Achtsame Spiele. Susan Kaiser Greenland

Achtsame Spiele - Susan Kaiser Greenland


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uns daran erinnern müssen, was das ist, oder sogar zugeben müssen, dass wir im Augenblick keine Ahnung haben, da wir den Faden, den Sinn und die Richtung in unserem Leben so leicht verlieren. Aber sogar in den aufreibenden, manchmal schrecklichen Momenten als Eltern können wir bewusst einen Schritt zurücktreten und von vorne anfangen und uns fragen, wie zum ersten Mal und mit frischem Blick: „Was ist hier wirklich wichtig?“

      Jede Erfahrung ist einzigartig, und die Ursachen und Umstände, die einen jeden Moment hervorbringen, sind unzählig. Selbst wenn die Kinder eine Erfahrung aus allen erdenklichen Blickwinkeln betrachten, so gut es ihnen möglich ist, können sie niemals alle Perspektiven erfassen. In seinem Buch Rückkehr zur Menschlichkeit weist der Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt Tibets, darauf hin, dass wir nie das gesamte Bild sehen, egal, wie sehr wir uns auch bemühen. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was er damit meint, nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, um über das erstaunliche Netz sich verändernder Ursachen und Umstände nachzudenken, die diesen Moment hervorgebracht haben. Wären Ihre Eltern sich nie begegnet, wären Sie nicht geboren worden. Wären Ihre Großeltern sich nicht begegnet, hätten Ihre Eltern nicht das Licht der Welt erblickt – und Sie wären ebenso wenig hier. Generation um Generation sind Ihre Vorfahren sich begegnet und haben ein Kind bekommen, das zu einem von unzähligen Verbindungsgliedern in einer Reihe von kausalen Zusammenhängen wurde, die es schließlich möglich macht, dass Sie jetzt dieses Buch lesen. Falls Sie nicht zufällig mit mir blutsverwandt sind, bestehe ich aus Ursachen und Umständen, die einem völlig anderen Stammbaum als dem Ihren entspringen. Wenn nicht all meine Vorfahren gelebt, geliebt und Kinder bekommen hätten, könnten Sie dieses Buch nicht lesen, weil ich nicht hier wäre, um es zu schreiben. Ganz egal, ob Sie und ich nun aufgrund eines göttlichen Planes, eines zufälligen Glückstreffers oder irgendetwas dazwischen hier sind – unser Planet, mit allem und allen sich darauf Befindenden, ist ein sich permanent veränderndes, miteinander verbundenes und mysteriöses Puzzle. Der Dalai Lama findet im Hinblick auf diese potenziell überwältigenden Gedanken tröstliche Worte und sagt, dass die menschliche Urteilsfähigkeit immer unvollständig bleibt, egal, wie sehr wir uns auch bemühen. Falls wir nicht gerade hellsichtig oder allwissend sind – wie Buddha oder Gott –, würden wir nie das vollständige Bild sehen und niemals alle Ursachen kennen, die eine jede beliebige Situation bedingt haben. Genauso wenig könnten wir alle Konsequenzen unserer Handlungen voraussehen. Es würde immer irgendeinen Unsicherheitsfaktor geben. Es sei daher wichtig, dies anzuerkennen, aber wir sollten uns keine Sorgen darüber machen. Noch weniger sollte es uns veranlassen, am Wert rationaler Beurteilung zu zweifeln. Stattdessen sollte es unsere Handlungen durch angemessene Bescheidenheit und Vorsicht mäßigen. Und dass wir eine Antwort nicht kennen, könnte zugegebenermaßen manchmal auch sehr hilfreich sein.

      Selbst für kleine Kinder, die das wahnwitzige Geflecht von Ursachen und Umständen, die einen jeden Moment hervorbringen, noch nicht verstehen können, ist die Ungewissheit weniger bedrohlich, wenn sie sich mit dem Gedanken anfreunden, dass sie nicht auf alle Fragen eine Antwort haben müssen. In Annaka Harris’ Bilderbuch I Wonder, mit Illustrationen von John Rowe, gehen Eva und ihre Mutter in einer mondhellen Nacht durch den Wald. Als die Mutter Eva etwas fragt, ist Eva verlegen, weil sie die Antwort nicht weiß. Doch die Mutter beruhigt Eva: „Es ist in Ordnung, ‚ich weiß nicht‘, zu sagen.“ Schließlich wissen auch Eltern nicht auf alle Fragen eine Antwort. Ermutigt durch ihr neu entdecktes Selbstvertrauen, lässt Eva ihrer Kreativität freien Lauf und stellt eine Frage nach der anderen: „Wie machen der Mond und die Sonne das, dass sie nahe beieinander bleiben?“ – „Sind sie Freunde?“ – „Wo war der Schmetterling, bevor er mich besuchen kam?“ Anstatt sich angesichts der Ungewissheit schlecht zu fühlen, findet Eva die Geheimnisse des Lebens, die sie mit ihrer Mutter gemeinsam erkunden kann, nun aufregend.

