Original Mind - Anfängergeist und Bildung. Dee Joy Coulter
attraktivsten und die zehn unattraktivsten herauszusuchen. Dann zeigten sie diese Bilder nacheinander einer großen Anzahl von sechs Wochen alten Babys. Bei jenen, die von den Studenten als attraktiv eingestuft worden waren, schauten die Babys lange hin, und bei den unattraktiven wandten sie den Blick ab oder zeigten Anzeichen von Unbehagen. Porträtmaler sagen, der Unterschied zwischen einem als schön und einem als hässlich empfundenen Gesicht sei vor allem eine Frage der Proportionen. Wenn ein Aspekt nur ein wenig verändert wird, kann ein Gesicht plötzlich seine Schönheit verlieren, als ob es eine mathematische Formel oder eine Schablone für »schöne Gesichter« gäbe. Was sahen diese Kinder also? Babys lernen rasch, das Gesicht ihrer Mutter zu erkennen, doch sie brauchen Monate, um andere Gesichter so weit zu fokussieren, dass sie sie erkennen können. Die Kinder in dieser Studie waren dafür noch zu jung, sie haben also keine Gesichter in unserem Sinne gesehen. Ihre Reaktion scheint vielmehr von der Harmonie oder Disharmonie der Proportionen abzuhängen.
Mit unserem bewussten Verstand können wir diese Bewegungsspuren nur noch schwer wahrnehmen. Woran das liegt? Als kleine Kinder waren wir von den Bewegungsspuren um uns herum fasziniert und verbrachten unsere gesamte wache Zeit damit, verschiedenen Kombinationen von Sinneswahrnehmungen nachzuspüren. Allmählich lernten wir, die Dinge hinter diesen Bewegungsspuren zu erkennen. Wir lernten, wie sie klingen, wie sie sich anfühlen, wie sie aussehen, vielleicht auch wie sie schmecken und riechen. Unser Gehirn hat ein neuronales Programm entwickelt, um Bewegungsspuren und Wellen in Dinge zu übersetzen. Wenn wir im Alter von etwa sechs Jahren in die Schule kommen, übersetzt das Gehirn diese Wellen bereits so schnell in Dinge, dass wir diese Vorstufe nicht mehr bemerken. Das stellt uns vor ein Rätsel. Wie können wir wissen, was unsere Augen sehen würden, wenn unser Gehirn kein derartiges Übersetzungsprogramm entwickelt hätte?
Vielleicht können uns die Erfahrungen jener besonderen Menschen weiterhelfen, die erst als Jugendliche oder Erwachsene sehen lernten. Viele von ihnen haben davon berichtet, was ihre Augen wahrnahmen, als sie zum ersten Mal etwas sahen und versuchten, der Welt einen visuellen Sinn abzugewinnen. Sie beschreiben eine faszinierende Erfahrung.
Wenn ihnen der Verband abgenommen wurde, sahen sie zunächst kein Gesicht, das sie begrüßte. Wenn sie in Richtung der vertrauten Stimme schauten, zeigte sich etwas Verschwommenes. Wochenlang fesselte sie vor allem der Farbeindruck, denn darauf waren sie durch Berührung und Hören nicht vorbereitet. Manchmal waren sie von der Flut der visuellen Stimulation, dieser verwirrenden Mischung aus Licht, Farbe und Bewegung, schier überwältigt. Es ist offenbar ziemlich schwierig, das Ertastete in Sichtbares zu übersetzen. Das Erspüren der Form eines Elefantes ist offenbar keine ausreichende Vorbereitung auf den Anblick einer ganzen Elefantenstatue. Ihr Verstand hatte sich daran gewöhnt, die Dinge in zeitlich versetzten Teilabschnitten zu erfassen. Das Sehen ermöglichte es ihnen, alle Teile gleichzeitig räumlich wahrzunehmen. Doch wenn sie mühsam gelernt hatten, den Elefanten allein durch das Sehen zu erkennen und sich die Statue dann aus einem anderen Blickwinkel zeigte, war es wieder ein völlig neuer, unbekannter Eindruck. Ihr Gehirn hatten noch kein visuelles Programm entwickelt, die Drehung von Dingen spontan nachzuvollziehen.
Auch konnten sie räumliche Tiefe nur wahrnehmen, wenn sich etwas bewegte. Bis dahin hatten sie Entfernungen immer an der Größe eines Objektes gemessen. Treppenstufen erschienen ihnen zunächst als flache Oberfläche mit Streifen. Eine Person beschrieb, wie sie sich mit Hilfe innerlich gezogener Linien und Pfade zwischen den Zimmern und den wichtigsten Möbelstücken durch ihre Wohnung bewegte. Wenn sie diese Pfade verließ, verlor sie leicht die Orientierung. Die visuelle Welt dieser Menschen war zunächst völlig von Farben, Licht und Bewegungen dominiert. Nur mit viel Übung lernten sie, diese Eindrücke zu verbinden und somit Dinge zu erkennen. Die Übungen in diesen ersten zwei Kapiteln können Ihnen helfen, wieder auf diese ursprüngliche Weise Wellen und Bewegungen wahrzunehmen. Die erste Übung ist, aufmerksam sehr kleine Kinder zu beobachten. Bemerken Sie, wie oft sie sich mehr für Licht, Geräusche, Bewegungen und Luftzüge interessieren als für die Dinge um sich herum.
