Die vier Ebenen des Glücks. Ayya Khema
wir das spirituelle Leben nicht in unseren Alltag integrieren können, dann haben wir es noch nicht verinnerlicht. Wir müssen lernen, Verluste zu akzeptieren, weil wir wissen, dass uns am Ende unseres Lebens sowieso nichts übrig bleibt. Wir müssen üben, uns mit anderen Menschen genauso zu verbinden wie mit denen, die uns besonders wichtig sind. Wieso sind uns einige denn wichtig und andere vollkommen gleichgültig? Weil die wichtigen Menschen uns helfen und unterstützen, also unsere Ichbezogenheit verstärken. Diejenigen, die uns gleichgültig sind, beschäftigen sich mit ihren eigenen Interessen und gehen uns nichts an. Aber wenn es uns nicht möglich ist, unser Herz einmal so zu erweitern, dass wir viele Menschen mit einbeziehen können, dann ist unser Weg blockiert. Wir kennen das Glücksgefühl der Liebe. Wieso kümmern wir uns nicht darum? Wieso benutzen wir so oft und so unnötigerweise das Hass- oder Ablehnungsgefühl? Das beglückt niemanden, weder uns selbst, noch diejenigen, die wir ablehnen, noch die Welt um uns herum.
Es ist erlebbar, dass es ein universelles, kosmisches Bewusstsein gibt. Alles, was wir denken und empfinden, breitet sich um uns herum aus. Es gibt ein altes Lied: „Gedanken sind zollfrei.“ Das stimmt überhaupt nicht, wir müssen überall Zoll bezahlen. Jeder Gedanke, jedes Gefühl fließt aus uns heraus, und wir bekommen den Widerhall. Das sind die Ausstrahlungen, die ein Mensch hat, von denen wir ja oft reden und hören. Aber wissen wir auch, dass wir sie selbst haben und kümmern wir uns darum? Wir spüren vielleicht unsere eigenen nicht, aber wir spüren sie bei jedem anderen. Was sind diese Ausstrahlungen? Hass oder Liebe, Hilfsbereitschaft oder Gleichgültigkeit erwecken Herzenswärme oder Kälte, was leicht zu merken ist, genau wie Sonnenschein oder Schneestürme uns berühren. Wenn wir die Idee haben, anderen helfen zu wollen und dazu beitragen wollen, dass die Welt in Frieden lebt, dann haben wir keine andere Wahl, als erst einmal uns selbst zu helfen, inneren Frieden zu schaffen und das Glücksgefühl der Liebe in uns zu fördern. Wenn wir das getan haben, können wir es auch ausstrahlen, und die Umwelt um uns herum, die Menschen, die nahe sind, werden von dieser Ausstrahlung beeinflusst. Wir selbst sind mit Liebe angefüllt.
Wenn uns jemand liebt, dann erleben wir nichts anderes als Selbstbestätigung und spüren noch lange keine Liebe in uns und strahlen sie auch nicht aus. Vielleicht sind wir in der Lage zu lieben, wenn ein spezieller Mensch vorhanden ist, was häufig der Fall ist. Das Glück unseres Herzens kann uns jedoch nur anfüllen, wenn es unabhängig ist. Abhängigkeit ist gleichbedeutend mit Unfreiheit. Der spirituelle Weg führt zur Freiheit, zur Freiheit von jedem Druck, jedem Stress, führt zum Loslassen von allem, was wir glauben, haben zu müssen, um unser Ich zu bestätigen.
Nun begegnen wir hier auch wieder einer Schwierigkeit, die für intelligente Menschen immer hochkommt; es ist einfach kaum zu vermeiden. Wir können das alles hundertprozentig verstehen und dem auch zustimmen. Aber können wir es tun? Können wir in unser Herz hineinschauen und erkennen, was wir empfinden? Wenn wir negativ oder ablehnend reagieren, in irgendeiner Weise nicht liebend, so ist die Freude des Erkennens und die Möglichkeit des Ersetzens gegeben. Wir merken auch ganz deutlich, dass wir nicht glücklich sind, wenn wir lieblos empfinden.
Am Abend jedes Tages können wir Bilanz ziehen: Wie oft am Tage habe ich geliebt? Wie oft war ich ablehnend oder gleichgültig? Wie oft war ich glücklich? Wie oft schien mir alles neutral, und wie oft fühlte sich die Stimmung grau an und wurde immer grauer, trotz der herrlichen Landschaft, trotz des brillanten Sonnenscheins? Die Gemüter der Menschen sind im Allgemeinen grau. Ab und zu fällt ein Sonnenstrahl hinein und dieser Sonnenstrahl heißt Liebe. Und weil wir glauben, dass dieser Sonnenstrahl von der Sonne abhängig ist, das heißt von irgendeinem Menschen, bringen wir uns in ein Abhängigkeitsverhältnis. Von den Emotionen anderer Menschen abhängig zu sein, ist eine Katastrophe, denn wir schwanken ja schon durch unsere eigenen Emotionen. Abhängigkeit erzeugt ein Gefühl, als ob wir ein Blatt wären, das vom Wind hin und her gerissen wird. So können wir nie zur Ruhe kommen. Lieben möchte im Prinzip jeder, aber verwechselt das mit Geliebtwerden. Es ist eine ganz wichtige Unterscheidung, die man nur im eigenen Gefühlsleben erkennen kann.
