Traugott. Danielle Willert

Traugott - Danielle Willert


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nur um dieses Leben geht, sondern um unendlich viele, denn dann wäre die Ungerechtigkeit, die auf der Welt herrscht, nur eine scheinbare und wir könnten sie besser ertragen. Was verleitet uns im Grunde dazu anzunehmen, dass der Tod das Ende unserer Existenz ist?

      Wir alle haben keine Antworten und wir kennen die Wahrheit nicht. Wenn wir über Gott nachdenken, kommen wir nur bis zu einem gewissen Punkt. Und dieser Punkt ist immer nur ein Reflexionspunkt oder ein Standpunkt, jeweils mit einem Fragezeichen. Aber niemand kommt an Gott vorbei – weder diejenigen, die Gott nur als Lückenbüßer sehen für Fragen, die sie selbst nicht beantworten können, noch diejenigen, die nicht an ihn glauben, denn die machen sich Gedanken darüber, warum sie nicht an ihn glauben können oder wollen. Kein Agnostiker ist über jeden Zweifel erhaben und auch der Atheismus beruht letztendlich nur auf Spekulation.

      Absolute Überzeugungen machen die Welt geordneter und übersichtlicher. Sie geben Sicherheit – wenngleich eine scheinbare. Sie sind bequem, aber sie verhindern auch die Wachsamkeit und Empfänglichkeit für andere oder neue Sichtweisen.

      Unsere unverrückbaren Gewissheiten halten so oder so nie Stand, wenn wir uns die Mühe machen würden, über sie hinauszusehen. Wir rücken uns die Wirklichkeit mit unseren Überzeugungen zurecht. Es ist einfacher zu beschließen, dass das Unbegreifliche einfach nicht existiert, und nicht darüber nachzudenken, wie wenig wir eigentlich wissen. In den dunkelsten Stunden hoffen allerdings sogar die Ungläubigsten auf Wunder und sind bereit, ihre Ansichten ins Wanken zu bringen oder sogar über Bord zu werfen. Die Frage ist nicht, ob es im Universum etwas gibt, das größer ist als wir es sind, sondern was das für uns bedeuten würde!

      Gott ist das Unbegreifliche. Glaube ist Unsicherheit.

      Vertrauen ist immer ein Wagnis, weil man sich ins Unbekannte aufmacht und Zweifel und Angst immerzu hinter jeder Biegung lauern. Traugott lehrte mich, neugierig und achtsam zu bleiben, damit ich eines Tages möglichenfalls erahne, wie alles zusammenhängt, und – was noch viel wichtiger ist – damit ich jeden Tag mit einer Spur mehr Bewusstheit und Dankbarkeit das Licht lösche und schlafen gehe als noch am Abend zuvor. Er lehrte mich auch, dass die kleinen Dinge die besonderen Dinge im Leben sind und dass jeder Tag mehr als genug davon für uns bereithält, wenn man nur ein offenes Herz und einen wachen Blick dafür hat.

      Ich bin dankbar, Traugott getroffen zu haben. Und eines kann ich mit absoluter Bestimmtheit sagen: Traugott ist weder seltsam noch altmodisch. Er ist ungewöhnlich, aber das sind wir seiner Meinung nach alle. Ungewöhnlich im Sinn von besonders und einzigartig.

       Kapitel 1

      Nico ist zu einem Piratenfest eingeladen. Mit einem schwarzen Kohlestift male ich ihm Bartstoppeln auf Wangen und Kinn, binde ihm eine schwarze Augenklappe und ein rotes Kopftuch um und schneide Fransen in seine alte Jeans. Er schnappt sich sein Plastikschwert, tritt damit vor den Spiegel und fragt sichtlich zufrieden:

      »Schau ich zum Fürchten aus, Mama?«

      »Wenn ich nicht wüsste, dass du es bist, würde ich aus Angst weglaufen«, sage in einem sehr ernsten Ton.

      Er schlingt seine Arme um meinen Hals und lacht. Seine Aufgeregtheit und Lebensfreude sind Glück pur. Schnappschuss. Glück pur, kurz festgehalten. Mein Herz fließt über. Ich mache noch ein paar Fotos von ihm in verschiedenen Kampfstellungen, die wir uns am Computer ansehen, und wünschte, Simon wäre jetzt da. Die Einsamkeit wird einem am meisten bewusst, wenn man einzigartige Momente wie diese nicht mit jemandem teilen kann.

      Wir ziehen uns an. Draußen ist es merklich kühler geworden, fast zu kalt für September. Ich suche noch einmal die Hausnummer heraus und fahre Nico zum Piratenfest. Am Haustor hängen bunte Luftballons. Er springt aus dem Auto und läutet. Ich warte, bis ihm das Tor geöffnet wird. Nico dreht sich noch einmal kurz um, lacht und winkt. Und dann ist er in sein Vergnügen entschwunden. Er ist gerade einmal acht Jahre alt und ich empfinde wieder einen dieser kurzen Momente der Rührung und tiefen Dankbarkeit.

