Einsicht durch Meditation. Joseph Goldstein
Leben und Tod. Wir müssen diese Fragen aus unserer eigenen Erfahrung heraus beantworten, durch eine Entdeckungsreise in unser eigenes Inneres. Das ist das Herz der Meditation.
Es ist wundervoll, diese Antworten zu entdecken. Wenn es uns nicht gelingt, verbringen wir den größten Teil unseres Lebens wie Roboter. Die meisten Menschen vergeuden viele Jahre ihres Lebens, indem sie sich von Gier, Angst und Aggression antreiben lassen oder unaufhörlich Sicherheit, Zuneigung, Macht, Sex, Reichtum, Vergnügen und Ruhm nachjagen. Dieser endlose Kreislauf des Suchens wird im Buddhismus Samsāra genannt. Nur selten nehmen wir uns die Zeit für den Versuch, dieses Leben, das uns gegeben ist, zu verstehen, um daran arbeiten zu können. Wir sind geboren worden, werden älter und werden irgendwann sterben; wir vergnügen uns, leiden, wachen, schlafen – wie schnell entgleitet uns all dies. Das Gewahrsein des Leidens, welches der Lebensprozeß des Geborenwerdens, des Alterns und Sterbens mit sich bringt, veranlaßte den Buddha dazu, sich in die Frage zu vertiefen, wie es zu all dem kommt und wie wir uns davon befreien können. Das war die Frage des Buddha und der Anfang seines Weges. Jeder von uns stellt diese Frage auf seine Art. Die Einsichtsmeditation will uns helfen, uns selbst und unser Leben verstehen zu lernen: zu verstehen und frei zu sein.
Nun gibt es verschiedene Arten des Verstehens. Eine davon entwickelt sich, wenn wir die Gedanken anderer aufnehmen, also quasi lesen. Wir alle haben durch Lesen eine ungeheure Menge von Information auch über spirituelle Themen aufgenommen und im Gedächtnis gespeichert. Diese Art von Verstehen ist sicher nützlich, doch ist und bleibt das, worauf sie fußt, die Erfahrung anderer. Ähnlich verhält es sich mit dem Verstehen, das uns weise oder erfahrene Menschen vermitteln: »Schau, mein Freund, das ist so.« Auch diese Art von Erfahrung kann nützlich sein.
Es gibt jedoch ein noch tieferes Verstehen, eines, das auf unseren eigenen Erwägungen und Überlegungen basiert: »Ich habe dies durch sorgfältige Analyse erkannt. Ich verstehe, wie es funktioniert.« Durch Nachdenken kann man sehr vieles verstehen. Aber gibt es vielleicht eine Ebene des Verstehens, die auch darüber noch hinausgeht? Was geschieht, wenn wir selbst anfangen, uns grundlegende Fragen über unser Leben zu stellen? Was ist Liebe? Was ist Freiheit? Solche Fragen sind weder durch Wissen aus zweiter Hand noch durch Gedankenakrobatik zu beantworten. Der Buddha entdeckte – und nach ihm unzählige Generationen von Menschen, die seine Lehren auf ihr Leben übertrugen –, daß es eine Möglichkeit gibt, Antworten auf diese schwierigen und zugleich wundervollen Fragen zu finden. Dazu müssen wir die Fähigkeit entwickeln, klar und direkt zu sehen – und so entsteht ein intuitives, stilles Wissen.
Doch wie sollen wir beginnen? Nach der buddhistischen Überlieferung entwickelt sich diese Art des Verstehens, wenn wir an drei Aspekten unseres Seins arbeiten: an der Grundlage der bewußten Lebensführung, an der Beständigkeit von Herz und Geist und am Klarblick oder an der Weisheit.
Bewußte Lebensführung Fünf Empfehlungen für den Übungsweg
Der erste Aspekt, bewußte Lebensführung, bedeutet, daß wir unser Leben in der Welt harmonisch und achtsam gestalten. Damit sich unsere spirituelle Praxis entwickeln kann, müssen wir in unserem Leben eine grundlegende sittliche Haltung ent-wikkeln. Wenn wir an Aktivitäten beteiligt sind, die bei uns selbst oder bei anderen Schmerz und Konflikte hervorrufen, kann unser Geist nicht zur Ruhe kommen, sich sammeln und sich auf die Meditation konzentrieren, und dem Herzen ist es dann unmöglich, sich zu öffnen. In einem Geist, der in Unei-gennützigkeit und Wahrheit verwurzelt ist, können sich Kon-zentration und Weisheit leicht entwickeln.
Buddha hat fünf grundlegende Bereiche sittlichen Verhaltens benannt, die zu einem bewußten Leben führen. Diese Empfehlungen werden allen ans Herz gelegt, die dem Pfad der Achtsamkeit zu folgen wünschen. Sie sind nicht als absolute Gebote zu verstehen, sondern als praktische Orientierungshilfen, die zu einer harmonischeren Lebensführung, zu geistigem Frieden und zu geistiger Kraft verhelfen sollen. Wenn wir diese Hilfen beherzigen, entdecken wir, daß sie universellen Charakter haben, da sie in allen Kulturen und zu jeder Zeit gültig sind. Sie sind Bestandteile der grundlegenden Achtsamkeitsübung und können im Zusammenhang mit unserem spirituellen Leben entwikkelt werden.
