Einsicht durch Meditation. Joseph Goldstein
Weise die aufgestauten Spannungen und die Knoten, jene Stellen im Körper, wo wir festhalten. Dabei erleben wir verschiedene Arten von Schmerzgefühlen. Diese Gefühle des Unbehagens oder des Schmerzes zu unterscheiden und zu lernen, mit ihnen umzugehen, ist eine der ersten wichtigen Aufgaben, die sich im Meditationsprozeß stellen.
Eine Art von Schmerz, die wir auf diese Weise erfahren können, signalisiert drohende Gefahr. Wenn wir eine Hand ins Feuer halten und sie fängt an zu schmerzen, dann vermittelt uns das die klare Botschaft: »Nimm die Hand aus dem Feuer!« Dazu gibt es eine Geschichte, die jedem Meditierenden zu denken geben sollte. In einer kleinen Hütte auf dem Lande saß ein Meditierender und beobachtete das Auf und Ab seines Atems: »Auf und ab, auf und ab«. Plötzlich roch er Rauch. Achtsam registrierte er »riechen, riechen«. Erst als er vermerkte »heiß, heiß«, wurde ihm schlagartig klar, daß es nun wirklich Zeit wurde, etwas zu unternehmen. Es ist wichtig, erkennen zu können, ob etwas ein solches Signal ist oder nicht. Eine bestimmte Art von körperlichem Schmerz ist als Signal zu verstehen, das uns etwas sagen will, und solche Empfindungen sollten wir erkennen können und beherzigen.
Es gibt aber auch noch eine andere Art von Schmerz, die man als Dharma-Schmerz bezeichnen könnte. Damit sind die schmerzhaften Empfindungen gemeint, die sich im Körper aufgestaut haben, jene chronischen Spannungen, Knoten und Verkrampfungen, die wir ständig mit uns herumtragen, meist ohne uns ihrer überhaupt bewußt zu sein, weil wir unentwegt abgelenkt sind. Wenn wir meditieren, Achtsamkeit üben und innerlich ruhiger werden, werden wir uns auch dieser schmerzhaften Gefühle bewußter. Dies ist ein Anzeichen für Fortschritt, denn wir sehen plötzlich etwas, das zwar immer da war, von uns aber bisher nicht wahrgenommen wurde, weil wir nicht sensibel genug waren. In der Meditation versuchen wir, uns diesem Dharma-Schmerz zu öffnen und zu erfahren, was tatsächlich gegenwärtig ist.
Doch wie können wir Schmerzen, die Signale für eine drohende Gefahr sind, von jenem Dharma-Schmerz unterscheiden, der sich sozusagen als natürliche Folge unseres Übens äußert? Hierbei kann folgendes als Anhaltspunkt dienen: Wenn der Schmerz verschwindet, nachdem Sie aufgestanden und ein wenig umhergegangen sind, handelt es sich nicht um ein Gefahrensignal. Vielleicht ist das ungewohnte und zunächst unangenehme Sitzen in einer ungewöhnlichen Position der Grund, oder der Schmerz ist ein Ausdruck lange aufgestauter Spannungen. Verschwindet der Schmerz, nachdem Sie Ihre Körperhaltung verändert haben, so können Sie die Sache auf sich beruhen lassen; bleibt er jedoch bestehen oder wird sogar noch stärker, nachdem Sie ein wenig umhergegangen sind, dann haben Sie sich vielleicht zu sehr angestrengt, Ihre Haltung war irgendwie unnatürlich. Am besten verändern Sie in diesem Fall die Haltung oder bleiben zwar dabei, achten aber bewußt darauf, sich nicht zu verspannen.
Dharma-Schmerzen, jene unangenehmen Empfindungen, die verschwinden, wenn wir stehen oder gehen, die jedoch beim Sitzen sehr intensiv werden können, sind in bezug auf den Lernprozeß, der zur Öffnung führt, am wichtigsten. Dharma-Schmerzen können sich im Rücken, in den Knien sowie auch in anderen Körperregionen sehr heftig äußern. Was fängt unser Geist mit diesem Schmerz an, der sich uns während der Meditation offenbart? In der Anfangsphase der Meditationspraxis versucht er häufig, Widerstand zu leisten. Wir mögen Schmerzen nun einmal nicht. Dieser Widerstand ist ein Wegdrängen der Erfahrung oder ein Sich-Verschließen ihr gegenüber, also das genaue Gegenteil von Sich-Öffnen.
Es gibt verschiedene Formen von Widerstand gegen Schmerzen. Eine davon ist Selbstmitleid. Wir empfinden Schmerz während der Meditation, verweilen eine Zeitlang achtsam bei dieser Empfindung und verfallen dann in Selbstmitleid: »Oh, ich armer Kerl! Alle anderen befinden sich in einem wundervollen Zustand der Glückseligkeit, und nur mein Knie tut weh.« Bevor man sich versieht, hat man sich in einer Spirale von selbstbemitleidenden Gedanken verloren.
Eine andere Form von Widerstand gegen Schmerz ist Angst. Oft sind wir dazu konditioniert, uns vor Schmerz zu fürchten. Wir fürchten uns davor, uns dem Schmerz hinzugeben, ihn zu fühlen, und diese Furcht hindert uns daran, uns zu öffnen und uns zu gestatten, das zu erfahren, was real ist. Wenn wir diese Art von Widerstand haben, sollten wir die Angst identifizieren, sie anschauen und uns dann sanft der Angst öffnen.