Wenn wir jetzt lernen wollen, unabhängig, bedingungslos und unpersönlich zu lieben, so bedeutet das nicht, dass wir dann die einzelnen Personen, die angeblich »mein« sind, nicht mehr lieben können. Im Gegenteil, wir können sie so lieben, dass sie total frei von jedem Druck sind und von jeglicher Erwartungshaltung unsererseits. Dann können wir einmal spüren, was es bedeutet, das Gefühl der Liebe im Herzen wirklich entwickelt zu haben. Es bedeutet Herzenswärme, die umarmend und beschützend ist. Der Buddha hat sie mit Mutterliebe verglichen, ein Wort, das bei uns leider auf Ablehnung stoßen kann. Liebe ist ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Annäherung, des Akzeptierens, des Wirklich-Da-Seins. Es muss nicht unbedingt körperliche Anwesenheit mit einschließen, wir können auch auf weite Entfernungen hin lieben. Wir müssen nicht nur mit denen üben, die vor uns stehen. Aber am Anfang sind unsere Übungsobjekte diejenigen, die uns am nächsten sind, bei uns im Haus wohnen, in unserer Familie oder Gemeinschaft. Es ist ein wunderbares Projekt, diese Menschen bedingungslos zu lieben, vor allen Dingen dann, wenn sie etwas sagen, was uns nicht passt. Das ist eine ganz herrliche Aufgabe und Lernsituation! Es kann jeder, nur macht es fast keiner.
Wir können lernen, alle Menschen zu lieben, ganz gleich, was sie sagen. Sie sagen nämlich fünf Minuten später wieder etwas ganz anderes. Wir brauchen nur ein bisschen Geduld, und schon ist das ganze Ärgernis vorbei. Das heißt, auch uns selbst zu verlangsamen. Wir machen langsame Gehmeditation, wir haben keine Eile, irgendwo hinzukommen. Wir können ruhig langsam sein und schaffen dennoch alles. Was haben wir denn eigentlich zu schaffen? Wir sind alle auf dem Weg zum Friedhof, wozu die Eile? Wir kommen garantiert hin, ob wir uns beeilen oder nicht. Wir haben also zuerst einmal die Übungsobjekte, die bei uns im Hause wohnen. Und wenn der Geist sagt: „Aber das ist ja nun eine Nummer zu groß, da ist einer, den man unmöglich lieben kann!“ Nicht glauben! Der Geist erzählt alles Mögliche. Und sehr häufig erzählt er Unsinn. Die Liebesfähigkeit ist nicht davon abhängig, was Menschen sagen, wie sie aussehen, ob wir sie schön oder hässlich finden, ob sie uns lieben, ob sie von uns geliebt werden wollen, nichts davon! Die Liebesfähigkeit im Herzen ist vergleichbar mit der Intelligenz im Geist. Sie ist entwickelbar.
Wir können immer wieder unsere Umwelt als Spiegel benutzen und erkunden, wieso etwas geschehen ist, und was wir damit zu tun haben. Was immer auch geschieht, wenn wir lieblos sind – und das sind wir alle häufig genug – empfinden wir die anderen Menschen auch als lieblos. Wir haben einfach nicht die Aufnahmefähigkeit und können gar nicht spüren, dass da Liebe herrscht. Genau, wie wir nicht einen Erleuchteten empfinden können, weil wir selbst nicht erleuchtet sind. So machen wir sehr oft Riesenfehler mit unserer Beurteilung und Verurteilung, und es wäre viel besser, wenn wir davon Abstand nehmen und einfach die Liebesfähigkeit immer mehr und mehr in uns entwickeln würden.
Jeder Mensch, den wir treffen, bietet uns die Möglichkeit dazu. Vielleicht sollten wir erst mit denen, die nicht so schwierig sind, von denen wir glauben, dass sie ganz vernünftig sind, anfangen. Sie haben keine enge Verbindung zu uns, sind weder Freunde noch Verwandte, sondern einfach Menschen, die wir sehen oder sprechen. Zum Beispiel der Kassierer oder die Kassiererin im Supermarkt. Wir können versuchen, diesen Menschen wirklich zu lieben und dasselbe Gefühl für ihn zu entwickeln, das wir für den einen speziellen Menschen in unserem Leben haben. Wir merken dabei sofort, was da für ein Unterschied besteht und wieviel Mühe es uns kostet, liebende Gefühle hervorzubringen. Und dann sagt der Geist natürlich: „Diesen Menschen kenne ich doch gar nicht, wie kann ich da lieben!“
Es handelt sich um unpersönliche Liebe, bedingungslose Liebe, die Fähigkeit des Herzens, von Selbstbezogenheit und Anhaften loszulassen und in die Weite zu gehen. Es handelt sich nicht darum, ob wir die Kassiererin kennen oder nicht oder vielleicht den Postboten. Er bringt die Post, legt sie hin, und wir sagen höflich, je nachdem, wo wir leben, „Guten Tag“ oder „Grüß Gott“ und bezeugen mit Ton und Körpersprache unsere Gleichgültigkeit. Mit diesen beiden Beispielen ist es vielleicht gar nicht so schwierig zu üben, weil diese beiden Menschen im Allgemeinen gar nichts Unangenehmes an sich haben. Dass wir im Supermarkt bezahlen müssen, haben wir vorher gewusst, und dass der Postbote kommt, haben wir auch gewusst, also ist nichts Unerwartetes oder Bedrückendes geschehen.
Aber es kann geschehen, dass wir mit jemandem zusammenkommen, der uns total unerwartet Vorwürfe macht. Wir sind überrascht,