Einsicht durch Meditation. Joseph Goldstein
Glücks oder der Trauer, der Frustration, der Wut, des Ärgers, der Freude, des Interesses, der freudigen Erregung, der Ruhelosigkeit oder der Angst handeln. Alle möglichen Geisteszustände können auftreten.
Sobald Sie bemerken, daß ein bestimmter Geisteszustand, ein Gefühl oder eine Stimmung den Geist erfüllt, registrieren Sie den jeweiligen geistigen Zustand, damit Sie sich nicht darin verlieren oder sich mit ihm identifizieren. Diese Geisteszustände entstehen und vergehen wie alle anderen Objekte des Geistes. Sie sind nicht »Ich«, nicht das Selbst, und sie gehören niemandem. Registrieren Sie den Geisteszustand, seien Sie offen dafür, ihn zu erfahren, und wenn er nicht mehr beherrschend ist, dann kehren Sie zum Gewahrsein des Atems oder der Empfindungen in Ihrem Körper zurück.
Seien Sie besonders wachsam, wenn eines der fünf Hemmnisse auftaucht: Begierde, Aversion, Schläfrigkeit, Rastlosigkeit und Zweifel. Diese sind dem Geist tief eingeprägt, und es ist leicht, sich darin zu verlieren und sich damit zu identifizieren. Bemühen Sie sich besonders, diese Geisteszustände zu erkennen, sobald sie auftauchen. Je schneller und je früher wir sie entdekken, um so weniger Macht haben sie über uns.
Doch nicht nur Atem, Empfindungen, Geräusche, Gedanken, Bilder, Gefühle und Geisteszustände sind Objekte unserer Aufmerksamkeit. Es gibt noch einen weiteren Faktor des Geistes, den zu identifizieren ein wichtiger Bestandteil der Meditationspraxis ist, weil er entscheidend dazu beiträgt, die Türen der tieferen Einsicht zu öffnen. Gemeint ist das Gewahrwerden und Registrieren der verschiedenen Absichten des Geistes. Absicht ist der geistige Faktor oder die geistige Eigenschaft, die einer körperlichen Aktion oder Bewegung unmittelbar vorangeht.
Der Körper bewegt sich nicht von allein, sondern infolge eines bestimmten Impulses oder einer Willensäußerung. Achten Sie deshalb vor jeder Bewegung Ihres Körpers auf die Absicht, sich zu bewegen, die Absicht zu stehen, die Absicht, die Haltung zu verändern, die Absicht, sich zu drehen, und auf die Absicht, nach etwas zu greifen.
Vor jeder dieser Bewegungen taucht im Geist ein Willensimpuls auf. Absichten oder Willensimpulse sind nur sehr schwer faßbar. Sie sind keine berührbaren, klar identifizierbaren Objekte wie ein Gedanke oder ein Bild, bei dem man Anfang, Mitte und Ende genau erkennen kann. Zunächst werden Sie die Absicht vielleicht nur als Pause vor Beginn der Bewegung erfahren, eine winzige Pause, in der Sie schon wissen, daß Sie bald etwas tun werden. Registrieren Sie die Pause, und notieren Sie im Geiste »beabsichtigen«.
Aus zwei Gründen ist es wichtig, dieser Absichten gewahr zu werden. Zunächst ermöglicht es den Einblick in die Ursache/ Wirkung-Beziehung zwischen Geist und Körper. Dies ist eines der grundlegendsten Gesetze, die unser Leben bestimmen, und wenn wir es begreifen, gelangen wir zu einem tieferen Verstehen. Die Evolution von Geist und Körper erfolgt nach bestimmten Gesetzen, und eines der Gesetze, die diesen Prozeß beschreiben, ist das Gesetz von Ursache und Wirkung. Wenn wir »Absicht« registrieren, haben wir damit den Anfang zum Verständnis des Gesetzes von Ursache und Wirkung gefunden. Aufgrund einer Absicht setzt sich der Körper in Bewegung. Absicht ist die Ursache, Bewegung die Wirkung. Wenn wir dies durch unsere Erfahrung verifizieren, wird uns der Zusammenhang immer klarer.
Das Registrieren von »Absicht« hilft uns auch, die selbstlose Natur des Körper/Geist-Prozesses zu entdecken und zu verstehen. Auch wenn wir den Atem, die Empfindungen, die Gedanken, die Bilder und die Gefühle beobachten und zu begreifen anfangen, daß alle diese Objekte nur Bestandteile eines zeitlich begrenzten Spektakels sind, können wir immer noch mit dem Gefühl des Handelnden identifiziert sein, mit demjenigen, in dessen Händen alle Fäden zusammenlaufen, demjenigen, der bestimmt, was geschieht.
Wenn wir Absichten registrieren und sehen, daß auch sie vergängliche geistige Phänomene sind, daß sie entstehen und vergehen, daß die Absichten selbst nicht »ich« und auch nicht »mein« sind, wenn wir sehen, daß sie niemandem gehören, dann lockern wir damit auch unsere Identifikation mit ihnen. Wir erfahren auf immer tieferen Ebenen die Selbst-Losigkeit des gesamten Prozesses, der sich vor uns entfaltet.
