Traugott. Danielle Willert
nicht zu verleugnen «, erklärte meine Mama. »Wenn du klar und deutlich sagst, dass du an Gott glaubst, kann es passieren, dass einige Mitmenschen abschätzig und verständnislos den Kopf schütteln.«
»Glaubst du, dass es Gott gibt?«
»Da bin ich mir ganz sicher, aber oftmals habe ich das Gefühl, dass unsere Gesellschaft ihn einfach abgeschafft hat.«
»Aber man kann doch Gott nicht abschaffen!«, sagte ich empört. »Wie kann man jemanden abschaffen, der vielleicht selbst die Welt erschaffen hat?«
»Natürlich, man kann ihn nicht abschaffen, aber man kann so tun, als würde Gott nicht existieren und den Glauben an ihn abschaffen«, sagte sie. »Und so kommt es mir manchmal vor.«
Ich war nachdenklich. Ich glaubte auch, dass es Gott gab, allerdings wäre ich mir sicherer gewesen, wenn ich ihn einmal gesehen oder gehört hätte.
»Gott muss schon groß sein«, dachte ich, »wenn er die Welt wirklich erschaffen haben soll.« Ich hätte ihn gerne einmal getroffen und ihn gefragt, warum die Welt so ist, wie sie ist.
»Gott muss auch sehr alt sein. Und interessieren würde mich auch, wo er wohnt. Ich glaube nicht, dass Gott im Himmel wohnt. Lennys Mutter ist Flugbegleiterin und hat Gott auch noch nie gesehen, obwohl sie doch nahezu im Himmel arbeitet.«
Ich musste zugeben, es fiel einem nicht leicht an Gott zu glauben, weil er so unsichtbar war. Weil er so schweigsam war. Weil er nicht antwortete, wenn man sich an ihn wendete. Und weil es so viele arme und unglückliche Menschen gab und er nichts dagegen tat. Man hatte das Gefühl, er sei untätig.
»Er ist eine Fata Morgana und wahrscheinlich glauben diejenigen, die kein leichtes Leben haben, sie seien ihm vollkommen gleichgültig. Wenn es Gott gibt, dann muss er doch wissen, was hier los ist!«
Vielleicht wollten die Menschen ihn abschaffen, weil sie darüber enttäuscht waren, dass Gott sich ihnen nicht zeigte. Vielleicht war Gott auch einfach nur müde, weil die Menschen so viele Wünsche an ihn hatten und er gar nicht nachkommen konnte, sie alle zu erfüllen. Oder er war traurig, weil wir Menschen nicht gut auf die Erde aufpassten und so schlecht mit ihr umgingen. Oder war er enttäuscht, weil wir nicht in die Kirche gingen oder nicht beteten? Aber wenn ich abends in den Himmel schaute, mir die vielen Sterne ansah, kam mir schon alles sehr groß und geheimnisvoll vor, da konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass es Gott nicht gab. Dann wurde der Nachthimmel zu einer einzigen riesigen Gestalt über uns, die uns vielleicht ja auch begleitete und über uns wachte. Und dann dachte ich: »Gott muss der Sternenhimmel sein. Gott ist sternhimmelvoll.«
Meine Mutter sagte, man könne Gott spüren, wenn man sich der Unendlichkeit gewahr wurde und begriff, dass das Leben ein Geschenk war. Man könne, aber müsse nicht in die Kirche gehen, um an Gott zu glauben. Das eine habe mit dem anderen absolut nichts zu tun. Wir gingen nur zu Ostern und zu Weihnachten in die Kirche.
Ich glaubte natürlich nicht mehr ans Christkind, aber meine Mama meinte, im Grunde kennten wir die Wahrheit nicht. Vielleicht gab es das Christkind wirklich, nur brachte es eben nicht die Geschenke, die unter dem Christbaum lagen. Vielleicht gab es Engel, die so aussahen, wie wir uns das Christkind vorstellten, die auf uns aufpassten – und das war auch ein Geschenk. Ein viel größeres. Das wäre doch schön. Dann wäre man nie alleine.
Manchmal stellte ich mir vor, dass ich einen persönlichen Schutzengel hatte und redete mit ihm. Es sah dann immer so aus, als würde ich mit mir selbst reden und oft kam ich mir dabei etwas merkwürdig vor. Aber man musste nur einmal die Leute in ihren Autos beobachten! Viele hatten Kopfhörer im Ohr und redeten auch mit jemandem, obwohl sie ganz alleine im Auto saßen. Das sah auch merkwürdig aus, aber niemand störte sich daran.
Im Radio spielten sie einen coolen Song, der mich ablenkte, sodass wir nicht weiter darüber sprachen. Ich habe den Refrain mitgesungen, obwohl ich den englischen Text gar nicht verstand.
