Die Tränen der Rocky Mountain Eiche. Charles M. Shawin

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin


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und er hoffte, dass sie seinem Willen folgen und das Land zu seinem Garten machen. Aber was taten diese Menschen? Ihr braucht nur hinaus vor unsere Stadt zu sehen, und ihr erkennt, was aus diesen Menschen geworden ist. Sie lungern herum, dösen unnütz in der Sonne, schütten sich mit Whiskey voll, huren und stehlen. Soll das Gottes Wille sein? Wohl kaum.“ Er machte eine Pause und sah mit strengem Blick auf seine Gemeinde. Nach einer Weile erhob er seine Stimme wieder: „Ihr gottesfürchtigen Menschen, deshalb schickte uns der Herr in dieses Land, deshalb verlangte er den Aufbruch aus der Alten in die Neue Welt. Wie einst Moses nach Kanaan aufbrach, so sind wir aufgebrochen, um Gottes Fügung zu erfüllen, um zu säen und zu ernten. Wir sind gekommen, um den Garten Gottes zu verwalten, weil er uns selbst als seine Verwalter einsetzte. Bald werden die Siedler in eine ihnen unbekannte Welt aufbrechen. Sie werden uns verlassen und eine Lücke hinterlassen, aber sie verlassen uns auch, um Neues zu schaffen, um dort, wo Wüste ist, Getreide zu säen, um dort, wo Steine sind, Wege zu schaffen, um Gott zu gefallen. Deshalb brechen sie auf, und niemand der Zurückbleibenden soll betrübt sein, wenn ein Mitmensch fortzieht. Denn sie brechen auf im Namen Gottes.” Hier beendete der Reverend seine Predigt.

      Dave hatte aufmerksam zugehört. Obwohl er nicht alles begriff, beschäftigte ihn das Gehörte sehr. Und noch oft musste er darüber nachdenken.

      Der Gang zur Kirche und zurück hatte Mary mehr an als angenommen angestrengt. Entkräftet legte sie sich zu Hause sofort ins Bett. Ein paar Minuten Ruhe, beruhigte sie Dave, dann würde es wieder gehen.

      Ihr Sohn lächelte tapfer. Er wusste nicht genau, was seine Mum quälte; dass sie aber sehr krank war, spürte er wohl. Schon seit längerem bemerkte er ihren körperlichen Verfall und das Schwinden ihrer Kräfte. Aber er schwieg, weil seine Mum schwieg. Doch manchmal beobachtete er sie heimlich und sah, wie ihr das Laufen und sogar das Essen schwerfiel, und dann weinte er heimlich.

      Als kurz nach dem Gottesdienst Cuthbert kam, um Dave etwas enorm Wichtiges zu zeigen, schickte Mary ihn mit Cuthbert fort.

      „Soll ich nicht lieber bei dir bleiben, Mum?”

      „Geh nur”, sagte sie.

      Ihr erschöpfter Blick folgte Dave die Tür hinaus. Sie war froh, dass er weg war, denn der Schmerz ergriff sie jetzt mit eiserner Hand, heftiger und quälender als je zuvor.

      Cuthbert führte Dave zur Stadt hinaus. Eine halbe Stunde liefen sie über die Prärie, die hier flache Wellen warf und auf der jetzt das frische Gras zu sprießen begann, bis sie einen kleinen Mischwald erreichten. Hier blieb Cuthbert stehen und deutete auf eine Hütte, die eingekeilt war zwischen den kahlen Ästen eines uralten Eschen-ahorns.

      „Das ist sie”, sagte Cuthbert geheimnisvoll. Beide legten sich vorsichtshalber flach auf den Boden.

      Dave wusste sofort, was gemeint war: Vor ihm stand die Geisterhütte! Die Jungen in der Stadt hatten viel davon erzählt. Ein alter Medizinmann sollte hier leben, und seltsame Dinge sollten geschehen. Einmal, so sagte man, habe man von der Hütte aus einen Stern aufgehen gesehen, der geradewegs zum Himmel gestiegen war.