      Ich notiere in mein Notizbuch: Es wäre gut, allmählich wieder in meine Mitte zu kommen und Verantwortung zu übernehmen. Für uns beide. Bevor ich es zuklappe, lese ich Haarshampoo und deshalb halte ich noch schnell am Supermarkt. Ich habe vier Stunden nur für mich, bevor ich Nico wieder abholen soll.

      ***

      Drei Wochen sind seit unserer Trennung vergangen. Manchmal ändert sich das Leben von einem Moment zum anderen. Er sagte, er habe Angst vor dem Leben, das er nicht lebte. Er litt an der Trivialität seines Lebens und es war das ungelebte Leben, das ihm waghalsiger, aufregender, inspirierender und bunter erschien. Er wollte etwas Neues, etwas Kühnes, etwas Unverbrauchtes. Er fürchtete, etwas zu versäumen im Wetteifer nach Vergnügen, und er wollte die Freiheit, seine neue Liebe zu genießen.

      Ich hätte gerne die Zeit zurückgedreht bis zu dem Wendepunkt, an dem sich die Inseln des Schweigens zu bilden begonnen hatten. An diesem Punkt hätte ich vielleicht noch etwas ändern können. Im Laufe der letzten Monate baute sich zwischen uns eine Fremdheit auf, die erdrückend war und die sein zunehmendes Desinteresse bekundete. Es hilft nicht, in Krisenzeiten die ganz normale Alltagsroutine weiterlaufen zu lassen. Es kommt der Tag, da genügt ein Wort und man ist mit dem konfrontiert, was man schon die ganze Zeit gewusst und betulich im Innersten zu verdrängen versucht hat. Wenn wir heutzutage unsere Erwartungen an unsere Beziehung nicht erfüllt sehen, so scheint es, versuchen wir es einfach mit einer neuen. Beziehungen scheitern, weil das Verhältnis zu alltäglich geworden ist. Die rauschhafte Unbedingtheit und die Euphorie der ersten Jahre sind verschwunden und leise schleichend in eine andere Form der Zweisamkeit übergegangen.

      Wenn wir uns auf serielle Lebensbündnisse mit beschränkter Haftung einlassen, ist dies eine Möglichkeit, die Unbeschwertheit der ersten Zeit immer wieder neu zu erleben, ohne dass sich Gewohnheit einschleichen kann.

      Nachdem man auch in der Schule nichts über die Liebe gelernt hat, geht man ins Kino und gibt sich dem süßlichen Schwindel hin, romantisch und leidenschaftlich lieben zu müssen. Bedeutet Gewohnheit zwangsläufig irgendwann das Ende einer Beziehung? Verhindert sie anhaltende, tiefe Liebe im Alltag oder fehlt es uns letztendlich nur an Dankbarkeit und Wertschätzung für den anderen?

      Er ging. Einfach so. Lautlos. Ein Glas fällt zu Boden und zerbricht. Zurück bleiben Scherben. So fühlt es sich also an, wenn man den Boden unter den Füßen verliert. Zur maßlosen Enttäuschung gesellte sich eine tiefe Sehnsucht und beides mündete mit den Tagen in eine traurige Ermattung, die fast schon an Bedürftigkeit grenzte. Die Sehnsucht klebte bereits am ersten Abend in meinem Schlafzimmer. Sie verbreitete sich in der gesamten Wohnung und krallte sich fest, saß an den Wänden fest und lauerte überall. Sie tropfte sogar aus der Espressomaschine, der Kaffee schmeckte bitter.

      Wenn man einen Menschen verliert, verliert man ihn nach und nach, zu so vielen verschiedenen Zeitpunkten, an so vielen Orten, bei so vielen Tätigkeiten. Jede noch so banale Alltagstätigkeit erinnert mich an ihn und jetzt, wo er nicht mehr da ist, ist er immer präsent. Noch immer kann ich keinen klaren Gedanken fassen, sie drehen sich immer nur im Kreis und beinhalten immer einen Konjunktiv: könnte, hätte, würde, wäre.

      Nico hat in diesem Monat nur wenige Male nach ihm gefragt. In seiner Anwesenheit reiße ich mich zusammen und versuche, meinen Kummer zu verbergen. Ich habe ihm gesagt, sein Vater sei vorübergehend nicht da und müsse zurzeit sehr viel arbeiten. Es war dumm, aber mir ist nichts Besseres eingefallen. Tatsächlich hoffe ich ja auch insgeheim, dass sich zwischen uns nur eine Kette von Missverständnissen aufgebaut hat und sich die Klammer unserer Trennung wieder schließen wird. Aber die Wahrheit ist: Ich bin zu feige. Für die Wahrheit braucht man Mut. Wenn man sie in einer anderen Form präsentiert, ist sie vielleicht weniger schmerzhaft.

      Kindern kann man aber nichts vormachen. Sie beobachten alles und tief im Inneren wissen sie alles, auch wenn sie es erst viel später mit dem Verstand begreifen. Sie haben Sensoren für jede Ungereimtheit und jede noch so geringfügige Unstimmigkeit. Er hat nicht nachgebohrt, möglicherweise auch aus Angst vor der Antwort. Vielleicht ist der Schmerz leichter zu ertragen, wenn man ihm nicht direkt in die Augen sieht. Wieder zu Hause, beschließe ich, mir einen Kaffee zu machen, pendle


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