Die vier Ebenen des Glücks. Ayya Khema
größeres Lernobjekt. Was machen wir damit? Wenn es uns nicht gelingt, dieses Examen zu bestehen, müssen wir das nächste Mal wieder probieren, das schadet nichts. Aber vor allen Dingen müssen wir wissen, dass unpersönliche Liebe für jeden erlernbar ist.
Die Liebende-Güte-Meditation ist ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck an sich. Wenn wir bei der Liebenden-Güte-Meditation etwas empfinden, so ist das hilfreich und förderlich. Sollten wir nichts empfinden, so schadet das am Anfang auch nichts! Je öfter wir den Geist in eine bestimmte Richtung lenken, desto leichter kommen die Empfindungen. Daher soll der Denkprozess auch in die Richtung der unpersönlichen Liebe gehen. Wenn wir uns vorstellen, wie viele Menschen auf diesem Erdball leben, die wir alle gar nicht kennen und die wir lieben sollen, so ist das nicht so schwierig, weil sie noch nie etwas zu uns gesagt oder getan haben, was unsere Ichbehauptung irgendwie in Frage gestellt hat.
So ist es verhältnismäßig einfach, Menschen im fernen Afrika oder China zu lieben. Aber lieben wir sie wirklich oder ist das nur ein Wort? Das Wort muss Gefühl werden. Bei der Liebenden-Güte-Meditation können es am Anfang nur Worte sein, aber sie verwandeln sich eines Tages in ein Gefühl. So müssen wir immer wieder üben, bis das stattfindet. Das Liebesgefühl ist ausfüllend und daher auch in gewisser Weise erfüllend. Menschen, die einen tiefen Glauben haben, der mit Liebe verbunden ist, haben häufig das Gefühl der Erfüllung. Sie brauchen nicht weiter zu suchen, denn die Liebe zu ihrem Glauben erhebt sie schon aus der Alltagsebene. Der Buddha hat gesagt, dass wir durch die unpersönliche, bedingungslose Liebe, wenn sie immer vorhanden ist, erleuchtet werden können, aber ohne sie den Weg nicht finden.
Es ist meistens nicht der Fall, dass wir ausschließlich diesen Übungsweg einschlagen. Im Westen würden wir wahrscheinlich nicht nur den Weg der geläuterten Emotionen gehen, sondern würden das mit dem Weg der Einsicht, des Klarblicks verbinden. Aber die Möglichkeit besteht, nur den Weg der Emotionen als spirituelle Läuterung zu benutzen. Wenn wir uns eingeredet haben, dass wir im Prinzip niemanden hassen, so kann das sehr leicht stimmen. Wieso sollten wir auch? Keiner hat uns etwas angetan. Aber das ist ja gar nicht die Frage, sondern stattdessen: Wie viele Menschen lieben wir? Das ist der Kernpunkt der Praxis. Oft ist dieses Gefühl, keinen zu hassen, nichts anderes als Gleichgültigkeit, da die meisten Menschen uns nichts angehen. Also wieso sollten wir sie hassen? Das Gefühl der Zusammengehörigkeit wird durch die Meditation gestärkt und auch erlebt. Aber wir können nicht darauf warten, die Meditation soweit zu bringen, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl ein Erlebnis wird. Wir müssen jetzt schon anfangen, es zu praktizieren.
Da hilft uns vielleicht auch wieder einmal die Vernunft. Wir kommen uns doch so vor, als wären wir alle separat. Jeder sitzt auf seinem eigenen Kissen, jeder hat einen begrenzten Körper und natürlich auch einen abgegrenzten, eigenen Geist, was alles »Ich« oder »mein« heißt. Alle anderen heißen »Du«, sind also separiert von »Ich«. Es geht schließlich um mein eigenes Glück. Aber in der Abgrenzung und dem Sich-Separieren ist auch das Glück der bedingungslosen Liebe nicht zu finden. Dieser Dualismus bringt nicht die Erweiterung und Ausdehnung des Herzens mit sich und auch nicht dieses Gefühl der Zusammenge hörigkeit, dass es endgültig keinen anderen gibt, sondern einfach nur eine Fähigkeit des Liebens.
Die Vernunft sagt uns: Unsere Wissenschaftler haben schon vor Jahrzehnten entdeckt, dass es keinen einzigen soliden Bauklotz im ganzen Universum gibt, inklusive uns selbst, denn wir gehören mit dazu. Das steht allerdings nicht in ihren Büchern, da es vielleicht etwas schwer zu verinnerlichen ist. Alle Materie besteht aus Energieteilchen, die zusammenkommen und wieder auseinanderfallen. Diese vereinigen sich auch nicht in der gleichen Form wieder, wie sie vorher waren, sondern nur ähnlich. Da das ständig passiert, bekommen wir den Eindruck, als wären wir separate Einheiten.
Wir wollen zum Beispiel einmal an die Luft denken, die hier im Raum ist. Keiner von uns kann sagen: „Bis hierher ist meine Luft, die darf kein anderer atmen, die bekomme nur ich.“ Können wir sie separieren? Die Luft existiert, wir atmen sie ein. Wenn wir jetzt an einem anderen Platz sitzen, atmen wir woanders die Luft ein. Ist es andere Luft? Wenn jemand die Luft begrenzt hätte – wenn er das könnte – und wir sie nicht bekommen würden, würden wir sterben. Dieses Beispiel ermöglicht es vielleicht, uns mit der Einheit aller Schöpfung vertrauter zu machen. Außerdem hängt auch unser körperliches Überleben von vielen Menschen ab. Wir vergessen diese Wahrheiten ständig, weil wir alles andere, was wir tun, für wichtiger halten.
