Original Mind - Anfängergeist und Bildung. Dee Joy Coulter
Sport kann die Fähigkeit, sich einem Gegner anzugleichen, zu höheren Leistungen anspornen. In seinem Buch Zen und die Kultur Japans zitiert D. T. Suzuki einen japanischen Schwertkämpfer mit folgenden Worten:
Wenn die Identität erlangt wird, sehe ich als Schwertkämpfer mir gegenüber keinen Gegner, der mich angreifen und schlagen will. Ich scheine mich selbst in meinen Gegner zu verwandeln und jede seiner Bewegungen und jeder seiner Gedanken fühlen sich wie meine eigenen an, und ich weiß intuitiv … wann und wie ich ihn schlagen kann.
Diese Idee, sich in eine Person oder ein Objekt hineinzuversetzen, mag merkwürdig und nur begrenzt nützlich erscheinen, doch ihr Wert wird immer mehr erkannt. Beispielsweise hat es sich für die Forschung führender Wissenschaftler als eine höchst nützliche Sache erwiesen.
Der Nobelpreisträger Joshua Lederberg, dessen Entdeckungen entscheidend zur Genetik der Mikroorganismen beigetragen haben, beschrieb seinen Ansatz so:
Man muss sich in eine biologische Situation hineinversetzen können. Ich musste mir beispielsweise buchstäblich vorstellen können Wie wäre es, wenn ich eines der chemischen Bestandteile eines Bakterienchromosoms wäre?
Die populärwissenschaftlich als springende Gene bezeichnete Entdeckung der genetischen Transposition in Mais durch die Nobelpreisträgerin Barbara McClintock revolutionierte das gesamte Feld der Molekularbiologie. Sie hat ihre Herangehensweise ganz ähnlich erklärt:
Ich habe festgestellt, je mehr ich mit ihnen [den Chromosomen] arbeitete, desto mehr verschob sich der Maßstab, und als ich mich richtig auf sie einließ, war ich nicht mehr draußen, ich war drinnen. Ich war Teil des Systems. … Ich konnte sogar die Innenteile der Chromosomen sehen. … Zu meiner eigenen Überraschung fühlte es sich so an, als ob ich da mitten drin wäre, mitten unter meinen Freunden. … Wenn man sich diese Dinger so anschaut, werden sie Teil von einem. Und man vergisst sich selbst. Das Wichtigste ist, sich selbst zu vergessen.
Vielleicht verspüren Sie keinen Bedarf für derart verfeinerte Angleichungsfähigkeiten, doch möchte ich Sie ermutigen, es mit einfachen Elementen Ihres Alltags zu üben. Lassen Sie sich auf die Natur, geliebte Dinge oder geschätzte Qualitäten Ihrer Mitmenschen mit ganzer Aufmerksamkeit ein. Genießen Sie sie, und sei es nur für einen Augenblick, das wird Ihre Angleichungsfähigkeiten wachsen lassen.
Vor allem die Fähigkeit, sich in dieser Weise auf den Geist von anderen einzustimmen, ist äußerst wertvoll. Wenn Sie in den folgenden Geschichten von geistigen Fähigkeiten lesen, die Sie auch gerne hätten, scheuen Sie sich bitte nicht, Jane Faigaos Rat zu folgen und sie zu »klauen«. Probieren Sie es. Mit etwas Übung kann sich Ihre natürliche Brillanz dadurch enorm erweitern!
ANSICHTBAR UND UNSICHTBAR
Meine ersten Lehren über die »unsichtbare Welt der Kinder« empfing ich von meinem Sohn. Scottie war vier, als ich ihn mit dem Gärtnern bekannt machen wollte. Leider war ich eine ziemlich unbegabte Gärtnerin. Ich begann, über Findhorn nachzusinnen, jenes unglaublich erfolgreiche Gartenprojekt in Schottland, bei dem die Gärtner mit den Elementarwesen und den Pflanzengeistern zusammenarbeiten. Ich sehnte mich danach, auch solche Hilfe zu haben. Als Scottie und ich eines Tages im Garten den Boden bearbeiteten, fragte ich ihn daher, ob er irgendwelche Wesen sehen würde. »Nööh«, antwortete er, offenbar unsicher, was er von solch einer Frage halten sollte.
Aus reiner Verzweiflung blieb ich dran. »Siehst du nicht vielleicht irgendwelche Gestalten oder Tierchen oder so etwas?«
»Oh ja, ich sehe viele davon!« rief er voll Begeisterung darüber, mich endlich verstanden zu haben.
»Siehst du sie jetzt?«
»Ja klar«, sagte er und schaute sich leicht blinzelnd im Garten um. Er erzählte mir, ein paar würden auf dem Dach herumturnen, andere kauerten bei den Baumwurzeln dort unten, und wieder andere würden um die Blumen schweben. Ich gab zu, sie nicht richtig sehen zu können, und er schaute mich mit einem Blick an, als wundere er sich, wie ich so beschränkt sein könne. Danach versuchte er tagelang, sie mir zu zeigen. Sein Bestreben gipfelte schließlich darin, dass er mir eines Tages von der großen Fichte in unserem Vorgarten aus aufgeregt zurief: »Komm mal schnell her, Mami, ich habe endlich einen gefunden, den du ganz bestimmt sehen kannst!«
Ich schaute unter die schweren Zweige, ich blinzelte, stellte meinen Blick unscharf und versuchte alles, was mir einfiel, bis ich schließlich zugeben musste, dass ich da einfach nichts sehen konnte.
Scottie richtete sich auf, seufzte und erklärte: »So ist es dann wohl. Erwachsene sehen ansichtbare Dinge, und Kinder sehen ansichtbare und unsichtbare Dinge« (im Original: outvisible and invisible things.)
Wenn wir darauf achten, sind die Hinweise auf solche kindlichen Fähigkeiten überall zu finden. Wir neigen dazu, die Wahrnehmungen der Kinder nur ernst zu nehmen, wenn sie sich auf äußerlich sichtbare Dinge beziehen. Kürzlich hörte ich im Supermarkt, wie ein etwa fünf Jahre altes Kind zu seiner Mutter sagte: »Der Mann ist nicht nett!« Die Mutter bedeutete dem Kind, still zu sein, zog es beiseite und fragte, warum es das gesagt habe. »Ich mag die Bilder nicht, die ich in mir sehe, die dieser Mann in sich hat!« Ich frage mich, wie viele Kinder jeden Tag solche Bilder sehen.
Als ich an der Sonderschule unterrichtete, lag mein Klassenzimmer genau gegenüber dem Lehrerzimmer. Als ich eines Tages meine Türe öffnete, kam dort gerade eine neue Lehrerin heraus, die zuvor Nonne gewesen war. Sie trug die Hände vor sich gefaltet und bog scharf nach links ab, um zu ihrem Klassenzimmer zu gehen. Während ich zusah, wie sie um die nächste Ecke verschwand, meinte eine acht Jahre alte Schülerin neben mir, die nichts von dem Hintergrund dieser Frau wusste: »Warum will sie nicht heiraten?«
Bei der folgenden Geschichte können Sie mit mir Detektiv spielen. Eines Tages saß ich in einer Sonderschulklasse in der Lesestunde. Zu der Klasse gehörte ein sehr autistischer, acht Jahre alter Junge, der ein paar rudimentäre Sprachkenntnisse hatte, aber die meiste Zeit in seiner eigenen kleinen Welt verbrachte. An jenem Morgen schien er ziemlich unruhig zu sein. Zuerst ging er zu dem Aquarium, bewegte es ein paar Mal hin und her und betrachtete es dann mit offensichtlichem Vergnügen. Er wollte es gerade wiederholen, als die Lehrerin ihn bat, dort wegzugehen. Daraufhin lief er zu der glänzenden Metalltüre des Materialschranks und begann, sie heftig hin- und herzuschwingen. Dann wurde er gebeten, sich mit auf den Boden zu setzen, wo die Klasse über Kalender sprach. Hinter ihm stopfte ein Kind einen Therapieball passgenau in eine Spielzeugtonne. Der Junge regte sich furchtbar auf und beruhigte sich erst wieder, als der Ball aus der Tonne entfernt wurde. Daraufhin saß er ein paar Minuten lang still, doch sobald zur Pause geläutet wurde, lief er zu einem Platz direkt neben der Heizung.
Erkennen Sie das unsichtbare Muster? Wenn Sie von den Dingen absehen und mehr die Wellen betrachten, die sie erzeugen, merken Sie vielleicht, wie fokussiert der Junge eigentlich war. Bei dem Aquarium ging es ihm nicht um die Fische, sondern um die Wellenbewegungen auf dem Wasser, die er erzeugt hatte. Auch die Metalltüre vibrierte durch die heftige Bewegung und erzeugte Wind und Lichteffekte. Der Ball? Er setzte die Tonne unter Druck. Der Junge hörte wahrscheinlich den zischenden Luftzug, als der Ball in die Tonne gepresst wurde, und verspürte den Drang, die Tonne zu »befreien«. In der Pause genoss er dann die Wärmewellen, die von dem Heizkörper aufstiegen.
Die Welt ist voll von solchen Schwellen-Phänomenen – Ereignissen, die gleichermaßen unsichtbar und ansichtbar sind. Versuchen Sie, Gelegenheiten zu finden, wo Sie sich mit kleinen Kindern darüber austauschen können. Ein Regenbogen zum Beispiel mag wie ein wirkliches Ding erscheinen, doch tatsächlich besteht er nur aus prismatisch angeordneten Lichtwellen. Bäche und Wasserfälle sind sichtbar gewordene Fließwellen. Ein Echo ist nichts als eine Klangwelle, die unsere Stimme zurückspiegelt. Die meisten Kinder unter sechs Jahren leben in einer Welt der direkten Sinneserfahrung. Sie können sich ganz auf die jeweilige Erfahrung einlassen, ohne das ständige mentale Geplapper des erwachsenen Verstands. Sie empfinden diese Wellen und Bewegungspfade als natürliche Aspekte der sie umgebenden Bilder und Sinneseindrücke. Um diese Fähigkeiten vollständig zu entwickeln, bedürfen sie jedoch unserer Unterstützung, indem wir ihre Sinneseindrücke ihrer Umwelt würdigen und aufhören, immer den Reiseführer zu spielen, der weiß, was richtig und wichtig ist. Die große Biologin