Die erste Empfehlung lautet, nicht zu töten. Wir werden angehalten, alles Leben zu achten und nicht aus Haß oder Abneigung Dinge zu tun, die irgendeiner lebenden Kreatur schaden. Es geht hier darum, das Leben in allen seinen Formen zu achten und sich ihm liebevoll zuzuwenden. Im Rahmen des Achtfachen Pfades wird dies als ein Aspekt des Vollkommenen Handelns bezeichnet.
Diese Empfehlung mag uns als Selbstverständlichkeit erscheinen, doch vergessen wir im Alltag nur zu leicht, was sie bedeutet. Vor einigen Jahren fand ich während der Jagdsaison im New Yorker einen Cartoon, in dem ein Hirsch zu einem anderen sagt: »Warum, zum Teufel, dünnen sie nicht ihre eigenen verdammten Herden aus?« Wir haben stets Entschuldigungen bei der Hand wie: »Es gibt sowieso zu viele Hirsche.« Wenn wir bewußter werden und eine stärkere Verbindung zum Leben entwickeln, wird uns klar, daß wir anderen kein Leid zufügen sollten, schon allein deshalb nicht, weil wir uns selbst Schmerzen zufügen, wenn wir töten. Und den Opfern ist es ganz sicher nicht recht, auch die winzigsten Kreaturen wollen nicht sterben. Durch das Befolgen dieser Empfehlung lernen wir, anderen und uns selbst keinen Schmerz zuzufügen.
Die zweite Empfehlung fordert uns auf, nicht zu stehlen, uns nichts anzueignen, was uns nicht gehört. Nicht zu stehlen wird als grundlegendes Nicht-Schädigen bezeichnet. Wir müssen unsere Gier loslassen und uns abgewöhnen, zuviel haben zu wollen. Positiv ausgedrückt bedeutet dies, Dinge sensibel und liebevoll zu benutzen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, daß wir dieses Leben, diesen Planeten mit vielen anderen teilen. Um selbst leben zu können, brauchen wir die Pflanzen, die Tiere, ja sogar die Insekten. Alle Wesen dieser Welt müssen sich die Schätze der Erde teilen. Unser Planet gleicht einem Schiff von begrenzter Größe mit einer ungeheuren Zahl von Passagieren. Unser Leben ist mit dem der Bienen, der Insekten und der Regenwürmer verbunden. Gäbe es keine Regenwürmer, die den Boden auflokkern, und keine Bienen, die die Blüten befruchten, so würden wir verhungern. Wir brauchen Bienen, wir brauchen Insekten. Alle Lebensformen sind miteinander verbunden. Wenn wir lernen, die Erde zu lieben, können wir glücklich sein bei allem, was wir tun, und dieses Glück basiert auf Zufriedenheit. Dies ist die Grundlage wahrer Ökologie. Entsprechend ist es die Grundlage des Weltfriedens, wenn wir erkennen, daß wir nicht von der Erde abgetrennt sind, sondern daß wir alle von ihr abstammen und alle miteinander verbunden sind. Aus diesem Gefühl der Verbundenheit heraus kann sich das Bedürfnis zu teilen entwickeln, der Wunsch, der Welt mit Hilfsbereitschaft und Großmut zu begegnen. Großmut zu entwickeln und zu praktizieren ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil eines spirituellen Lebens. Wie man üben kann, den Empfehlungen für den Übungsweg zu folgen und die Meditation zu praktizieren, so kann man auch üben, Großmut walten zu lassen. Wenn wir dies tun, prägt ihr Geist unser Handeln, und unser Herz wird stärker und unbeschwerter. Dies kann uns zu einem tiefen Loslassen und zu großem Glück führen. Der Buddha hob die Bedeutung der Großmut hervor, indem er sagte: »Wenn ihr soviel über die Macht des Gebens wüßtet wie ich, würdet ihr keine einzige Mahlzeit zu euch nehmen, ohne sie auf irgendeine Weise mit anderen zu teilen.«
Traditionell werden drei Arten des Gebens beschrieben, und es wird uns empfohlen, Großmut so zu üben, wie unser Herz es uns eingibt. Zunächst gibt es das versuchsweise oder zögernde Geben. Wir schauen uns ein Objekt an und denken: »Wahrscheinlich brauche ich es ohnehin nicht mehr. Ich könnte es weggeben. Aber vielleicht warte ich doch besser noch bis zum nächsten Jahr. Ach nein, ich verschenke es.« Sogar diese Art des Gebens ist positiv. Uns selbst macht sie ein wenig Freude, und außerdem wird jemand anderem geholfen. Wir teilen und stellen eine Beziehung zu anderen Menschen her.
Die zweite Ebene der Großmut ist das freundliche Geben, so wie wir es einem Bruder oder einer Schwester gegenüber tun. »Bitte nimm von dem, was ich habe, und genieße es so wie ich.« Großzügig zu geben von unserer Zeit, unserer Energie und dem, was wir besitzen, ist noch befriedigender. Es ist wunderschön, dies zu tun. Wir brauchen nicht viel Besitz, um glücklich zu sein. Unsere Beziehung zum ständig sich wandelnden Leben bestimmt, ob wir glücklich oder deprimiert sind. Glück kommt aus dem Herzen.
Die dritte Ebene des Gebens ist das königliche Geben. Wir nehmen etwas, das uns gehört – unsere Zeit, unsere Energie oder ein Objekt, das uns besonders wertvoll ist