      Im folgenden Spiel dürfen jüngere Kinder raten, was sich in einer mysteriös aussehenden Kiste befindet. Die geheimnisvolle Kiste ist ein spielerisches Sprungbrett in Gespräche darüber, wie es ist, etwas Neues zu beginnen, die Antwort auf eine Frage nicht zu kennen und nicht zu wissen, was als Nächstes geschehen wird. Zur Vorbereitung füllen Sie die geheimnisvolle Kiste mit kleinen Gegenständen, so dass die Kinder es nicht sehen, und platzieren die geschlossene Kiste dann in nicht allzu weiter Distanz vor den Kindern.

      Die geheimnisvolle Kiste

      Wir raten, was sich in einer geheimnisvollen Kiste befindet, und nehmen wahr, wie es sich anfühlt, wenn uns eine Frage gestellt wird und wir die Antwort nicht kennen.

LEBENSKOMPETENZEN:ZIELALTER:
Wahrnehmen, umdeutenJüngere Kinder

      SPIELANLEITUNG

      1. Lasst uns raten, was in der geheimnisvollen Kiste ist. Hören Sie sich die Vermutungen der Kinder an.

      2. Gesprächsthemen: Wie fühlt es sich an, nicht zu wissen, was in der Kiste ist?

      Fühlt ihr euch aufgeregt? Frustriert? Oder anders?

      3. Nehmt die Kiste und befühlt sie, schaut sie euch an und schüttelt sie – aber öffnet sie nicht. Habt ihr noch mehr Vermutungen darüber, was sich in ihrem Inneren befinden könnte?

      Hören Sie sich die Vermutungen der Kinder an.

      4. Lasst sie uns öffnen und nachsehen.

      5. Gesprächsthemen: Wie fühlt es sich an, wenn ihr nicht wisst, was als Nächstes geschehen wird? Probiert ihr gerne neue Sachen aus oder möchtet ihr lieber nichts Neues ausprobieren? Wie ist es, mit einer Sache zu rechnen, dann aber eine andere vorzufinden? Wie fühlt ihr euch, wenn ihr auf etwas warten müsst (darauf, ein Geschenk aufzumachen, einen Freund zu Hause zu besuchen oder mit dem Schaukeln an der Reihe zu sein)?

      TIPPS

      1. Vorschläge für den Inhalt der Kiste: Büroklammern, Blumen, Luftballons, Legosteine oder Radiergummis.

      2. Bei sehr kleinen Kindern ist es sinnvoll, ihnen Beispiele von Dingen zu nennen, die sich in der Kiste befinden könnten, bevor sie zu raten anfangen.

      3. Lassen Sie die Kinder sich dabei abwechseln, etwas in die Kiste zu legen, während die anderen raten.

      Das große Bild erinnert ältere Kinder und Jugendliche daran, dass sie zwar Nachforschungen anstellen und alles, was sie in Erfahrung gebracht haben, abwägen können, bevor sie zu einer Schlussfolgerung kommen, aber mitunter trotzdem noch nicht genügend Informationen haben, um eine Frage richtig zu beantworten. Es ist hilfreich, den Kindern vor dem Spiel das folgende Bild zu zeigen, auf dem einige Menschen mit geschlossenen Augen verschiedene Teile eines Elefanten berühren.

      Das große Bild

      Wir stellen uns vor, wie es wäre, wenn wir raten, um was es sich bei einer Sache handelt, indem wir nur einen Teil davon mit geschlossenen Augen berühren. Wir lernen dabei, dass das, was wir glauben, von den Informationen abhängt, die wir haben.

LEBENSKOMPETENZEN:ZIELALTER:
Wahrnehmen, umdeutenÄltere Kinder, Jugendliche (mit einer Modifikation für jüngere Kinder)

      GESPRÄCHSANLEITUNG

      1. Was wäre, wenn ihr einen Teil eines Elefanten mit geschlossenen Augen berühren und raten solltet, was ihr da berührt? Könntet ihr es erraten?

      • Wenn ihr nur den Rüssel des Elefanten berühren würdet, was würdet ihr denken, worum es sich handelt? (Tipp: Der Rüssel des Elefanten ist lang und rund wie eine Schlange oder ein Schlauch.)

      • Wenn ihr nur ein Bein des Elefanten berühren würdet, was würdet ihr denken, worum es sich handelt? (Tipp: Das Bein des Elefanten ist groß und rund wie ein Baumstamm.)

      • Wenn ihr nur einen Stoßzahn des Elefanten berühren würdet, was würdet ihr denken, worum es sich handelt? (Tipp: Der Stoßzahn des Elefanten ist scharf wie ein Messer.)

      • Wenn ihr nur das Ohr des Elefanten berühren würdet, was würdet ihr denken, worum es sich handelt? (Tipp: Das Ohr des Elefanten ist dünn und breit


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