Einsicht durch Meditation. Joseph Goldstein
ist es nicht mehr nur ein »Knie«, das schmerzt, sondern es ist »mein Knie«.
Wenn wir jedoch zu dem vorstoßen, was tatsächlich geschieht, sehen wir, daß die Erfahrung sich in jedem Augenblick verändert. Dinge bleiben auch nicht zwei Augenblicke lang gleich. Was wir als »mein Knie« wahrnehmen, ist in der Wirklichkeit der direkten Erfahrung eine Menge sich von Augenblick zu Augenblick verändernder Empfindungen ohne jegliche Festigkeit oder Dauerhaftigkeit. Doch solange wir auf der Konzept-Ebene verweilen, können wir die flüchtige Natur der Phänomene weder sehen noch verstehen.
In der Meditation beginnen wir damit zu erforschen, was verborgen ist. Wir bewegen uns von der Ebene der Konzepte und Vorstellungen zur Ebene der direkten Erfahrung, ob es sich um den Bereich der Körperempfindungen handelt oder um Geschautes, Gehörtes, Gerochenes oder Geschmecktes. Wir beginnen, die Natur und den Prozeß der Gedanken und Emotionen zu erfahren, statt uns mit ihren Inhalten zu identifizieren. Wenn wir in jedem Augenblick bei dem sind, was wir erfahren, können wir Dinge entdecken, die vorher verborgen oder unverständlich waren.
Zunächst entdecken wir, daß alles veränderlich ist, daß alles, was wir bisher für fest, unveränderlich oder dauerhaft gehalten haben, sich in einem fließenden Zustand befindet. Nun wird manch einer sagen: »Ich weiß, daß alles unbeständig ist. Das ist keine besonders erschütternde Neuigkeit für mich.« Natürlich wissen wir das intellektuell, doch damit wissen wir es noch lange nicht in unserem tiefsten Inneren, »im Bauch«, wir verstehen es nicht von innen. Meditation ist ein Mittel, das uns hilft, uns der Wahrheit dieser Unbeständigkeit auf immer tieferen Ebenen zu öffnen. Jede Empfindung, jeder Gedanke, jedes Gefühl, jedes Geräusch, jeder Geschmack – alles, innen wie außen, befindet sich in einem Zustand ständiger Auflösung.
Wenn wir das sehen, wenn wir es wirklich wissen, dann löst dieses Verstehen das Festhalten-Wollen des Geistes auf, es löst unsere Anhaftungen auf. Haben Sie jemals an einem Gewässer versucht, eine Luftblase zu ergreifen, in der Hoffnung, sie festhalten zu können? Wahrscheinlich nicht, denn Sie wissen genau, daß es nur eine Luftblase ist, die entsteht und sich schon im nächsten Augenblick wieder auflöst. Mit allem anderen verhält es sich ähnlich. Es ist möglich, dies zu sehen, es auf eine tiefe, umfassende Weise zu erfahren. Wenn wir diese Klarheit der Sicht und des Verständnisses entwickeln, tendiert der Geist immer weniger zum Festhalten, weil wir sehen, daß nichts da ist, woran man sich festhalten könnte. Und wenn wir weniger stark anhaften, wenn wir weniger festhalten, gibt es auch weniger Leiden in unserem Leben.
Indem wir die Unbeständigkeit der Dinge erkennen, begreifen wir auch ihre grundlegende Ungesichertheit. Dinge sind insofern ungesichert oder unbefriedigend, als etwas, das sich ständig verändert, uns kein dauerhaftes Gefühl der Vollendung und Erfüllung zu geben vermag. Wenn wir dies tief in uns selbst erkennen, verlieren die Kräfte der Begierde und des Festhalten-Wollens ihre Macht über unseren Geist. Wir lernen loszulassen, wir lassen den unvermeidlichen Fluß des Wandels zu, statt zu versuchen, an etwas festzuhalten, weil wir denken, daß es uns für alle Zeiten glücklich machen würde.
Wir sehen die Unbeständigkeit, wir sehen die Unsicherheit. Und wir fangen an, das einzigartige Juwel der Erleuchtung des Buddha zu verstehen – die Einsicht in die Selbst-Losigkeit des gesamten Geist/Körper-Prozesses, die Erkenntnis, daß es niemanden »dahinter« gibt, dem all dies widerfährt. Es gibt niemanden, zu dem dieser Veränderungsprozeß gehört, es gibt keinen Eigentümer. Dies ist eine fast unmerkliche und zugleich radikale Transformation unserer gewohnten Art des Verstehens, die sich zu tiefem Wissen entwickelt, wenn wir von der Ebene der Konzepte auf die Ebene direkter Erfahrung übewechseln. Wenn wir auf sehr intuitive und integrierte Weise die essentielle Nicht-Wesenhaftigkeit, Leere und Selbst-Losigkeit der Phänomene verstehen, weicht allmählich jenes grundlegende Anhaften auf, das unser »Ich«-, »Selbst«- oder »mein«-Gefühl begründet, jene Konzepte, um die unser ganzes bisheriges Leben kreiste. Wir erkennen nun, daß dieses »Ich« eine Illusion ist, ein Konzept, das wir geschaffen haben, und integrieren allmählich die Möglichkeit größerer Freiheit in unser Leben.
