Traugott. Danielle Willert

Traugott - Danielle Willert


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      Ich verließ das Schulgebäude und Victoria sperrte das Haupttor zu. Wir verabschiedeten uns und gingen in unterschiedliche Richtungen.

      Ich ging zur U-Bahn Station. Den Weg kannte ich. Mit Rosie fuhr ich auch immer U-Bahn und inzwischen kannte ich alle Stationsnamen auswendig. Am Hauptbahnhof stiegen immer ganz viele Leute aus und für die letzten zwei Stationen fanden wir in der Regel einen Sitzplatz. Rosie saß lieber in der U-Bahn, ihr wurde immer so leicht schwindlig.

      Von der U-Bahn-Station aus musste ich noch ungefähr zehn Minuten zu Fuß bis zu unserer Straße gehen und die Hauptstraße überqueren. Auf dem Zebrastreifen sprang ich von einem weißen zum nächsten weißen Streifen. Wie immer, wenn ich über diesen Zebrastreifen ging, dachte ich mir ein Spiel aus: Wenn ich es schaffte, immer nur mit einem Fuß ausschließlich auf die weißen Felder zu springen, ohne die schwarzen zu berühren, würde ein spezieller Wunsch in Erfüllung gehen. Bevor ich den ersten Streife berührte, kniff ich kurz die Augen zu und wünschte mir: »Lass bitte meine Mama bald nach Hause kommen und alles ist gut!« Ich schaffte es und war beruhigt. Also würde sie bald kommen.

      Es war ziemlich windig, sodass meine Augen zu tränen begannen. Ich schirmte sie ab, hob meinen Blick und beobachtete die Wolken, die verschieden große Schatten auf die Dächer der Stadt warfen. Sie bewegten sich am Himmel mit einer unfassbaren Geschwindigkeit.

      Gemütlich schlenderte ich das letzte Stück über die Eisenbahnbrücke, blieb kurz stehen und schaute den Zügen nach, die unter mir durchfuhren. Ich ging weiter und sah schon von Weitem, dass vor dem Unter uns ein Rettungswagen stand, der kurze Zeit später mit Blaulicht an mir vorbeirauschte. Ich blickte ihm nach. Die kleine Menschenmenge, die sich vor dem Unter uns gebildet hatte, löste sich langsam auf.

      Ich ging die letzten Meter weiter und genoss es, alleine zu gehen. Wenn man alleine ging, konnte man über vieles nachdenken, ohne dass man jemandem zuhören musste. Ich mochte es nicht, wenn die Leute ununterbrochen redeten. Manche redeten Wortkilometer pro Minute, als würde ihr Leben davon abhängen, dass sie redeten. So schnell konnte ich gar nicht denken, wie manche redeten!

      Ich sah, wie Camille mit ihrem Lieferwagen in die Straße bog. Der Lieferwagen war unverwechselbar, ein ziemlich alter VW Bus, blassgrün lackiert, mit dem gleichen rosa Schriftzug wie über ihrem Blumengeschäft.

      Unsere Wohnung lag im vierten Stock eines auffallend schmalen und alten Hauses. 1891 stand oberhalb der Haustür, die so hoch und so schwer war, dass ich mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen lehnen musste, während ich den Schlüssel , um sie zu öffnen umdrehte. Das Schönste an unserer Wohnung war, dass wir weit über Wien sehen konnten. Glücklicherweise war das Münzamt viel niedriger als unser Haus und gab diesen wunderbaren Blick frei.

      Wir hatten auch einen kleinen Balkon zum Innenhof mit einem weißen Metalltisch und zwei Sesseln und jede noch so kleine freie Fläche hatte meine Mutter mit Blumentöpfen zugestellt.

      Ich lief die Treppen der vier Stockwerke bis zu unserer Wohnung hinauf, atmete tief durch und sperrte auf.

      »Mama, bist du da?«, rief ich. Stille. Eine beunruhigende Stille. Sie war nicht da. Natürlich war sie nicht da, sonst hätte sie mich ja abgeholt. Sie hätte ja aber auch in der Zwischenzeit kommen können!

      Ich stellte meine Schultasche ab, rannte drei Stockwerke wieder hinunter ins Mezzanin zu Rosie und läutete. Nichts rührte sich. Rosie war nicht zu Hause. Ich ging zurück in unsere Wohnung, setzte mich auf das Sofa und wartete. Ich horchte auf den Aufzug und auf die Geräusche der Straße. Wie lange ich so gesessen habe, weiß ich nicht mehr. Es kam mir jedenfalls wie eine Ewigkeit vor. Ewigkeiten können Minuten dauern oder auch Stunden und manchmal vielleicht sogar noch länger. Ich ging in mein Zimmer und überlegte, ob ich etwas spielen könnte, aber eigentlich hatte ich keine sonderliche Lust dazu. Um die Zeit zu überbrücken, aß ich den Rest von meinem Jausenbrot.

      Hier zu Hause war ich nicht mehr froh, alleine zu sein. Ich sehnte mich so sehr nach meiner Mutter. Wie gerne hätte ich in diesem Augenblick gespürt, dass sie mich in die Arme nahm. Zum ersten Mal stellt ich fest, dass Einsamkeit wehtun kann. Sie drückt so schwer auf die Brust und sticht im Herzen. Und das Erschwerende an der Einsamkeit ist: Sie lässt sich nicht mitteilen, weil ja niemand da ist.

