Die vier Ebenen des Glücks. Ayya Khema
bleibt so, wie es ist. Es gibt wenig Menschen, die daran zweifeln, dass sich alles ständig verändert. Allein jeder Atemzug, jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Bewegung, unser Körper – alles ist in ständiger Bewegung, man könnte sogar sagen in ständigem Aufruhr. Weil uns das eigentlich gar nicht passt, sind wir schon allein darum niemals völlig zufrieden. Im Prinzip wollen wir das Universum und die Naturgesetze unseren Wünschen anpassen, aber genau das Gegenteil ist nötig. Wir lernen, uns den Naturgesetzen anzupassen.
Das Angstgefühl, die geliebten Personen zu verlieren, schließt das Kennenlernen der wahren Liebe aus. Das wirkliche Problem, das wir mit Liebe haben, ist, dass Liebe ein Reinheitsgefühl in unserem Herzen ist und nicht eine Bestätigung unseres Wertes. Unser ganzer spiritueller Weg hängt davon ab, dass wir die vier »heilenden«, »heilsamen«, »heiligen« Emotionen in uns entwickeln. Wenn wir die Liebesfähigkeit des Herzens nicht erwecken und sie so entwickeln, dass wir unabhängig lieben, dann ist unser Pfad blockiert, weil die Reinheit des Herzens und die Unabhängigkeit von Zuwendung notwendig sind, um das Anhaften zu mindern und eines Tages loszulassen.
Die Freiheit, die der Buddha uns versprochen hat, das absolute Ende jeglichen Dukkhas, bedeutet: nicht anhaften. Das Wort Nibbāna bedeutet wörtlich übersetzt »nicht brennen«, aber hängt von Nicht-Anhaften ab. Wir lernen, uns nicht mehr mit gewissen Emotionen, Menschen und Situationen zu identifizieren. Solange wir eine Liebesbeziehung zu einer Person haben und der Rest der Welt uns nicht zu sehr stört, merken wir nicht, dass wir die wahre Liebe noch nie kennengelernt haben. Diese eine Person mag uns sehr wichtig sein, wir mögen sie sehr liebenswert finden, wir sind sehr froh, dass sie da ist, aber die wahre Liebe haben wir noch nicht kennengelernt.
Wahre Liebe bedeutet, die Fähigkeit des Herzens, die jeder besitzt, entwickelt zu haben. Es ist nicht so, dass wir etwas entwickeln müssten, was noch nicht vorhanden wäre. Das wäre sehr kompliziert und schwierig und kaum denkbar. Aber Liebesfähigkeit hat jeder und kennt sie. Wir haben sie auch alle schon ein oder mehrere Male erlebt. Eine Liebesbeziehung kann daher als ein Samenbeet angesehen werden, als ein Auslöser und ein Erkennen, wie es sich anfühlen würde, wenn wir die Liebe im Herzen so entwickeln, dass wir sie immer fühlen.
Vielleicht können wir uns erinnern, wie wir uns das erste Mal verliebt haben. Das war doch grandios! Alles sah viel schöner aus. Das einzige Hindernis war die Angst, dass es nicht funktionieren würde, und wir haben uns dadurch sehr unsicher gefühlt. Was sollte eigentlich funktionieren? Vor allem wohl die Gegenliebe, das war die Hauptsache. Aber trotz der Angst war das Gefühl der ersten Liebe absolut glückbringend. Wir hatten das Gefühl, als wären wir zwanzig Pfund leichter geworden und könnten springen statt gehen, fühlten uns also leicht beschwingt. Das könnten wir immer fühlen, ohne die Angst, dass wir nicht wiedergeliebt werden.
Wieso wollen wir uns nicht einmal auf diesen Pfad begeben? Es ist doch reine Unvernunft, darauf zu warten, dass ein anderer uns wiederliebt. Was bedeutet es denn überhaupt, von jemandem geliebt zu werden? Doch nichts anderes, als dass wir in den Augen dieses Menschen liebenswert erscheinen. Dann ändert dieser Mensch seine Ansicht, und wir sind nicht mehr liebenswert. Wieso eigentlich? Hundertprozentig liebenswert ist nur ein Erleuchteter, alle anderen Menschen kämpfen mit den fünf Hindernissen, die uns allen das Leben erschweren. Dennoch machen wir uns davon abhängig, ob ein anderer Mensch zustimmt, dass wir trotz unserer Fehler liebenswert sind. Es ist keine Frage, dass wir trotzdem liebenswert sind. Wir brauchen niemanden, der uns das bestätigt. Das können wir selbst empfinden. Und wie geschieht das? Ganz einfach: Indem wir lieben, und nicht danach suchen, geliebt zu werden. Die ganze Menschheit macht diesen Fehler, und dann entstehen Kummer und Trübsal, wenn Freundin oder Freund uns verlassen und wir uns einsam und zurückgesetzt fühlen. Wozu das alles! Das wird bestimmt nicht unsere Liebesfähigkeit vergrößern.
Wenn wir das Gefühl der bedingungslosen Liebe in uns wirklich zur Blüte bringen und in uns verankern, dann braucht uns niemand zurück zu lieben. Im Gegenteil, wenn wir selbst lieben, dann brauchen wir keine Bestätigung dafür.