Wir sollten uns täglich daran erinnern, dass wir alle dem Tod entgegengehen. Geburt ist eine Garantie für den Tod, denn alles, was entsteht, muss auch vergehen. Wir können uns auch überlegen, was noch wichtig ist, wenn wir auf unserem Totenbett liegen. Ist es wichtig, wie oft wir Recht gehabt haben oder wie oft wir jemanden verurteilt haben oder wie viele Menschen uns gleichgültig waren? Oder kommt es darauf an, wie oft und wieviel wir geliebt haben und wie voll das Herz immer noch von Liebe ist? Wir können uns überlegen, um was es wirklich geht. Keiner weiß, wann sein Tod kommt. Wir glauben, er kommt im Alter, aber auch das ist ein karmisches Resultat, das nicht jeder hat. Wenn wir uns einen Friedhof beschauen und die Grabsteine lesen, so ist jedes Alter vertreten, von einer Stunde bis über hundert Jahre.
Unser Erinnern an die eigene Sterblichkeit bedeutet auf keinen Fall, dass wir unseren Verpflichtungen und Verantwortungen nicht mehr nachkommen, im Gegenteil: Was wir mit Liebe tun, ist wohlgetan. In Wirklichkeit: Was wir mit Liebe tun, ist spirituell getan. Was wir ohne Liebe tun, kann noch so spirituell aussehen, hat aber keinen spirituellen Inhalt. Wenn wir uns ohne Liebe auf das Kissen setzen, ist kein spiritueller Werdegang möglich. Wenn wir liebevoll Toiletten putzen, sind wir dabei, uns spirituell zu entwickeln. Teresa von Avila hat gesagt: „Ich brauche nicht noch eine , heilige‘ Nonne, ich brauche eine, die Toiletten putzt.“
Heiligkeit ist heil sein und nichts anderes. Selig-sein ist Glückseligkeit. Wir alle haben die Fähigkeiten dazu, aber wir müssen darauf hinarbeiten und erkennen, dass es möglich ist. Glückseligkeit und Heilsein beinhalten Loslassen. Am Ende können wir nichts behalten. Freiheit des Herzens schließt Gutes und Schlechtes mit ein. Das bedeutet nicht, dass wir keinen Unterschied zwischen Gutem und Schlechtem erkennen, dann könnten wir ja die Tugendregeln nicht einhalten. Aber es bedeutet, dass wir niemanden ablehnen müssen, sondern, dass wir lieben können, wodurch wir nicht mehr so oft impulsiv, instinktiv und negativ reagieren. Allein das ist schon eine Ebene des Glücks, die die meisten Menschen nie kennenlernen. Wenn wir nicht mehr auf Dinge, die uns nicht passen, reagieren, weil wir genügend Liebe in uns tragen, dann haben wir endlich einmal Ruhe. Dann sind wir auch in der Lage zu meditieren, weil der Geist sowieso ruhig ist.
Die Meditation muss geliebt werden, dann hat sie eine Chance zu funktionieren. Was immer wir für Schwierigkeiten bei der Meditation haben, auch diese können wir lieben. Wir wissen schon, dass es schwierig ist, Mensch zu sein, und noch schwieriger, ein guter, liebender Mensch. Wenn uns das klar ist, dann werden wir uns vielleicht einmal unseren Schwierigkeiten hingeben und versuchen, sie zu überwinden, was eine der Anweisungen des Buddha ist. Dazu hat er Folgendes gesagt: „Derjenige, der tausendmal tausend Armeen besiegt, ist nichts im Vergleich zu demjenigen, der sich selbst besiegt.“ Die Selbstbehauptung, die Selbstbezogenheit können wir besiegen.
Lieben ist Schenken, Von-Sich-Selbst-Geben. Je mehr wir uns selbst verschenken können, desto leichter fällt uns das Lieben. Wir brauchen keine Bestätigung. Wenn wir das Herz voll Liebe haben, sind wir bestätigt. Wir brauchen niemanden, der uns sagt, dass wir liebenswert sind. Und wenn uns jemand sagt, dass wir nicht liebenswert sind? Auch das ist kein Grund zur Trauer, sondern nur Worte, mit denen wir nichts weiter zu machen brauchen. Der Ärger, den wir um uns verbreiten, die Ablehnung, die Feindseligkeiten, alles existiert im Weltall, im kosmischen Bewusstsein. Wollen wir wirklich die Negativitäten noch vergrößern? Oder wollen wir die Liebe, das Glück, die Freude vergrößern? Wenn wir das Letztere wollen, dann haben wir eine hochinteressante Lebensaufgabe; aber nicht nur das, wir haben einen Lebenssinn gefunden, der den meisten Menschen heutzutage abhandengekommen ist. Dass unser Lebenssinn nicht materiell ist, weiß wohl jeder. Aber worin besteht er stattdessen? Nicht bekommen wollen, sondern schenken und diese Welt um eine Kleinigkeit schöner und reiner verlassen, als wir sie vorgefunden haben.
Liebende-Güte-Kontemplation
Um anzufangen,