Traditionelle Chinesische Medizin für Dummies. Jean Pélissier
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Abbildung 1.1: Huang Di Nei Jing – Buch des Gelben Kaisers zur inneren Medizin
Das gesamte Werk ist in Form eines Dialogs zwischen dem Gelben Kaiser und seinem Minister Qi Bo dargestellt. Der Kaiser stellt Fragen, der Minister gibt Antworten, wobei es sich in Wirklichkeit jedoch um langwierige Entwicklungen handelt. Kosmologie, Philosophie und Moral werden in Zusammenhang mit der chinesischen Medizin gebracht.
In der Han-Dynastie wurden diese Schriften weiter ausgearbeitet. Wir werden sehen, dass die theoretischen Entwicklungen, die sich daraus ergeben haben, auf der Theorie des Yin (Struktur) und Yang (Funktion) basieren, den beiden einander entgegengesetzten Grundbegriffe, die wir alle kennen. Weiteren Einfluss hatte die berühmte Theorie der fünf Elemente und der ihnen entsprechenden Organe (Zang- und Fu-Organe). Wir werden noch darauf zurückkommen.
Abbildung 1.2: Die chinesischen Schriftzeichen Yin (links) und Yang (rechts)
Die ersten Spuren dieses ganzheitlichen Ansatzes im Hinblick auf den menschlichen Körper sind mehr als 5000 Jahre alt. Wir finden sie mit dem Erscheinen des Yi Jing, dem wahrscheinlich ersten grundlegenden Buch dieser Medizin. 2500 Jahre später erschien das Nei Jing, das in Wirklichkeit Huang Di Nei Jing oder »Buch des Gelben Kaisers zur inneren Medizin« heißt. Es besteht aus zwei Teilen, dem Su Wen und dem Ling Shu.
Die wichtigsten Orientierungspunkte
Um die nachfolgenden Dinge besser verstehen zu können, brauchen Sie ein paar Orientierungspunkte, um die Grundlagen der TCM besser einordnen zu können. Beginnen könnte man mit dem sehr bekannten Zitat aus dem Dao De Jing, geschrieben 600 v. Chr. von Lao Tseu, Gründer des Taoismus: »Aus dem Dao entsteht die Einheit. Aus der Einheit entstehen Zwei. Aus Zweien entstehen Drei. Aus Dreien entstehen 10.000.«
Das Dao
Oft wird behauptet, das Dao, das Symbol für das Nichts, sei eine neuere Erfindung der Mathematiker. Tatsächlich gab es dieses Konzept des Nichts schon immer, wenn auch auf informelle Weise. In einem Satz wurde es einfach durch eine Leerstelle dargestellt. Es handelt sich weder um ein Symbol noch um ein Konzept. Es stammt aus der reinen Metaphysik und kann nur durch Intuition erfasst werden, die alles umfasst, was zu seiner Definition dienen könnte. In der modernen Kosmologie befindet es sich vor der planckschen Mauer, der Grenze zwischen der physischen und der rein mathematischen Welt. Es befindet sich vor dem Beginn des Urknalls. Das Nichts heißt auch das Wu Ji, das »Nichtsein«. Kurz gesagt, vielleicht zu kurz, sie ist der Ursprung der Einheit. Die Einheit wird durch das Symbol des Tai Ji dargestellt, das wir alle kennen, das aber nur zu oft falsch interpretiert wird.
Wir befinden uns noch in der reinen Metaphysik. Dies ist das Prinzip, ab dem alles entstehen kann, aber auch die Bestätigung des Nichts, des Wu Ji. In der Urknalltheorie stellt die Einheit (die Singularität) eine außergewöhnliche Konzentration von Energie dar, unendlich klein, die dennoch der Ursprung des gesamten Universums sein sollte, der »10.000 Dinge«, des Alls. Wenn übrigens der Ausdruck »10.000« verwendet wird, dann soll dies darauf hinweisen, dass es sich um etwas Unzählbares handelt, wie beispielsweise die »10.000 Sandkörner« am Strand. Möchte man eine Parallele zum Menschen ziehen, wäre das in etwa die Eizelle, die von einem Spermium durchdrungen wird: Das Programm ist noch nicht gestartet. Alles liegt in der Zukunft.