Man könnte das vielleicht mit einem intelligenten Geist vergleichen. Suchen wir ständig jemanden, der uns sagt: „Du bist aber sehr intelligent!“ oder: „Das ist ja fabelhaft, wie du Kopfrechnen kannst!“? Wir können es und tun es, soweit es uns möglich ist. Wir benutzen unsere Intelligenz für alles Notwendige, egal, ob uns jemand bestätigt, es sei fabelhaft oder nicht, eben nur, weil es unserer Fähigkeit entspricht. Mit der Liebe ist es genauso, weil wir die Fähigkeit haben zu lieben.
Der Buddha hätte dies nie als die zweite Ebene des Glücks bezeichnet, wenn wir nicht das Potenzial dazu in uns hätten. Er hat Menschen, genau wie wir es sind, gelehrt, die all diese Fähigkeiten in sich trugen und auch verwirklichen konnten, wenn sie in Hingabe, Respekt und Ehrerbietung den Anweisungen gefolgt sind. Wir können auch bei uns heute erleben, dass diejenigen, die den Anweisungen folgen, eine deutlich gefestigtere Ebene des Glücks finden, weil sie sich mit einem höheren Ideal identifizieren können, das weit hinausgeht über die Marktplatzebene, in der wir leben. Solange wir genauso viel zurückbekommen wollen, wie wir geben, ist auch die Liebe noch auf der Marktplatzebene. Sehr häufig ist es auch bei Beziehungen so, dass keiner mehr Liebe geben will als der andere, weil er sich sonst übervorteilt oder geschädigt fühlt. Kann man wirklich Liebe auf eine Waagschale legen?
Wir müssen auch mit unseren Beurteilungen und Verurteilungen vorsichtig sein, denn wir können nur das erkennen, was wir selbst in uns tragen. Alles andere ist uns verschlossen. Wenn wir also über jemanden in irgendeiner negativen Weise urteilen, dann können wir sicher sein, dass wir die gleiche Schwierigkeit in uns haben, sonst würden wir sie gar nicht erkennen. Ein Mensch, der lieben kann, spürt die Liebesfähigkeit in anderen Menschen. Sie muss nicht auf ihn persönlich ausgerichtet sein. Das ist die Hauptsache bei dem Erlernen der Liebe. Wenn wir uns auf Persönlichkeiten fixieren, so begrenzen wir unsere Liebesfähigkeit so stark, dass das spirituelle Wachstum unterbrochen und unterbunden wird. Jede Begrenzung, die wir uns auferlegen, egal welcher Art, behindert unsere Entwicklung.
Im Allgemeinen ist es so, dass wir die Menschen, von denen wir glauben, dass sie »mein« sind (meine Kinder, meine Frau, mein Mann, meine Eltern, mein Freund, meine Freundin), in eine Spezialkategorie einteilen und auch fähig sind, zu ihnen wirklich liebevoll zu sein. Je liebevoller wir die Menschen dieser Kategorie behandeln, desto leichter sollte es uns fallen, diese Spezialkategorie aufzulösen. Unsere Liebe in einer Schublade für besondere Menschen aufzuheben, ist nicht sehr vernünftig. Diese Einteilung nutzt uns nichts auf dem spirituellen Pfad. Sie ist zwar allgemein auf der Marktplatzebene anerkannt und je größer die Anhänglichkeit, desto mehr »lieben« wir angeblich. Das stimmt aber leider überhaupt nicht.
Wenn wir unser Herz begrenzen und einteilen in die, die wir lieben, und die anderen, die uns im Prinzip ganz gleichgültig sind, dann haben wir eine ganz deutliche Unterscheidung. Diese Unterscheidung besteht dann in allen Bereichen unseres Lebens. Gleichgültigkeit ist ein großes Hindernis und wird der nahe Feind von Gleichmut genannt, wogegen Gleichmut einer der Erleuchtungsfaktoren ist. Wenn uns also klar geworden ist, dass wir an sich lieben könnten, dann ist die Zeit gekommen, um das zu üben. Es gibt überhaupt nichts anderes als üben.
Natürlich können wir erst einmal lieben üben mit den Menschen, die uns etwas liebenswert erscheinen, die uns näher stehen und bei denen es einfacher ist. Dann üben wir mit denen, die uns schwieriger erscheinen, und am Ende mit denen, die wir ablehnen. Menschen zu lieben, die wir aus irgendeinem Grund ablehnen, ist dann der Schwerpunkt, der Beweis, ob wir lieben gelernt haben oder nicht. Wir haben alle tagtäglich Konfrontationen, und lieben bedeutet nicht, sich alles gefallen zu lassen. Es bedeutet vielmehr, dass wir lieben können, obwohl wir ganz deutlich sehen, dass vieles nicht in Ordnung ist. Wir brauchen das Verbrechen nicht anzuerkennen, im Gegenteil, wir können sehen und verstehen, dass es ein Verbrechen ist. Aber den Verbrecher, der dahinter steckt, können wir trotzdem lieben. Das stellt das erreichbare Ideal dar.
Wie wissen wir, ob wir lieben? Wir können immer wieder auf unsere Liebesbeziehungen zurückgreifen und den Unterschied zwischen dem Gefühl diesem einen und allen anderen Menschen gegenüber erkennen. Das ist eine einfache Art und Weise, uns zu verdeutlichen, ob wir überhaupt lieben. Wenn wir zum Beispiel eigene Kinder haben, ist es leicht, dies zu überprüfen. Wenn unser eigenes Kind ein