Pflegende Angehörige stärken. Christa Büker
ökonomische Gründe spielen eine Rolle: Pflege in der Familie ist fast immer kostengünstiger als in einer stationären Pflegeeinrichtung, wo die Kosten für Pflege und Unterbringung durchschnittlich bei 1.891 Euro liegen (Statista 2021). Volkswirtschaftlich betrachtet, macht es also durchaus Sinn, Angehörige zu stützen und zu stärken, um den Verbleib von pflegebedürftigen Menschen in der Familie so lange wie möglich sicherzustellen.
Und noch ein weiterer Grund spricht für die Unterstützung pflegender Angehöriger: Die demografische Entwicklung mit der abnehmenden Zahl junger Menschen wird auch Auswirkungen auf die Beschäftigten in der Pflege haben. Professionell Pflegende werden in Zukunft nicht mehr in hinreichender Anzahl zur Verfügung stehen. Bereits jetzt gestaltet sich beispielsweise die Personalgewinnung für stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen schwierig. Bei gleichzeitiger Zunahme der pflegebedürftigen Menschen zeichnet sich eine prekäre Entwicklung ab, die mehr denn je den Erhalt des Pflegepotenzials in der Familie erforderlich macht.
1.5 Unterstützungsmöglichkeiten und Inanspruchnahme
Mit Inkrafttreten der Pflegeversicherung Mitte der 1990er Jahre wurden verschiedene Möglichkeiten der Unterstützung von pflegenden Angehörigen auf den Weg gebracht. Dazu gehören Pflege- und Betreuungsangebote (ambulante Pflege, Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, Betreuungsgruppen, Haushaltshilfe, betreuter Urlaub), Beratungsangebote (Pflegeberatungseinsätze, Einrichtung von Pflegestützpunkten und andere Beratungsstellen) sowie Schulungsangebote (Pflegekurse, häusliche Einzelschulungen). Für berufstätige Angehörige wurden das Pflegezeitgesetz und das Familienpflegezeitgesetz geschaffen. Unterstützung leisten ferner Selbsthilfegruppen und Angehörigengesprächskreise.
Allerdings nimmt trotz des erheblichen Belastungspotenzials der häuslichen Pflege nur ein vergleichsweiser geringer Teil der Angehörigen Hilfe in Anspruch. Eine BARMER-Versichertenbefragung aus 2018 kam zu folgenden Erkenntnissen:
• Lediglich ein knappes Drittel der Familien erhielt Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst in Form von Pflegesachleistungen oder Kombinationsleistungen.
• Leistungen der teilstationären Pflege (Tagespflege, Nachtpflege) wurden von knapp 4 % der anspruchsberechtigten Personen genutzt, wobei die Nachtpflege so gut wie gar nicht ins Gewicht fiel.
• Verhinderungspflege wurde von einem Drittel der Familien in Anspruch genommen, entweder durch einen ambulanten Pflegedienst oder eine andere Person.
• Kurzzeitpflege wurde von etwa 20 % der pflegebedürftigen Personen wahrgenommen.
• Betreuungs- und Haushaltshilfe nutzten 27 % der Pflegebedürftigen.
• Nur sehr wenige Familien nahmen niedrigschwellige Betreuungsgruppen oder betreute Urlaube in Anspruch.
• Ebenfalls im einstelligen Prozentbereich lagen die Inanspruchnahme eines Pflegekurses, einer häuslichen Einzelschulung oder der Besuch einer Selbsthilfegruppe. (Rothgang & Müller 2018)
Gesetzliche Regelungen, wie das Pflegezeitgesetz oder das Familienpflegezeitgesetz, die als Erleichterung für berufstätige pflegende Angehörige gedacht sind, werden ebenfalls nur vereinzelt angenommen. Um so größer ist mutmaßlich ein anderer Bereich der Unterstützung von pflegebedürftigen Menschen, nämlich die sogenannte 24-Stunden-Pflege. Insbesondere Frauen aus Osteuropa üben hierzulande diese Arbeit aus. Ihre genaue Anzahl ist unbekannt, da viele in Schwarzarbeit tätig sind. Vorsichtige Schätzungen gehen von 115.000–300.000 Personen aus (Böning & Steffen 2014). Problematisch sind die prekären Arbeitsbedingungen und fehlende Qualitätskontrollen der Versorgung.
Der Nichtinanspruchnahme von Hilfen liegen verschiedene Ursachen zugrunde, wie Kostengründe, Informationsdefizite, Angebotslücken in einer Region oder Unzufriedenheit mit der Qualität von Leistungen (Rothgang & Müller 2018). Einer der wesentlichen Gründe kann darin gesehen werden, dass das vorhandene Angebot nicht der Hilfe entspricht, die Angehörige eigentlich benötigen oder erwarten. Immer noch steht bei vielen professionellen Akteuren die pflegebedürftige Person im Mittelpunkt, während die Bedürfnisse und Wünsche der Familien kaum wahrgenommen oder berücksichtigt werden. Zudem wird die bereits angesprochene Heterogenität der pflegenden Angehörigen bislang viel zu wenig in den Blick genommen.
Da die Nutzung von Entlastungsangeboten auch immer mit einem gewissen bürokratischen Aufwand sowie Organisations- und Koordinationsaufwand verbunden ist, müssen sie als hilfreich und zufriedenstellend empfunden werden. Externe Hilfe kann in den Augen von Angehörigen sogar eine zusätzliche Belastung darstellen, wenn beispielsweise die eingespielte Tagesroutine gestört wird oder Veränderungen der Wohnumgebung die Folge sind. Pflegende Angehörige nehmen Hilfe nur an, wenn sie ihnen eine echte Entlastung im Pflegealltag bringt (Büscher 2007). Ist dies nicht der Fall, werden sie versuchen, die »Störung« ihres Alltags durch professionelle Helfer so gering wie möglich zu halten.
Eine nicht unwesentliche Rolle spielt auch die Ablehnung externer Hilfe durch die pflegebedürftige Person selbst sowie die generelle Zurückhaltung gegenüber Hilfeangeboten. Schneekloth und Wahl (2008, S. 235) sprechen von einer fehlenden Kultur des »Sichhelfenlassens«. Mitunter werden auch die eigenen Ressourcen überschätzt, insbesondere zu Beginn einer Pflegesituation, wenn der Umfang der Beanspruchung durch die häusliche Pflege noch nicht erfasst werden kann.
Merke
Gleichwohl wünschen sich pflegende Angehörige mehr Unterstützung. In einem von der Europäischen Union geförderten Projekt zur Untersuchung der Situation pflegender Angehöriger in sechs europäischen Ländern (EUROFAMCARE) wurde bereits vor etlichen Jahren deutlich, welche Unterstützung Angehörige vordringlich benötigen:
• Entlastung und Erholung,
• Information, Beratung und Training pflegerischer Fertigkeiten sowie
• Möglichkeiten der Aussprache
(Mestheneos & Triantafillou 2005).
Will man das familiale Pflegepotenzial erhalten, müssen die Wünsche und Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen verstärkt Berücksichtigung finden. Handlungsbedarf – insbesondere für Kostenträger wie Kranken- und Pflegekassen – besteht insbesondere darin, zielgruppenspezifische Angebote der Unterstützung von pflegenden Angehörigen zu entwickeln. Zugleich muss der gesundheitlichen Situation der Angehörigen größere Aufmerksamkeit gewidmet werden und gesundheitsfördernde Angebote auf den Weg gebracht werden (Bohnet-Joschko 2020). Familien müssen ermutigt werden, Hilfen anzunehmen. Hier kann die professionelle