Traugott. Danielle Willert
viel wichtiger als Höflichkeit. Es ist besser, wahrhaftig zu sein und den anderen mit Respekt zu begegnen. Man kann so und so spüren, wie jemand über einen denkt.«
Kurz überlegte ich, ob ich ihn nach seinem Telefon fragen sollte. Gerne hätte ich noch einmal versucht, meine Mama anzurufen, ließ es dann aber bleiben und er verschwand im Haus.
Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifuhr, hoffte ich, dass es ihr Wagen sein würde. Die Vorstellung, in die leere Wohnung zurückzukehren, machte mir Angst. Das letzte Mal, als ich so große Sehnsucht nach meiner Mama hatte, war, als ich eine Woche bei meinem Papa war. Da habe ich abends mit Mama telefoniert und ein bisschen geweint. Sie hat mich getröstet und gemeint, es sei gut wenn man das Gefühl der Sehnsucht kenne, denn dann wisse man bestimmt, dass man den anderen liebe. Schlimmer wäre es, man würde nie wissen, wie sich Sehnsucht anfühlt, denn dann würde man niemanden so sehr lieben, dass man sich nach ihm sehne.
Ich verstand das schon, aber was nützte das in dem Moment, wenn man wirklich Sehnsucht hatte? Das Gefühl war ja trotzdem da. Die Traurigkeit verschwand deshalb nicht.
Ich warf einen beiläufigen Blick auf das Unter uns. Die jungen Leute waren nicht mehr da. Es war jetzt ruhig in unserer Straße, nur ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Eine Frau ging mit einem kleinen Mädchen auf der anderen Straßenseite entlang. Sie blies Seifenblasen in die Luft. Der Wind war so kräftig, dass sie schnell in die Höhe flogen und dann gleich wieder zerplatzten. Ich ging vor der Haustür auf und ab und versuchte, einen größeren Kieselstein auf dem Rand des Gehsteigs zu balancieren. Der Stein rollte bis vor Traugotts Laden.
»Traugott!«, dachte ich freudig. Durch das Schaufenster sah ich, wie Traugott auf einer Leiter vor einem seiner Bücherregale stand und Bücher einsortierte. Traugotts Laden war noch offen und plötzlich war ich völlig erleichtert.
»Natürlich, ich gehe zu Traugott. Der wird mir bestimmt weiterhelfen.« Ich hob den Stein auf, steckte ihn in meine Hosentasche und öffnete die Tür. Dabei bemerkte ich, dass der Stein aussah wie ein kleines Herz.
***
Kapitel 4
Simon und ich lernten uns in einem Transferbus kennen. Unser Flug von Paris nach Wien wurde umgeleitet und wir landeten außerplanmäßig in Budapest. Der Schneefall war am Nachmittag so ergiebig und ausdauernd gewesen, dass der Flugbetrieb in Wien eingestellt worden war. Wir warteten ewig. Rund um mich herum, gab es nur fragende und aufgeregte Gesichter – und Simon. Simon wirkte so entspannt, dass sein fröhlicher Gesichtsausdruck inmitten der gereizten Menge fast schon unanständig erschien.
Die Leute waren ungeduldig und sahen immer wieder auf die Uhr. Wir wurden in zwei Busse verfrachtet. Simon stand hinter mir in der Schlange und als ich mich umdrehte, lachte er mich an. Sein Lachen war wie ein heller Lichtstrahl. Ich stieg ein und er setzte sich ganz selbstverständlich auf den freien Platz neben mir. Er teilte mit mir sein Salami-Sandwich und dazu zauberte er aus seinem Rucksack eine Flasche edlen Rotweins, die eigentlich für das Weihnachtsfest gewesen wäre.
»Budapest schauen wir uns ein anderes Mal an, einverstanden?«, sagte er und seine grünen Augen blitzten auf, während er mit einem Leatherman die Flasche öffnete. »Vielleicht im Frühling, wenn es wärmer ist?«
Es war unser erstes Date, vier Tage vor Weihnachten, vor fast zehn Jahren. Der Schnee fiel dicht und geräuschlos durch die dunkle Nacht und es war die schönste Transferfahrt meines Lebens.
Wir trafen uns am nächsten Abend und am Übernächsten und von da an schliefen wir keine Nacht mehr alleine. Auch nicht zu Weihnachten. Wir waren unwahrscheinlich ineinander verliebt, telefonierten drei Mal am Tag, kauften dieselben Winterhauben, gingen Schlittschuhfahren, verwechselten unsere Zahnbürsten.
Im Frühling fuhren wir nicht nach Budapest. Wir zogen in eine hübsche Wohnung ans andere Ende der Stadt mit einer kleinen Terrasse mit Blick ins Grüne und einem Kinderzimmer. So wie viele junge Paare es sich wünschen, wenn sie jung sind und Pläne schmieden. Wir waren glücklich und wünschten uns nur, zusammen alt zu werden.