An der Schule stieg ich aus. Meine Mama teilte mir kurz mit, dass sie eine wichtige Besprechung in einer anderen Stadt habe, sofort zum Flughafen müsse, schon spät dran sei und mich um sechzehn Uhr wieder rechtzeitig an der Schule abholen würde. Sie hatte es offensichtlich wirklich sehr eilig an diesem Tag, denn sie fuhr gleich los, ohne wie üblich noch den kurzen Moment abzuwarten, bis ich durch das Schultor ging. Meistens drehte ich mich sogar noch einmal um, schickte ihr ein Flug-Küsschen, das auf ihre Wange klatschte, so als hätte sie ein Tennisball mit voller Wucht im Gesicht getroffen. Ich musste dann immer lachen.
Der Schultag war ganz normal. Florian hielt an diesem Tag ein Referat über den Mond. Er erzählte uns, dass der Mond für Ebbe und Flut verantwortlich sei. Das hatte ich nicht gewusst. Immer mal wieder habe ich mich zwar gefragt, wohin das Meer hinfloss, wenn Ebbe war, denn es konnte ja nicht einfach verschwinden. Florian hat auch über Apollo 11 berichtet und der Landung auf dem Mond. Ich wollte meine Omi fragen, ob sie sich noch an den Tag erinnern könne. Ich habe mich auch gefragt, ob an dem Tag der Mondlandung Vollmond gewesen war und ob man von der Erde aus die Männer auf dem Mond hatte sehen können. Astronauten waren mutige Menschen, fand ich, denn ich glaubte nicht, dass ich mich trauen würde, mit einer Rakete ins All zu fliegen.
»Es ist sicher sehr gefährlich, aber auch total aufregend, den Sternen näherzukommen und die Erde nur noch als einen kleinen blauen Ball zu sehen«, überlegte ich. »Und vielleicht trifft man ja dort ganz weit oben auf Gott?« Im Universum gab es Abermillionen von Galaxien, die wieder aus Abermillionen Sternen bestanden. Wenn man sich nur einmal überlegte wie groß das Universum war, kam man ins Staunen, da blieb einem der Atem weg. Das musste man sich einmal wirklich überlegen. Wenn ich mir längere Zeit über die Größe des Universums Gedanken machte, kam ich zu dem Schluss, dass man sich das eigentlich gar nicht vorstellen konnte. Wie sollte man sich auch Unendlichkeit vorstellen können?
Wie gesagt, der Schultag war wie immer. Aufregend wurde es erst später, aber alles der Reihe nach.
Ich verbrachte den ganzen Tag in der Schule. Die meisten Kinder in meiner Klasse blieben auch den ganzen Tag. Wenn die Aufgabenstunde vorbei war, waren wir meistens im Garten. Meine Mama sagte, es sei ein Glück einen so großen Garten in der Schule zu haben, und ich fand, sie hatte recht.
Irgendwann war es dann sechzehn Uhr und meine Mama war nicht da. Es war noch nie vorgekommen, dass mich niemand abholte. Manchmal, wenn Mama verhindert war, kam auch Rosie. Rosie war eine ältere Dame, die im Mezzanin unseres Hauses wohnte. Sie war pensionierte Mathematik- und Geschichtsprofessorin, lebte allein und war sehr hilfsbereit. Ab und zu, wenn meine Mutter ausging, passte Rosie auch abends auf mich auf. Jedenfalls stand ich schon fertig beim Schultaschenplatz, aber weder meine Mutter noch Rosie kam. Ich wartete, bis ich die letzte in der Schule war.
»Theo«, sagte Victoria, unsere Nachmittagsbetreuerin, »du bist noch da?«
Victoria wollte die Schule schließen und versuchte deshalb mehrmals, meine Mama anzurufen, aber sie hat nie abgehoben. Zu Schulbeginn in der ersten Klasse hatte jedes Kind drei Telefonnummern von Familienmitgliedern angeben müssen, die man im Notfall anrufen könnte. Wir hatten Mamas, Omis und Iwos Nummer hinterlegt. Die Omi war Mamas Mutter und Iwo war Mamas Freund, aber auch die beiden waren nicht zu erreichen. Omi war im Urlaub in Spanien und bei Iwo war dauernd besetzt. Andere Telefonnummern hatten wir nicht.
»Ich kann alleine nach Hause gehen!«, sagte ich zu Victoria. »Außerdem habe ich ja einen Wohnungsschlüssel, der ist immer in meiner Schultasche, hier im vordersten Fach, für den Fall, dass Rosie mich abholt.« Ich kramte in meiner Schultasche und zog den Wohnungsschlüssel heraus, um ihn ihr zu zeigen.
Victoria wollte sich jedoch nicht sofort geschlagen geben und probierte es erneut bei Iwo. Der hatte dann endlich sein Dauergespräch beendet und sie konnte mit ihm sprechen, um zu erfahren, dass er nicht in Wien war und mich deshalb nicht abholen konnte. Iwo wohnte und arbeitete drei Autostunden von Wien entfernt und war nur an den Wochenenden bei uns.
So hat mich Victoria dann doch alleine gehen lassen, nachdem Iwo ihr sein Einverständnis gegeben und ihr versichert hatte, dass die Mama sich wahrscheinlich nur verspätet hatte. Sicher würde sie ihn anrufen und dann könne er ihr ja sagen, dass ich zu Hause sei. Allerdings musste ich versprechen, mich an drei wichtige Regeln zu halten: