Traugott. Danielle Willert

Traugott - Danielle Willert


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      Kapitel 2

      Ich heiße Theo. Mit der heutigen Distanz I kann ich sagen, dass auch mein Name fürwahr nicht modern ist, denn eigentlich heiße ich Matthea, aber alle nannten mich von klein an Theo. Ich sah mit meinen schulterlangen blonden Haaren zwar aus wie ein Mädchen, trug aber ausschließlich Hosen, spielte gerne Fußball und war lieber mit den Jungs aus meiner Klasse zusammen. Am liebsten trug ich knielange Shorts, was bei meiner Mutter, die mich gerne in kurzen Kleidern gesehen hätte, manchmal auf Widerstand stieß.

      Meine Mutter und ich wohnten erst ein paar Monate in einer kleinen alten Straße mit Kopfsteinpflaster in der Nähe des Münzamts. Die Straße war schmal. Die Häuser waren nicht höher als vier oder fünf Stockwerke. Jedes hatte eine andersfarbige Fassade in zarten, unauffälligen Pastelltönen.

      Es gab nur ganz wenige Wohnhäuser, einen Blumenladen, einen Buchladen und ein kleines Restaurant. Meine Mama sagte oft: »Es ist ein Segen, dass wir hier wohnen. Hier ist es ruhig und sicher und alle Menschen, die hier wohnen, sind freundlich.«

      In unserer Straße war die Welt in Ordnung. Sie sagte, unsere Straße strahle solch eine Beschaulichkeit aus, dass man meinen könne, alle Menschen hier seien mit der Welt einverstanden.

      Vom Fenster meines Zimmers aus sah man seitlich auf Camilles Blumenladen. La vie en rose hieß ihr Geschäft und der Schriftzug leuchtete rosa in der Nacht.

      »Wenn Freude eine Farbe wäre, wäre sie rosa«, sagte meine Mutter oft. »Versuche rosa zu denken, wenn du traurig bist, oder male ein Unglück in Rosa aus, dann bist du gleich viel weniger unglücklich.«

      Meine Lieblingsfarbe war Blau. Zu einer meiner schönsten Erinnerungen gehörte der Anblick des hell- und dunkeltürkisblauen Meers unter einem nie enden wollenden klaren, blauen Sommerhimmel. Wir befanden uns im Landeanflug auf Marseille, als ich, zwischen meiner Mutter und meiner Omi sitzend, zum ersten Mal das Meer sah und dreiundzwanzig verschiedene Blautöne zählte. Ich fand fast alles schön, was blau war. Keine andere Farbe war so vielfältig. Zu gerne hätte ich gewusst, wie viele verschiedene Blautöne es auf der Welt gab. Ich glaube, ich habe noch nie zwei absolut gleiche Blaus gesehen. Sogar zwei Glockenblumen waren beim genaueren Betrachten nicht gleich blau.

      Jeden Morgen sperrte Camille um halb acht ihr Blumengeschäft auf und gleich darauf stellte sie die Töpfe mit Margeriten, Lavendel, Azaleen und Rosen auf bunte Metalltische mit geschwungenen Beinen rund um ihr Geschäft. Wenn es draußen warm war, verlegte sie ihren halben Blumenladen nach draußen. Im Frühling verwandelte sich der Gehsteig rund um ihr Geschäft in einen bunten Blumengarten. Meine Mutter schaute oft verzückt nach unten und sagte: »Der Gehsteig sieht aus wie gemalt, wenn man vom Fenster hier oben hinuntersieht. Und wenn man erst in Camilles Laden steht, hat man das Gefühl, als ob man in eins von Monets Gartenbilder eingetreten ist.« Ich wollte damals sehr gerne einmal nach Paris fliegen, ich wollte den Eiffelturm sehen und auch die Blumenbilder von Monet.

      Camille hatte am Morgen meist dunkelgrüne Gummistiefel mit aufgedruckten Gänseblümchen an und trug dazu manchmal ein grün-weiß getupftes Kleid und Gartenhandschuhe, sodass sie fast zur Gänze in den Blumen verschwand. Wenn sie sich bückte, um die Zinkeimer für die Schnittblumen mit Wasser zu füllen, war sie inmitten ihres Blumenmeeres kaum zu erkennen.

      Camille klemmte die Strähnen, die sich aus ihrem Haarknoten lösten, immer mit derselben anmutigen Geste hinters Ohr. Meine Mutter bemerkte, dass sie eine selbstverständliche Zufriedenheit ausstrahlte, die auffällig war, weil sie so beständig war. Ihr Gang war leicht und schwerelos. Sie sah aus, als ob sie schweben würde und die Schwerkraft überwunden hätte. Das war der flüchtige Eindruck, den wir damals von Camille hatten.