Solche Übungen sind in diesem ganzen Buch verteilt. Manche sind am Ende eines Abschnitts deutlich gekennzeichnet, andere sind im Text eingestreut. Bestimmte Kapitel, wie zum Beispiel das sechste, sind vollgepackt mit solchen Anregungen.
LERNEN, SICH ANZUGLEICHEN
Ein Kind ging hin, Tag um Tag,
und wurde zu dem ersten Ding, was es erblickte.
Und dieses Ding wurde Teil von ihm,
für jenen Tag oder einen Teil des Tages.
Oder für viele Jahre oder über ganze Zyklen von Jahren hinweg.
Walt Whitman
Leaves of Grass
Wenn Sie üben, die Welt mit frischem, unverstelltem Blick zu betrachten, bemerken Sie vielleicht, wie Sie mit dem Geschauten manchmal eins werden. Das ist herrlich! Wir bezeichnen es hier in unserem Zusammenhang als Matching ( = angleichen, zueinander passen, passend machen, übereinstimmen, zusammen führen). Wenn wir im weiteren Verlauf zu den Spiegelneuronen kommen, werden wir dieses Thema noch vertiefen.
Diese Fähigkeit zum Matching ist uns angeboren. In den ersten Lebensjahren gebrauchen wir sie intensiv, doch im Laufe der Zeit entwickeln wir andere kognitive Fähigkeiten und verlernen es ein Stück weit wieder. Manches davon bleibt uns jedoch erhalten. Wenn wir bei Sportereignissen oder Tanzaufführungen zuschauen, vollziehen wir die Sprünge, Drehungen, Würfe und Läufe innerlich nach. Manchmal spüren wir richtiggehend die Anstrengung dieser inneren körperlichen Angleichung. Die daraus erfolgende Befriedigung trägt dazu bei, uns zur nächsten Veranstaltung zu locken. Auch auf der emotionalen Ebene findet Matching statt. Wenn wir jemandem in seinem Leiden beistehen oder mit Freunden etwas feiern, können sich unsere Gefühle weitgehend denen der anderen anpassen. Dann können wir wirklich sagen: Ich fühle Schmerz beziehungsweise Freude mit dir.
Mit etwas Übung und Geschick können wir uns sogar dem Geist eines anderen anpassen. Ironischerweise ist selbst das nicht mit Hilfe des Intellekts möglich, sondern läuft ähnlich wie bei Gefühlen und Bewegungen über ein inneres Körperempfinden. Der Intellekt kann analysieren, kategorisieren und geistige Schwächen ausmachen, doch um wirklich in den Geist eines anderen Menschen einzutauchen, brauchen wir diese Fähigkeit der inneren Anpassung. Vielleicht helfen Ihnen die folgenden Geschichten von der Anwendung solcher Matching-Prozesse, ein klareres Bild davon zu gewinnen, damit Sie anfangen können, es für sich selbst zu entwickeln.
Das Konzept als solches ist nicht neu. Im Buddhismus wird es oft sich selbst mit anderen austauschen genannt. Der Heiler und mystische Philosoph Paracelsus schrieb bereits vor fünfhundert Jahren darüber:
Verstehen entsteht nicht durch den Verstand, sondern durch mitfühlendes Hineinversetzen. In unserer Suche nach Weisheit ist es unsere Pflicht, die Dinge ihrem eigenen Wesen gemäß zu erkennen und nicht nach ihren Erscheinungen.
Um etwas oder jemanden wirklich zu verstehen, meint Paracelsus, müssen wir uns so tief mit dem Menschen oder dem Objekt verbinden, dass sich uns sein wahres Wesen offenbart. In der östlichen Tradition wird in diesem Zusammenhang eher von »Meistern« und »Lehrlingen« als von »Lehrern« und »Schülern« gesprochen. Der Lehrling empfängt Übertragungen statt Lektionen. Um sie zu empfangen, muss er sich auf die Wellenlänge seines Lehrers einstimmen. Jane Faigao, eine großartige Tai Chi-Lehrerin an der Naropa-Universität, pflegte ihren mit den Bewegungen ringenden Schülern zu sagen: »Klaut sie euch einfach von meinem Körper«. Die Essenz des Tai Chi lässt sich nicht einfach durch das Nachahmen äußerer Bewegungen erfassen.
Ich habe einmal eine fast olympiareife junge Dressurreiterin interviewt, die ein hervorragendes Beispiel für diese einfühlsame Einstimmung war. Sie liebte die Dressurfiguren so sehr, dass sie sie in ihre Studienhefte kritzelte, von ihnen träumte, sie innerlich vorwärts und rückwärts durchlief und sie in Zeitlupe und natürlich zu Pferde übte. Sie begab sich sogar auf alle Viere und lief die Figuren ab, um herauszufinden, wie sich das Pferd dabei fühlen mochte.
Es gibt noch immer ein paar Berufe, in denen die Kunst des Matching eine große Rolle spielt. Als ich einmal einen ausgezeichneten Gärtner fragte, wie er die Pflanzenarrangements in seinen Landschaftsgärten entwickele, gestand er, die