Nur durch sorgfältige Aufmerksamkeit in jedem Augenblick gegenüber dem, was wahr ist, was tatsächlich da ist, nicht dem, was wir uns vorstellen, können wir in einer zutiefst transformierenden Weise die Unbeständigkeit, die Unsicherheit und die Selbst-Losigkeit erkennen, die alle unsere Erfahrungen bestimmen.
Anstrengung und Ziel
Doch wie sollen wir all dies bewerkstelligen? Wie können wir öffnen, was verschlossen ist, ins Gleichgewicht bringen, was reaktiv ist, erforschen, was verborgen ist? Welche Werkzeuge stehen uns dafür zur Verfügung? Zwei Qualitäten liegen an der Wurzel jedes Entwicklungsprozesses durch Meditation: Vollkommene Anstrengung und Vollkommene Zielsetzung. – Wir müssen uns anstrengen, um unseren Geist auf das Objekt als Ziel zu richten. Anstrengung und Zielgerichtetheit. Alles andere kommt von selbst. Wenn man sich anstrengt, den Geist genau auf das Ziel auszurichten, folgen Achtsamkeit, Ruhe, Gleichmut, Weisheit und Mitgefühl von selbst.
Nehmen wir an, wir sitzen und bemühen uns, den Geist auf den Atem zu richten, entweder auf die Empfindung, die beim Ein- und Ausatmen an der Nase entsteht, oder auf das Heben und Senken des Bauches. Wenn wir genug Mühe und Energie aufwenden und genügend auf unser Ziel ausgerichtet sind, verbinden wir uns mit den Empfindungen des Hebens und Senkens oder des Ein- und Ausatmens; wir werden achtsam gegenüber diesen spezifischen Empfindungen, und auf diese Weise wächst unsere Konzentration, und unser Verständnis gewinnt an Tiefe.
All dies ist am besten mit einem Gefühl der Leichtigkeit und Bereitwilligkeit zu erreichen, aus einem Interesse am Entdecken der Wahrheit. Wenn wir versuchen, aus Pflichtgefühl zu üben, wird der Geist oft rebellisch oder verbissen. Achtsamkeit hat nichts mit Verbissenheit zu tun, obgleich Meditierende vor allem zu Anfang beides manchmal verwechseln.
Ein gutes Beispiel zur Verdeutlichung dessen, was Vollkommene Zielsetzung und Vollkommene Anstrengung beinhalten, ist die japanische Teezeremonie. Dabei wird jede Bewegung mit äußerster Sorgfalt und Präzision ausgeführt. Das Falten des Wischtuchs und das Eingießen des Tees bestehen aus vielen separaten, klar umrissenen Bewegungen, und jede davon wird mit gleicher Sorgfalt und Aufmerksamkeit ausgeführt. Alle Handlungen sind von Feingefühl, Leichtigkeit und Anmut geprägt.
Ob es uns gelingt, den Tag (oder zumindest einen Teil des Tages) gleichsam zu einer japanischen Teezeremonie zu machen, so daß jede Bewegung – das Ergreifen, das Sich-Beugen und das Sich-Drehen – zu einer Zeremonie wird? Wenn wir auf diese Weise üben oder wenn wir sogar üben, so zu üben, dann werden wir die ermutigende und inspirierende Erfahrung machen, daß unser Gewahrsein und unser Verstehen schnell und in ungeheurem Maße wachsen und sich vertiefen.
J. G.
Übung: Konzepte und Wirklichkeit
Einer der wichtigsten Aspekte der Meditationspraxis ist der Wechsel von der Konzeptebene zur Ebene der direkten Erfahrung. Wenn Sie dies umfassender verstehen wollen, so setzen Sie sich eine Weile hin und lassen Sie die eine Hand leicht auf der anderen ruhen. Was erfahren Sie? Vielleicht taucht der Gedanke auf: »Ich erfahre, daß sich meine Hände oder Finger berühren.« Es kann auch ein geistiges Bild von den Händen auftauchen, wie sie im Schoß ruhen, oder ein Gewahrsein verschiedener Empfindungen wie Druck, Wärme und Prickeln. Wenn Sie ziemlich präzise und akkurat die Empfindungen spüren, die in diesem Augenblick des Gewahrseins gegenwärtig sind, was geschieht dann mit dem Gedanken oder dem Bild von der »Hand«? Sie können diese Übung auch mit geschlossenen Augen ausführen. Nehmen Sie sich bitte etwas Zeit, um die verschiedenen Ebenen des Erfahrens zu erforschen und zu unterscheiden.
Wenn Sie gehen, wessen sind Sie sich dann bei jedem Schritt bewußt? Sehen Sie mit Ihrem inneren Auge ein Bild von der Form des Fußes oder des Beines? Können Sie in der Bewegung verschiedene Empfindungen unterscheiden? Was geschieht mit dem Bild, wenn Sie die Empfindungen verspüren? Und was geschieht mit den Empfindungen selbst?
Bemühen Sie sich sowohl beim formellen Üben als auch im alltäglichen Leben, die Konzeptebene von der Ebene der direkten Erfahrung zu unterscheiden.
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Anleitung