Die Tränen der Rocky Mountain Eiche. Charles M. Shawin

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin


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ihn durch die Hintertür und gelangte so zur Rück-

      seite von Blackmores Haus. Hier lag der Gemüsegarten, das umzäunte Gehege der Gänse und Hühner – und dahinter stand eine einfache, aber sauber gearbeitete Hütte. Dave trat in den einzigen Raum. Durch ein winziges Fenster fielen die Sonnenstrahlen schräg auf das karge Mobiliar: auf den gusseisernen Herd, den schmalen Tisch und die Bank dahinter – und auf die zwei Betten.

      In einem der Betten lag Daves Mutter. Sie war nicht zugedeckt, sondern hatte sich nur niedergelegt, um etwas auszuruhen. Einst war sie eine hübsche Frau gewesen, doch jetzt zeichneten sie Kummer, Armut und Krankheit. Obwohl sie erst zweiunddreißig war, umgaben dunkle Ränder die Augen. Seit zwei Jahren quälte sie eine heimtückische Krankheit, die selbst Mr Finn, der Arzt, nicht erkennen konnte. Der Medizin waren hier im entlegenen Westen bittere Grenzen gesetzt.

      Seine Mutter hieß Mary Hofer. Vor sechs Jahren war sie zusammen mit Heinrich Bennet in St. Louis eingetroffen – voller Sehnsüchte und Hoffnungen. Sie wollten heiraten, Kinder bekommen und hier ihre Zukunft aufbauen. Mary war bald schwanger geworden. Die Hochzeit war bereits angesetzt, als Heinrich Bennet nach einem Sturz vom Dach – er arbeitete für Blackmore – unerwartet starb. Als dann Dave zur Welt kam, war er ein uneheliches Kind und Mary eine sündige Frau, die plötzlich mittellos dastand. Die Bewohner von St. Louis lebten einen modernen christlichen Glauben. Vieles wurde von den starren europäischen Richtlinien nicht unbedingt übernommen, wenn aber etwas vom Glauben mit hinüber in die Neue Welt getragen wurde, dann war es das heilige Sakrament der Ehe, und außerehelicher Verkehr war hier wie dort noch immer eine Todsünde. Und ginge es nach Mrs Clara Gardner, stünde auf dieses Vergehen, das ihrer Meinung nach nur vom Teufel kommen konnte, der Kirchenbann. Also ließen die St. Louiser Mary Hofer – und auch Dave – ihr Verschulden deutlich spüren. Sie wurden zu keinen Gesellschaften eingeladen, und auch sonst mied man sie. Und wenn man mit ihnen verkehrte, tat man es in herablassender, strafender Art.

      Mary litt sehr darunter. Aber auch Dave spürte die Abneigung. Er wusste nicht, weshalb er anders behandelt wurde als andere Kinder; er selbst sah keinen Unterschied, und die Mutter redete ihm ein, dass es keinen gab. Und doch musste etwas an ihm sein, was das Verhalten der Mitmenschen rechtfertigte. Cuthbert hatte zwar verschiedene Andeutungen gemacht, Dave war aber nicht schlau daraus geworden. Noch war er zu jung und unbewandert, um die Gesetze der Gesellschaft und das versteinerte Denken zu durchschauen. Nur eines wusste er: Sobald es ihm möglich sein würde, wollte er mit seiner Mutter weg von hier, weit weg, irgendwohin, wo man in Frieden und Freiheit leben konnte.

      Nur einen gab es in der Stadt, der von Anfang an zu Mary und Dave stand: Mr Hastings Blackmore. Er baute die Hütte, gab ihnen kostenloses Feuerholz, Cuthberts ausgetragene Hosen für Dave, ab und zu einen viertel Laib Brot oder einen geräucherten Schinken, allerdings nur, wenn es Mrs Blackmore nicht bemerkte. Mr Blackmore war es auch, der bei Reverend Gardner vorsprach und erreichte, dass Mary gegen ein kleines Entgelt – mehr als ein Taschengeld war es nicht – die St. Michaels Kirche putzen durfte. Zwar fanden sich danach noch zwei reiche Haushalte, bei denen Mary putzte und Wäsche wusch, zum Leben langte es aber allemal nicht. Ohne die gelegentlichen Zubrote von Mr Blackmore wären Mary und Dave wohl schon längst verhungert. Mary wusste das nur zu gut und war Mr Blackmore deshalb sehr dankbar dafür.

      Als Dave ins Zimmer trat, richtete sich Mary Hofer langsam auf ihrem Bett auf, zupfte ihr Leinenkleid zurecht, das farblos vom vielen Waschen war, und fuhr sich verlegen über das zu einem Dutt gebundene Haar. Sie lächelte mild. ‚Er sieht verwahrlost aus‘, dachte sie mit Bedauern. Sein Hemd war an den Ärmeln zu lang und schon mehrfach geflickt, die Hose speckig und abgewetzt, die nackten Füße aufgeschunden.

      „Hast du das Schiff gesehen, Dave?”, fragte sie. Sanft strich ihre Hand über sein blondes Haar, das er vom Vater geerbt hatte. Als sie Daves Blick auf ihre rissigen, abgearbeiteten Hände bemerkte, verbarg sie sie rasch in einer Falte ihres Kleides.