Dann kommt die Zwei: die erste Explosion, die erste Zellteilung, das Erscheinen der Dualität Yin-Yang (siehe Kapitel 3). Lassen wir für den Moment die Drei noch beiseite, die Trilogie Himmel-Mensch-Erde, das San Bao, die »drei Schätze«. Und je weiter wir uns von der Einheit entfernen, desto mehr nimmt die Aussage von Lao Tseu Form an. Man gelangt sehr schnell zu den acht Trigrammen, den 64 Hexagrammen des Yi Jing, und schließlich zu der symbolischen Zahl »10.000«. Der Urknall folgt derselben Symbolik. Nach einer anfänglichen Explosion dehnt sich das Universum mit dem Erscheinen von »10.000 Galaxien« aus, die sich immer schneller und schneller von der Einheit entfernen.
Es ist wichtig, diese Grundkonzepte zu verstehen, weil wir uns gewissermaßen in der Phase der »Explosion des Yang« befinden. Wir haben die globale Sicht auf den Organismus verloren, die Einheit, die er bildet, in Symbiose mit seiner Umgebung. Je weiter unser Fortschritt geht, desto mehr verlieren wir uns in den »10.000 Details« und desto mehr unterteilt sich die Medizin in »10.000« Disziplinen. Und für das Thema, das uns hier interessiert, die TCM, gilt dasselbe. Wir verlieren uns angesichts einer unglaublichen Menge an Techniken, die Schritt für Schritt entstehen, und die sich irgendwann alle widersprechen.
Die Tradition
Denken Sie daran, dass der Taoismus, eine der Tradition entstammende Denkströmung, die am Ursprung der TCM steht, eine rein metaphysische Basis ist, und nicht, wie man oft hört, eine Philosophie. Die Metaphysik ist einzigartig, wie alle Traditionen. Sie kann nicht hinterfragt werden, sondern wird verinnerlicht, während sich unsere Seele entwickelt. Es ist so und nicht anders. Sie lässt sich naturgemäß kaum in Worte fassen. Vielleicht durch Ideogramme. Diese Darstellungen sind notwendigerweise reduziert und in gewisser Weise nur »Segmente«, um nicht zu sagen Krümel reiner Metaphysik.
Die Metaphysik entwickelt sich aus dem, was man vielleicht als Intuition bezeichnen könnte, die »vertiefte Vision«. Wir werden sehen, dass Intuition und innere Wahrnehmung die wichtigste Rolle spielen, wenn ein Praktizierender bestimmte Techniken anwendet, wie beispielsweise die Akupressur oder die Akupunktur.
Aber mit der Explosion des Yang, der Multiplizität der »Egos«, dem schrittweisen Verlust der mündlichen Leere, die letztlich zum Vorherrschen der Anonymität führt, sind die »Philosophien« entstanden. Eine offenbar reduzierende Definition dieses Worts: anfänglich eine Metaphysik, der wir einen Hauch Sentimentalität hinzufügen, vielleicht sogar etwas mehr.
Der Unterschied zwischen Ideogramm und Schrift
Wenn Sie ein Wort lesen, fängt Ihr Gehirn an, die Buchstaben des Alphabets zu interpretieren. Befindet sich das Wort außerhalb eines bestimmten Kontexts oder ist es Ihnen unbekannt, wird es Ihnen nicht viel sagen. Ein Ideogramm dagegen ist ein Bild, ein intuitives Konzept. In unserer modernen Sprache könnten wir sagen, Schrift wird vor allem in unserer linken Hirnhälfte verarbeitet, der analytischen Hälfte, die zerlegt, aufbricht, herausarbeitet, auflistet. Im Gegensatz dazu aktiviert der Anblick eines Ideogramms eher unsere rechte Hirnhälfte, die Hälfte der Konzeptualisierung. Dort werden Ereignisse mit Abstand betrachtet und Informationen auf ganzheitliche Weise verarbeitet. Diese Hirnhälfte nimmt auf, aber zerlegt nicht. Ein Beispiel zeigt Abbildung 1.3: Das Ideogramm für Baum und Holz ist mu, mit Zweigen nach oben, Wurzeln nach unten und einem vertikalen Stamm. Die Wurzeln werden nach oben hin zu Zweigen. Und wissen Sie, welches Ideogramm ein Wäldchen darstellt? Lin. Und den Wald? Senlin. Wir lesen W.a.l.d. Das bedeutet nichts. Während mehrere Bäume sehr nachvollziehbar für einen ganzen Wald stehen.
Abbildung 1.3: Von links nach rechts die Schriftzeichen mu, lin und senlin
Um Missverständnissen vorzubeugen: