Original Mind - Anfängergeist und Bildung. Dee Joy Coulter

Original Mind - Anfängergeist und Bildung - Dee Joy Coulter


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verbunden. Unser Geist stellt diese Verbindungen praktisch unmittelbar her, doch wir wollen hier versuchen, diese Eindrücke zu erfahren, bevor sie sich verknüpfen.

      Machen wir ein Experiment. Lauschen Sie auf die Geräusche, die Sie jetzt gerade umgeben, und beachten Sie dabei zwei oder drei einfache Klänge. Zum Beispiel höre ich jetzt gerade ein Klappern … von Tellern, ein Brummen … des Kühlschranks, ein Ping … von meinem Computer, um den Eingang einer Email anzuzeigen. Was ich auch gerade höre, wird von meinem Geist möglichst sofort mit der Geräuschquelle verbunden. Das ist Feature-Binding in Aktion. Es wird meistens schon allein davon ausgelöst, dass wir uns unserer Umgebung aufmerksam zuwenden.

      Ein Kaninchen hält bei allen überraschenden Geräuschen kurz inne und rennt dann instinktiv weg, ohne sich darum zu kümmern, was das Geräusch verursacht haben könnte. Was machen Sie, wenn Sie überraschend ein unbekanntes Geräusch erschreckt? In jenem Moment, kurz bevor Sie denken »Was war das?«, erleben Sie einen reinen Klang.

      Doch nicht jedes einfache Geräusch ist flüchtig oder überraschend. In der Musik des Nahen Ostens gibt es ein Element namens »Bordun« oder »Drone«, welches reinem Klang recht nahe kommt. Es bildet einen anhaltenden summenden Hintergrund, um den die Melodie herum tanzt. Es erdet gewissermaßen das Musikstück, ohne selbst Informationen zu übermitteln. Die Formen der Melodie werden vom Ohr bemerkt und beim zweiten Hören vielleicht wiedererkannt, doch mit dem darunter liegenden Summton beschäftigt sich das Ohr nicht so.

      Etliche moderne westliche Komponisten suchten nach solchen unverbundenen oder unvorhersehbaren Klängen. Der berühmte Pianist Keith Jarrett meditiert vor seinen Auftritten, um sich von allen musikalischen Mustern in seinem Geist zu lösen und frei von allen Erwartungen mit dem Ton anzufangen, der sich bildet, wenn er seine Hand auf die Tasten legt.

      Dem Un-Komponisten John Cage ging es vor allem um das, was er Unbestimmtheit, nannte, die Vereinzelung von Tönen, Tongruppen und Stille-Intervallen. Oft verwendete er auch mechanische Klänge oder Umweltgeräusche. Er bat die Zuhörer häufig, sich vom fokussierten Zuhören zu lösen und ihre Ohren den reinen Klängen zu öffnen. Doch selbst sein erfahrenes Publikum war nicht auf das extreme Experiment vorbereitet, welches John Cage 1952 bei einem New Yorker Konzert durchführte. An jenem Abend stellte er ein neues Stück vor, welches er 4‘33“ nannte (4 Minuten, 33 Sekunden), das aus drei zeitlich genau definierten Bewegungen bestand. Der Pianist betrat die Bühne, setzte sich an das Klavier, stellte seine Stoppuhr und seine Noten auf und öffnete den Klavierdeckel für die erste Bewegung. Er begann, die Seiten umzublättern, aber er spielte nicht. Dann schloss er das Klavier wieder und öffnete es für die nächste Bewegung, blätterte ein paar weitere Seiten um, schloss es und öffnete es ein letztes Mal für die dritte Bewegung.

      Leider ging diese Chance, ohne Fokus zu lauschen, an den meisten Zuhörern ungenutzt vorüber. John Cage erzählt von dieser Premiere: »Sie haben es nicht kapiert. … Was sie für Stille hielten, weil sie nicht zu lauschen wussten, war voll zufälliger Geräusche. Während der ersten Bewegung konnte man den Wind draußen rauschen hören. Während der zweiten Bewegung begannen Regentropfen auf das Dach zu trommeln. Und während der dritten Bewegung machten die Zuhörer alle möglichen interessanten Geräusche, als sie anfingen, miteinander zu reden, oder aufstanden und gingen.«

      Sie können jederzeit üben, ohne Fokus zu lauschen. Der Trick besteht darin, die Geräusche zu sich kommen zu lassen, statt ihnen entgegenzugehen. Spazieren Sie durch die Natur und lassen Sie die zufälligen Geräusche an Ihr Ohr dringen. Sie können das natürlich genauso entspannt mit städtischen Geräuschen machen. Erfahrene Lehrer nutzen diese Fähigkeit in der Pausenaufsicht. Sie lassen die gewöhnlichen Geräusche zu einem Hintergrundbrummen verblassen. Wenn es irgendwo ein Problem gibt, wird es sich deutlich von diesem Hintergrundklang abheben und sie können sich dem schnell zuwenden.

      Bevor wir die anderen Sinne erkunden, möchte ich Ihnen noch davon erzählen, wie Säuglinge Klänge wahrnehmen. Es gibt zwei Geräusche, auf die sie besonders mit Beruhigung und Aufmerksamkeit reagieren. Die Wissenschaftler haben dazu bei Neugeborenen den sogenannten vagalen Tonus gemessen, einen Parameter des Immunsystems. Je höher dieser Index ist, desto größer sind die Überlebenschancen des Kindes. Bei gefährdeten Neugeborenen auf der Intensiv-Station stieg dieser Vagustonus jedes Mal deutlich an, wenn das Kind die Stimme der Mutter hörte. Dieser Effekt konnte von keinem anderen Geräusch hervorgerufen werden.

      Neben der Stimme der Mutter gibt es noch ein zweites Geräusch, welches im Mutterleib besonders deutlich ist – den Herzschlag der Mutter. Um die Kinder zu beruhigen läuft deshalb in vielen Säuglingsstationen Musik, der der Herzschlag eines entspannten Erwachsenen unterlegt ist. Und wenn die Mutter während der Schwangerschaft oft eine bestimmte Serie geschaut und sich dabei entspannt hat, beruhigten sich die Babys innerhalb von dreißig Sekunden, nachdem sie die entsprechende Titelmusik gehört hatten. Diese Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass die erste Aufgabe des Ohres darin besteht, die Verbindung zur Mutter zu stärken, indem es Geräusche verzeichnet, die mit der Mutter zusammenhängen. So beginnen die ersten Erfahrungen der Verbindung von Sinneseindrücken zu Wahrnehmungen.

      SICHTWEISEN

      Der das Denken steuernde Wille muss aufhören,

       vom Subjekt zum Objekt zu fließen,

       und anfangen, vom Objekt zum Subjekt zu fließen. …

       Diese Läuterung der subjektiven Erfahrung erfolgt

       durch die Praxis des Staunens, der Verehrung, der Einheit

       und der vollständigen Hingabe.

      John Gardner

       Right Action, Right Thinking

      Das Auge sieht über zwei grundlegende Mechanismen. Der erste ist das Fokussieren, welches in der Mitte des Auges erfolgt und dazu dient, Dinge genau in den Blick zu nehmen und jede Einzelheit zu erkennen. In der Natur sind es vor allem die Raubtiere, die sich dieser Art des Sehens bedienen, um ihre Beute zu erkennen, aufzuspüren, Entfernungen abzuschätzen und zuzuschlagen. Der zweite Mechanismus, die periphere Sicht, wird vor allem von Beutetieren verwendet, die damit Bewegungen ihres Umfeldes viel schneller erfassen können als mit dem fokussierten Sehen. Raubtiere haben deshalb nach vorne gerichtete Augen, die zusammen einzelne Dinge genau erkennen können, während Beutetiere wie Kaninchen und Pferde seitlich ausgerichtete Augen haben. Bei Kaninchen sitzen die Augen so weit auseinander, dass sie kein gemeinsames Blickfeld mehr haben, weshalb sie alles, was unmittelbar vor ihnen liegt, kaum sehen können. Pferde können Dinge fokussieren, zu denen sie einen gewissen Abstand haben, doch nichts, was näher als etwa einen Meter ist. Ausgebildete Springpferde vertrauen vollkommen darauf, dass ihnen der Reiter signalisiert, wann sie zum Sprung ansetzen müssen, weil sie das Hindernis aus der Nähe nicht mehr erkennen können.

      Wir Menschen können beide Mechanismen nutzen. Unser peripheres Sehen nutzt die Randbereiche unserer Augen. Es reagiert viel schneller und bemerkt die kleinsten Bewegungen. Deshalb legen Vogelbeobachter den Kopf schief, patrouillieren Soldaten die feindlichen Linien seitlich und überwachen gute Lehrer die Klasse mit den »Augen am Hinterkopf«. Auch Mannschaftssportler verlassen sich vor allem beim Hochleistungssport auf diese Fähigkeit, um Veränderungen in den Bewegungsmustern der eigenen Mannschaft und des Gegners sofort aufzunehmen. Da solche Bewegungen rasch, unerwartet und ohne Einbettung in andere Eindrücke erfolgen, können wir sie als reine visuelle Informationen oder unverbundene Sinneseindrücke bezeichnen. So gut unser peripheres Sehen im Wahrnehmen der feinsten Bewegungsimpulse ist, so schwach ist es im Erkennen von Farben und Details. Dafür müssen wir uns der Bewegung zuwenden und zum fokussierten Sehen mit dem zentralen Augenbereich übergehen.

      Unser hoch analytisches visuelles System macht es uns nicht leicht, reine visuelle Eindrücke zu gewinnen. Am besten geht es mit Licht und Farbe. Sowohl Menschen, die zum ersten Mal sehen, als auch Neugeborene scheinen vom Licht stark beeindruckt zu sein. Vielleicht sehnen wir uns nach dieser reinen, glanzvollen Erfahrung, wenn wir ein Feuerwerk bestaunen, nach Sternschnuppen suchen oder uns das Aufleuchten eines Weihnachtsbaums berührt. Solche Lichteffekte ermöglichen uns Erfahrungen reiner visueller Eindrücke. Um Ähnliches mit Farbe zu erleben, bedurfte es jedoch einiger herausragender Künstler.

      Während


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