      „Ja, Mum”, antwortete Dave ohne besondere Begeisterung. „Mr Blackmore hat mich auf seine Schultern gesetzt, aber Cuthbert hat mich mitgenommen und wir sind den Fluss entlanggelaufen.” Nach einer Weile fragte er: „Kann dieses Schiff überall hinfahren, Mum?”

      Mary Hofer schmunzelte. „Überall, wo es Flüsse gibt.”

      „Kostet die Fahrt mit dem Schiff sehr viel Geld?”, fragte er weiter.

      Sie sah ihn traurig an, denn sie wusste, worauf er anspielte. Der Traum seines Vaters war eine Farm weit im Westen gewesen, sie hatte ihrem Sohn manchmal davon erzählt. Dieser Traum lebte in Dave weiter.

      „Mehr, als wir je besitzen werden”, sagte sie. Auch sie würde lieber heute als morgen aus dieser Stadt weggehen, aber es war unmöglich.

      Als sie sich jetzt erhob und zum Tisch ging, fühlte sie wieder den Druck in ihrem Bauch. Es war kein stechender Schmerz, mehr ein unangenehmes Empfinden, als ob ein großer, schwerer Stein im Magen lag. Ihr war dann jedesmal übel und schwindelig. Leichte Linderung verschaffte sie sich mit sanftem Balsamtee. Manchmal aber war es so schlimm, dass ihr die Arbeit sehr schwer fiel; dann wieder waren die Symptome tagelang verschwunden. Bis jetzt hatte sie die Krankheit, was auch immer in ihrem Bauch heranwuchs, vor Dave verheimlichen können.

      Sie schnitt eine Scheibe Brot ab und reichte sie Dave.

      „Hast du keinen Hunger?”, fragte er.

      „Ich habe schon gegessen”, log sie, wie so oft, wenn sie nicht wusste, was es am nächsten Tag auf den Tisch geben würde.

      Die Zeit verging, und es kam, wie Reverend Al Gardner es vorhergesagt hatte: Hastings Blackmore hatte alle Hände voll zu tun. Er musste sogar zwei Männer einstellen, um die anfallende Arbeit bewältigen zu können. Der Strom Menschen, der vom Osten in die Stadt kam, schien unerschöpflich. Die meisten blieben, viele aber nutzten St. Louis nur als Zwischenstation auf ihrem langen Weg in den fernen Westen.

      Der Zuwachs und der Bedarf an neuen Häusern machte Blackmore reich. Trotz seines Reichtums vergaß er aber die kleine Hütte hinter seinem Garten nicht. Die kommenden Jahre hatten Dave und seine Mutter so viel zu essen wie lange nicht mehr. Nur manchmal blieben die großzügigen Zuwendungen für zwei oder drei Tage aus. Dann hatte es wieder Streit mit Mrs Ashley Blackmore gegeben. Ihr war die fremde Frau in ihrer Nähe lange schon ein Dorn im Auge. Nicht nur, dass ihr Mann für sie eine Hütte baute – das duldete sie noch – nein, er trug auch fast täglich Essen zu ihr, und dann kam es vor, dass er stundenlang im Innern der Hütte verweilte.

      Hastings Blackmore, der zupacken konnte wie ein Stier, war gegen die Anfeindungen seiner Frau hilflos wie ein Kind. Einen Mann niederzuboxen, davor hatte er keine Skrupel, aber gegen seine Frau anzukommen, hatte er nie geschafft. Er war ein sehr verständiger Mann und schrieb ihre gereizte Unzufriedenheit der Tatsache zu, dass Ashley keine Kinder mehr bekommen konnte. Vielleicht deshalb lehnte er sich nicht gegen sie auf. So wartete er jedesmal geduldig, bis sich das Gewitter verzog, um dann von neuem Mary und Dave mit dem Nötigsten zu versorgen.

      Trotz ihrer schleichenden Krankheit versah Mary ihre Arbeit ordentlich und pünktlich. Niemand bemerkte, wie langsam, aber beständig die Energie ihres Lebens wich, wie der Wuchs in ihrem Bauch sie aushöhlte und aussaugte. Und dennoch fand die zierliche Frau Kraft, abends im dürftigen Schein der Öllampe Dave Lesen, Schreiben und Rechnen zu lehren. Zum Lesen nahm sie die Bibel oder alte Ausgaben der Frontier News, die Blackmore gelegentlich brachte. Für die Schule fehlte das Geld, aber ihr Sohn sollte einen anständigen Beruf erlernen können, sollte erfolgreich werden und nie den würgenden Arm des Hungers spüren.

      Am 4. April 1822, einem verregneten, ungemütlichen Tag – Daves zehntem Geburtstag – kam Mr Blackmore in die Hütte und übergab Dave ein Buch. Es hieß Robinson Crusoe, und es war sein erstes eigenes Buch. Es habe Cuthbert gehört, sagte Mr Blackmore bitter, sein Sohn zeige aber weder am Lesen noch am Rechnen Interesse. An Mary gewandt fügte er seufzend hinzu: „Und die Arbeit ist ihm auch ein Gräuel. Ich weiß nicht, was aus dem Jungen werden soll.”

      Dave dagegen versank förmlich in dem Buch und fieberte mit Robinson Crusoe mit. Sein Lesen war noch holprig und langsam, doch als er das Buch zu Ende gelesen hatte, begann er wieder von vorne.

      Crusoe


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