      Neben dem La vie en rose gab es ein kleines Restaurant, das den Namen Unter uns trug. Aber es hieß nicht nur so ‒ Unter uns ‒, sondern es war auch unter uns. Von unserem Fenster sahen wir genau darauf hinunter. Camille saß auch manchmal in der Früh unter der himmelblauen Markise, trank einen Kaffee, las eine Zeitung und winkte uns fröhlich zu, sobald wir aus dem Haus gingen. An den Wochenenden konnte man beobachten, wie sie die Waldreben und Kletterrosen schnitt, die in Rosa und Lila an der Hausmauer emporwuchsen. Ich liebte das Haus mit dem Restaurant sehr, denn überall, wohin ich schaute, wuchsen wundervolle bunte Blumen.

      Das Unter uns war tagsüber ein ganz normales Café mit einer kleinen, länglichen Theke und wenigen Tischen. Ab 18 Uhr verwandelte es sich in ein kleines Restaurant. Mit den Tischdecken aus Baumwolle mit flieder-weißem Karomuster, weißen Stoffservietten und einer Kerze auf jedem Tisch sah das Restaurant abends völlig anders aus. Es war zwar sehr klein – nicht viel größer als ein etwas größeres Wohnzimmer –, aber irgendwie fand man doch immer einen Platz. Notfalls mussten alle zusammenrücken. Wenn kein Tisch mehr frei war, setzte Frédéric, der Restaurantbesitzer, einen einfach an einen nicht voll besetzten Tisch dazu.

      Ab und zu gingen meine Mutter und ich dort abends Crêpes essen. Ich liebte es, mit meiner Mama dort zu essen. Dort konnten wir so schön zusammen sein.

      Nicht weit vom Restaurant an der Kreuzung gab es noch eine Buchhandlung. Dort sah man nie sehr viele Kunden. Der Laden war nicht besonders groß und wahrscheinlich war die Auswahl an Büchern ebenfalls überschaubar. Über dem Buchladen hing ein Schild, auf dem in dunkelgrünen Buchstaben der Name TRAUGOTT zu lesen war.

      Bis zu jenem Tag im Mai war ich noch nie drinnen gewesen, ich bin immer nur daran vorbeigegangen. Im Geschäft saß meistens ein junger Mann, von dem ich annahm, dass er Traugott hieß, und der vorwiegend las. Wenn ich vorbeiging und er gerade zufällig zu mir hersah, winkte ich ihm immer zu und er winkte zurück. Oft habe ich mir gedacht, dass es doch bestimmt sehr langweilig sei, den ganzen Tag in dem kleinen Laden verbringen zu müssen und zu warten, zumal nicht gerade viele Menschen den Weg hineinfanden. Aber durch die Fensterscheibe machte Traugott stets einen fröhlichen Eindruck. Wenn er mir winkte, lächelte er, sodass man seine Zähne blitzen sah.

      »Ein Lächeln ist ein Geschenk der Liebe, das dich gleich in eine höhere Schwingung bringt«, hat er später einmal zu mir gesagt.

      Kapitel 3

      Meine Mutter hatte mich an jenem Tag in der Früh zur Schule gebracht. Wir fuhren täglich gegen halb acht los, meist dann, wenn Camille die Blumen auf den Gehsteig stellte. An diesem Tag waren wir jedoch früher dran, die Glocken der Jesuitenkirche läuteten sieben Uhr. Camille zog gerade die Jalousien vor dem Schaufenster hoch. Ich erinnere mich noch gut daran. Meine Mama war ziemlich hektisch an diesem Morgen.

      Täglich brachte sie mich mit dem Auto zur Schule, da sie normalerweise von dort aus direkt weiter zur Arbeit fuhr. Eigentlich wäre ich damals schon viel lieber alleine zur Schule gegangen. Immerhin ging ich schon in die vierte Klasse Volksschule. Schließlich durften die meisten meiner Freunde auch bereits ohne Begleitung zur Schule. Meine Mutter entschuldigte ihre Fürsorge immer damit, dass der Großteil meiner Mitschüler einen viel kürzeren Schulweg hätten und nicht U-Bahn fahren müssten.

      Als wir mit dem Auto aus unserer Straße bogen, vorbei am Buchladen, sah ich, dass Traugott da war. Normalerweise sperrte der Buchladen viel später auf. Ich winkte ihm zu und er winkte zurück. Dabei lächelte er wieder. Es war eigenartig. Ich hatte noch nie ein Wort mit Traugott gesprochen, aber im Vorbeigehen nahm er immer meinen Blick auf und ich fühlte mich ihm verbunden. Es war, als würde jede dieser stillen Begegnungen nach und nach eine innewohnende Verwandtschaft aufdecken.

      »Traugott ist wirklich ein komischer Name«, bemerkte ich.

      »Traugott ist ein altmodischer Name«, entgegnete meine Mutter. »Wahrscheinlich, weil Gott aus der Mode gekommen ist«, fügte sie hinzu.

      »Warum ist Gott aus der Mode gekommen?«

      »Ich weiß es nicht, aber heute wenden sich die Menschen nicht mehr so sehr an Gott wie früher. Manchmal wird man schon komisch angeschaut, wenn man sagt, dass man an Gott glaubt. Mitunter muss man schon sehr beherzt sein, wenn man sich öffentlich zu Gott bekennt.«

      »Was heißt bekennen?«

      »Bekennen


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