      Draußen auf der Straße hörte ich ein lautes Lachen. Ich ging zum Fenster und schaute neugierig hinaus. Vor dem Unter uns standen ein paar junge Leute, die fröhlich waren. Komisch, dass mich die Fröhlichkeit der anderen in diesem Moment so bedrückte, wo sie doch sonst eher ansteckend wirkte. Einer der jungen Leute blickte zu mir hoch und lachte wieder laut auf. Mir kam es vor, als würde er mich auslachen, als würden sich die anderen da unten auf der Straße über mich lustig machen. Schlagartig stiegen mir die Tränen in die Augen. Schnell schloss ich das Fenster und verkroch mich wieder im Wohnzimmer.

      Wir hatten kein Festnetztelefon, sodass ich nicht einmal jemanden anrufen konnte. Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Mein Herz klopfte wie verrückt und ich wurde unruhig. Und immer, wenn ich unruhig wurde, begann eines meiner Beine zu zappeln. Ich bemerkte es, hielt es still und schon kurze Zeit später ging es wieder los. Dann holte ich mir einen Keks aus der Lade, knabberte ihn an und legte ihn wieder weg. Ich starrte auf die Uhr, aber die Zeiger bewegten sich kaum. Meine Mama kam nicht.

      »Was wäre, wenn sie nie mehr kommen würde?« Nie mehr war etwas, das mir abgrundtiefe Angst bereitete. Es war so endgültig. Etwas Schönes kam nie wieder. Ich fand diesen Gedanken schon damals schlimm.

      Wenn ich mir Fotos anschaute, kam oft das gleiche Gefühl in mir auf. Im Vorzimmer hingen an einer Magnetwand ganz viele Fotos von uns. Jedes Foto hielt nur einen ganz kurzen Augenblick fest, der auch nie wiederkam, auch wenn man versuchte, ihn mit dem Foto zu konservieren. Aber so wie auf dem Foto wird es nie wieder sein, denn die Geschichte dahinter ist vorbei.

      Ich ging zur Wand und schaute mir die Fotos an. Da hing auch ein Foto von meiner Mama im Alter von acht Jahren mit ihrer Oma und eines von mir im gleichen Alter mit meiner Omi daneben. Omi und ich haben die gleiche Pose eingenommen, so wie damals meine Mama mit ihrer Oma. Das war sehr lustig. Es war leicht, die gleiche Körperhaltung einzunehmen, aber den Gesichtsausdruck haben wir nicht so gut hinbekommen. Ich fand, meine Mama zeigte auf dem Foto ein trauriges Lächeln, meines war ein bisschen verschmitzter.

      Meine Uroma habe ich nie kennengelernt, sie starb, als meine Mama zehn war. Meine Uroma habe nie außerhalb von Österreich Urlaub gemacht, erzählte mir Mama einmal. Ganz schön traurig musste das sein, wenn man so lange auf der Welt war und nie das Meer mit seinen vielen Blautönen bewundern konnte oder den Eiffelturm oder die Blumenbilder von Monet.

      Die Stille in der Wohnung beunruhigte mich sehr. Ich hätte mir ein Hörbuch anhören oder den Fernseher einschalten können, aber mir war nicht danach. Ich war viel zu unruhig. Ich war so sehr damit beschäftigt, auf jedes Geräusch zu achten, zu lauschen, ob sie endlich kam, dass es mir unmöglich war, mich etwas anderem zu widmen. Ich aß meinen angeknabberten Keks auf. Dann nahm ich die Schlüssel, zog meine Jacke an und eilte hinunter auf die Straße. Im Vorbeigehen läutete ich noch einmal bei Rosie und wartete. Es blieb still.

      Nun stand ich vor der Eingangstür auf der Straße und schaute den Menschen zu, die vorbeigingen. Camilles Lieferwagen stand noch neben ihrem Blumengeschäft und sie lud zwei Zitronenbäumchen und vier große Töpfe mit rosa Hortensien ein. Unser Nachbar aus dem obersten Stock kam nach Hause. Als er mich sah, verzog er den Mund zu einem angedeuteten Lächeln und grüßte. Ich grüßte zurück. Er blieb kurz stehen und trällerte:

      »Mein Gott, du bist ja schon wieder gewachsen. Du bist ja schon eine junge Dame!« Ich lächelte verlegen, scharrte mit den Füßen am Boden und hüpfte dann von einem Bein auf das andere.

      Ich konnte es nicht leiden, wenn Erwachsene so einen zuckersüßen Ton anschlugen, sobald sie mit Kindern sprachen. Er hatte ein aufgesetztes Lächeln. Das merkte ich daran, dass die Augen beim Lächeln nicht mitstrahlen. Das lässt sich gut beobachten!

      Immer wieder im Leben begegnen einem Menschen, von denen man denkt, dass es nicht echt ist, wenn sie höflich sind. Wenn jemand so übertrieben höflich war und sich in seiner Liebenswürdigkeit fast überschlug, verunsicherte mich das, es wirkte


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