Wir träumten von einer eigenen Familie und Kindern. Man braucht Gott nicht, wenn man glücklich ist. Man muss sich nicht an ihn wenden. Man vergisst ihn. Wenn die Sinne verwöhnt sind und es das Leben gut mit einem meint, vergisst man nicht nur Gott, sondern auch sich selbst.
Dann kam Nico und unser Glück war perfekt. Simon arbeitete mehr, weil die Verantwortung jetzt größer war, wollte mehr verdienen, arbeitete noch mehr und irgendwann waren wir weniger verliebt. Das geschah schleichend, ich weiß nicht mehr genau, wann es begonnen hat. Er war ein hervorragender Osteopath und seine Hände waren sanft und bewirkten Wunder. Und je mehr Wunder er vollbrachte, desto begehrter wurde ein Termin bei ihm.
Dann kam eine Fehlgeburt. Das Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Ich kam aus dem Krankenhaus und konnte nicht aufhören zu weinen. Simon legte seine Hände auf den Nacken einer der vielen Damen, die unter Verspannungen litten, während ich fast an meinen Tränen erstickte und mir nur wünschte, dass seine Hände mich umarmten. Mich, meinen Schmerz und meinen Bauch, der so leer war.
Die Damen mit den Verspannungen stellten sich an und wahrscheinlich wählte er eine aus. Ich roch das neue Rasierwasser, ich sah neue Hemden. Ich spürte sein schlechtes Gewissen, verstand die noch längeren Arbeitszeiten, die Einsilbigkeit seiner ausweichenden Antworten und wusste, dass er mich betrog.
Ich liebte Simon und ich liebte ihn wahrscheinlich auch noch, als er mir zu verstehen gab, dass wir ihn nur noch am Leben hinderten. Mein Kummer schien ihm erträglich. Ich hatte ihm meinen Schmerz auf eine für ihn erträgliche Art und Weise gezeigt. Ich schwieg und litt still vor mich hin. Und mein Schweigen kam einem Einverständnis gleich.
Nico nahm er in den letzten Wochen kaum noch mehr in den Arm, vermutlich, damit es ihm weniger wehtat, wenn er ging. Was für eine elende, verworrene Zeit!
Ich lege das Notizbuch zur Seite, gehe ins Badezimmer, halte meine Hände unter das kalte Wasser und wasche mir das Gesicht. Ich denke an Traugott. Alleine die Vorstellung seines Lächelns ist wie eine lindernde Umarmung. Traugott hat mich gelehrt, dass es nichts Zufälliges geben kann, dass es im Leben kein Versehen gibt und dass jede Schneeflocke zur rechten Zeit am rechten Ort landet. Simon und ich – wir waren nie wieder in Budapest.
Je mehr ich an Traugott denke, desto mehr kommen mir bruchstückhaft wieder seine Worte in den Sinn:
»Sei geduldig. Wer Geduld hat, versteht, dass er immer jetzt am richtigen Ort ist. Muße ist nicht Trägheit, genauso wenig wie Zufriedenheit Stagnation bedeutet. Wer Muße hat, ist reich, denn er hat immer ausreichend Zeit für das, was ihm das Leben jetzt gerade bietet.«
Traugott hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, auf die kleinen Dinge zu achten, die das Leben uns allen schenkt, und zu vertrauen, dass jeder so wie er ist geliebt wird. Er hatte mich aufgefordert, die Priorität meiner Werte zu überdenken und neu zu sortieren.
Ich setze mich auf das Sofa mit der beängstigenden Einsicht, wie wenig ich mich im Leben und mit mir selbst auskenne. Auf der dritten Seite von Traugotts Notizbuch findet sich nur ein Satz und ein Pfeil fordert zum Umblättern auf.
Know you are loved →
3. Notiz (die Erklärung dazu)
Es ist wirklich sehr einfach: Es gibt zwei Wünsche, nach deren Erfüllung alle Menschen permanent streben. Nur diese zwei. Und darum dreht sich die ganze Welt. Der eine ist der Wunsch nach Liebe und der andere der Wunsch nach Anerkennung.
All unser Streben lässt sich auf diese zwei Wünsche reduzieren. Jeder von uns will geliebt und anerkannt werden. Wir streben danach in einem Ausmaß, als würde unser Leben davon abhängen. Die Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich dieser beiden Wünsche mögen unterschiedliche Ausprägungen haben, die Wurzel ist jedoch immer dieselbe.
Du willst geliebt werden – so wie du bist, für das, was du bist. Und du suchst diese Liebe im Außen. Du willst sie