Manchmal führt Angst vor Unannehmlichkeiten zu Präventivhandlungen. Wir reagieren dann, noch bevor der Schmerz wirklich unangenehm wird. Wir versuchen zu verhindern, daß der Schmerz überhaupt richtig zum Ausbruch kommt – man könnte das als »Für-alle-Fälle«-Syndrom bezeichnen. Mit dieser Tendenz des menschlichen Geistes befaßt sich die folgende selbsterlebte Geschichte.
Vor einiger Zeit nahm ich an einer Meditationseinkehr in England teil. Zum Frühstück gab es jeden Tag genau das gleiche: Porridge, Toast, Obst und Tee. Am ersten Tag nahm ich etwas Porridge, zwei Scheiben Toast, eine Frucht und eine Tasse Tee. Ich aß alles auf, bis auf die zweite Scheibe Toast, die ich zurücklegte. Am nächsten Morgen gab es das gleiche Frühstück, und wieder nahm ich Porridge, zwei Scheiben Toast, eine Frucht und Tee. Wieder aß ich alles bis auf die zweite Scheibe Toast. Am dritten Morgen gab es wieder das gleiche Frühstück, und ich nahm Porridge, zwei Scheiben Toast, eine Frucht und Tee. Es dauerte ungefähr eine Woche, bis ich die zweite Scheibe Toast endlich von vornherein liegenließ, obwohl mir schon seit Tagen klar war, daß ich sie ohnehin nie essen würde. Mein Geist war von der Angst beherrscht: »Ich nehme besser zwei, falls ich doch mehr Hunger bekommen sollte.«
Das »Für-alle-Fälle«-Syndrom ist sehr verbreitet. »Ich werde mich jetzt bewegen, nur für den Fall, daß meine Haltung zu unbequem wird und ich den Schmerz nicht ertragen kann.« Oder: »Ich werde heute früh schlafen gehen, nur für den Fall, daß ich morgen müde bin.« Diese Art von Angst wirkt als Barriere gegen das, was tatsächlich der Fall ist. Sie entsteht, weil wir Angst haben vor dem, was eintreten könnte, wenn wir bei dem bleiben, was momentan der Fall ist: Wir wollen uns nicht unwohl fühlen und keinen Schmerz empfinden.
Wir haben über Selbstmitleid und über Angst gesprochen. Eine weitere Art von Widerstand, die subtiler wirkt und unsere Bemühungen unterminiert, ist Apathie oder Gleichgültigkeit gegenüber dem, was tatsächlich geschieht. In diesem Zustand wird der Geist sehr nachlässig. Er registriert und identifiziert nur noch mechanisch, ohne Vitalität, und oft hat das, was er registriert, nicht das geringste mit dem zu tun, was tatsächlich vor sich geht. Wir registrieren dann »aus«, wenn der Atem tatsächlich in die Lungen »ein«-strömt, und »ein«, wenn er in Wahrheit »aus«-strömt. Ein apathischer Geist hindert uns, völlig bei der Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks zu sein.
Wenn sich durch die Meditation öffnen soll, was bisher verschlossen war, müssen wir die verschiedenen Formen des Widerstands erkennen lernen und uns klarmachen, daß sie zu irgendeinem Zeitpunkt bei fast jedem auftreten. Wir brauchen uns wegen unseres Widerstands nicht zu verurteilen, sondern sollten Selbstmitleid, Angst oder Apathie einfach nur registrie-ren, diese Zustände sehen und uns daran erinnern, daß es eine andere Reaktionsmöglichkeit gibt, eine, bei der wir uns öffnen und Achtsamkeit üben. Statt Unangenehmes zu verdrängen oder uns davor zu verschließen, können wir uns auch weicher machen, den Geist weicher werden lassen, so daß er rezeptiv, sanfter und entspannter wird und mehr zuläßt. Wir brauchen nicht zu kämpfen, auch nicht gegen Dinge, die schmerzhaft sind. Wenn wir uns gestatten, entspannter und offener zu sein, können wir klarer erkennen, was tatsächlich geschieht.
Wenn wir beispielsweise einen Schmerz im Rücken bemerken und unsere Zeit damit verbringen, diesem Schmerz Widerstand zu leisten oder ihn zu verdrängen, nehmen wir uns jede Möglichkeit, die Natur des Schmerzes zu verstehen, die Wahrheit jener Erfahrung. Wenn wir uns weich machen und uns öffnen, entdecken wir, daß »mein Rücken tut weh« ganz einfach auf bestimmte Empfindungen hinweist. Das kann Verspanntheit sein, Ziehen, Stechen, Taubheit, Brennen oder ein Druckgefühl. Es gibt eine lange Liste solcher Empfindungen.
Wenn unser Geist offen ist, sind wir in der Lage, von der Ebene des »Mein Rücken tut weh«, einer Vorstellung, zur Ebene dessen überzuwechseln, was tatsächlich geschieht: Gewisse Empfindungen tauchen auf und verschwinden wieder. Vielleicht sind sie sehr intensiv und unangenehm, doch wir erfahren, was tatsächlich wahr an ihnen ist. Und wir registrieren nicht nur, was diese Empfindungen sind, sondern auch, wie sie wirken. Wenn wir schmerzhaften Gefühlen Widerstand leisten, haben wir oft die Vorstellung, daß sich in einem bestimmten Teil unseres Körpers eine feste Masse von Schmerz befindet. Wenn wir uns gestatten,