn Konzepte verdecken, was wahr ist. Die Vorstellungen, die wir von Dingen haben, bleiben stets gleich. Die Namen, die wir Dingen geben, verändern sich nicht. Mein »Knie« schmerzte gestern, mein »Knie« schmerzt heute, und vermutlich wird es auch bei der nächsten Meditationssitzung wieder schmerzen. Doch verfestigen wir durch unser Konzept nicht nur die Vorstellung des »Knies«, als wäre es etwas mehr oder weniger Dauerhaftes; das Gefühl,


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