Wir beginnen mit dem Atem, öffnen uns für das Gefühl oder die Empfindung jedes Atemzuges, jeder Bewegung des Aufoder Absteigens, ohne Erwartungen darüber zu hegen, wie ein bestimmter Atemzug sein sollte. Wir versuchen nicht, ihn in ein bestimmtes Muster hineinzuzwängen, und wir denken nicht, daß eine bestimmte Empfindung auftreten sollte. Wir konzentrieren uns auf jeden Augenblick, mit großer Sorgfalt und Präzision, wir sind offen für das, was sich in jedem Atemzug offenbart. Welche Empfindung enthält dieses Aufsteigen oder dieses Einatmen? Wie fühlt es sich an? Ist es lang oder kurz, uneben oder glatt, tief oder flach, empfinden wir Schwere, Druck oder Prickeln?
Es geht auch nicht darum, eine Art Checkliste durchzugehen. Durch bloßes Offensein und volle Aufmerksamkeit enthüllen sich die Eigenschaften jedes Atemzuges von selbst. Wir ruhen in der Erfahrung und bleiben offen, erfüllt vom Anfängergeist, und erfahren jedes Ansteigen, jedes Absteigen, jedes Einatmen und jedes Ausatmen.
Tritt zwischen den Atemzügen eine Pause ein, dann richten Sie das Gewahrsein auf einen oder mehrere Berührungspunkte des Körpers und registrieren Sie »berühren, berühren«. Wenn bestimmte Körperempfindungen sich ins Bewußtsein drängen und die Aufmerksamkeit vom Atem ablenken, dann lassen Sie den Geist der dominierenden Empfindung nachgehen, offen dafür sein, sie fühlen. Stellen Sie fest, um was für eine Art von Empfindung es sich handelt. Ist es Hitze oder Kälte, Schwere oder Leichtigkeit, Vibration oder Prickeln, handelt es sich um eine schmerzhafte Empfindung oder um eine angenehme?
Wenn Sie sich mit vollem Gewahrsein allen Empfindungen öffnen, werden ihre Eigenschaften offenkundig. Lassen Sie Ihren Geist sehr empfänglich gegenüber den Empfindungen sein. Achten Sie darauf, was geschieht, während Sie sie beobachten. Werden sie stärker, werden sie schwächer, verschwinden sie, werden sie intensiver? Beobachten Sie, was geschieht, ohne jedes Modell und ohne Erwartungen darüber, wie etwas sein sollte; bleiben Sie einfach bei dem, was ist. Treten die Empfindungen in den Hintergrund, so kehren Sie zum Atem zurück.
Bleiben Sie wachsam gegenüber den verschiedenen geistigen Phänomenen, und registrieren Sie »denken« oder »sehen«, sobald Sie einen Gedanken oder ein Bild bemerken. Beobachten Sie, was mit dem Gedanken oder mit dem Bild geschieht, wenn Sie es registrieren. Bleibt es bestehen, oder löst es sich auf? Und wenn es sich auflöst: Geschieht das schnell oder langsam? Dominiert der Gedanke oder das Bild nicht mehr, so richten Sie das Gewahrsein wieder auf den Atem. Bewegen Sie sich fließend, rhythmisch und entspannt von Objekt zu Objekt. Sie brauchen nicht nach bestimmten Objekten zu suchen. Bewahren Sie die Qualitäten der Offenheit und Wachheit, so daß, was auch immer auftaucht, zum Objekt des Gewahrseins wird, und lassen Sie alle Objekte des Körpers und des Geistes auftauchen und sich auflösen, wie es ihnen beliebt. Unser Üben besteht einfach darin, uns in jedem Augenblick zu verankern und Augenblick für Augenblick zu beobachten, was auftaucht, ohne Urteil, ohne Bewertung, ohne Interpretation. Es geht um einfache, reine Aufmerksamkeit gegenüber dem, was geschieht.
Bleiben Sie auch den verschiedenen Geisteszuständen oder Gefühlen gegenüber achtsam. Solche Zustände sind weniger klar definiert als Objekte. Bei ihnen ist nicht so eindeutig festzustellen, was Anfang, Mitte und Ende ist. Dennoch können sie zu sehr dominierenden Objekten der Erfahrung werden. Wenn ein Geisteszustand oder eine Stimmung stark wird – Gefühle wie Traurigkeit, Glück, Wut, Begierde, Rastlosigkeit, freudige Erregung, Interesse, Begeisterung, Freude oder Ruhe –, dann registrieren Sie diesen Zustand des Geistes, fühlen Sie ihn und beobachten Sie, daß auch dies Teil des vorüberziehenden Spektakels ist. Geisteszustände entstehen, sind für eine Weile da und vergehen dann wieder.
Benutzen Sie den Atem als primäres Objekt, bleiben Sie dabei, wenn nichts anderes Ihre Erfahrung dominiert, und kehren Sie zum Atem zurück, wenn andere Objekte verschwinden. Auch wenn der Geist zerstreut oder verwirrt ist, ohne zu wissen, was genau er beobachten soll, dann zentrieren Sie die Aufmerksamkeit auf die Atmung, entweder auf das Auf und Ab oder auf das Ein und Aus. Sobald der Geist sich wieder zentrierter und ruhiger fühlt, öffnen Sie Ihr Gewahrsein erneut allen sich verändernden Objekten – dem Atem, den Geräuschen, den Empfindungen, den Gedanken, den Bildern, den Absichten –, und registrieren Sie jedes dieser Objekte, wenn es auftaucht. Sorgen Sie dafür, daß der Geist geöffnet, rezeptiv und wach bleibt, so daß in jedem Augenblick präzises Gewahrsein des Gegenwärtigen möglich