      Die Hütte sah verlassen aus und war so windschief, dass man befürchten musste, sie bräche jeden Augenblick knarrend in sich zusammen. Es machte nicht den Anschein, als bewohne sie irgendwer.

      „Geh!”, befahl Cuthbert.

      Dave schüttelte heftig den Kopf. Er fürchtete sich.

      „Du kletterst den Baum hoch und von dort aufs Dach und siehst durch das Loch. Erkennst du das Loch im Dach?”

      „Warum gehst du nicht?”, versuchte Dave sich zu drücken.

      „Weil ich zu schwer bin, Dummkopf!”, sagte Cuthbert. „Das Dach würde mich nie halten. Du hast doch nicht etwa Angst?”

      Dave sah ihn mit großen, flehenden Augen an, doch Cuthbert lachte spöttisch. „So was wie dich hab ich noch nie gesehen. Du bist ja ein richtiger Hasenfuß. Los, klettere schon rauf!”

      Dave zögerte noch immer. „Und der Indianer?”

      „Der ist weg. Oder siehst du ihn irgendwo?”

      „Und wenn er in der Hütte ist?”

      „Verdammt!”, brummte Cuthbert. „Mein Vater hält so große Stücke auf dich. Wenn der erfährt, dass du dir vor Angst in die Hose machst, dann wird er ganz schön enttäuscht sein, sag ich dir.”

      „Meinetwegen”, sagte Dave jetzt. „Und du meinst wirklich, das Dach hält mich aus?”

      „Darauf wette ich. Ich würde es ja selbst tun, aber ich bin fast doppelt so schwer wie du.”

      Das stimmte zwar nicht, aber es wirkte. Vorsichtig stand Dave auf und musterte ängstlich die Hütte und den kahlen Ahorn.

      „Geh endlich!”, drängte Cuthbert.

      Behutsam trat Dave näher. Das feuchte Laub dämpfte seine Schritte, und unbehelligt erreichte er den Baum. Die Hütte sah von nahem noch Angst einflößender aus. Eine Tür gab es auf dieser Seite nicht, und das einzige Fenster war vernagelt. Die Bretter waren von der Fäulnis befallen, dunkles Moos bedeckte sie. Dave blickte zurück zu Cuthbert, der fast ganz verschwunden war; nur sein Kopf spitzte etwas über dem Boden hervor.

      Der Stamm war von der Frühlingsfeuchte nass und glitschig, wenn Dave aber etwas sehr gut konnte, dann klettern. Im Nu war er oben. Er hangelte sich einen Ast entlang und befand sich nun direkt über dem Dach. Es war mit Schindeln bedeckt, die der Sturm an einer Stelle weggeblasen und so eine tellergroße Öffnung geschaffen hatte. Durch sie konnte man ins Innere sehen. Aber nicht von Daves momentanem Standpunkt aus, so weit er sich auch vorbeugte. Er musste tatsächlich den Baum verlassen und aufs Dach steigen.

      Er zögerte. Würden ihn die schwachen Schindeln auch wirklich tragen? Wieder schaute er zurück zu Cuthbert. Der richtete sich jetzt halb auf und fuchtelte mit den Armen. Mach schon! bedeutete das.

      Dave hangelte sich vom Ast und berührte mit den nackten Füßen das Dach. Er ließ sich etwas weiter ab, um die Stabilität zu prüfen. Die Schindeln gaben ein wenig nach, schienen aber seinem Gewicht standzuhalten.

      Im selben Augenblick aber, als er den Ast losließ, brachen die Schindeln. Dave fiel acht Fuß tief und schlug hart auf dem ausgetretenen Boden auf. Nur der rechte Arm war leicht aufgeschürft, ansonsten blieb er unverletzt.

      Durch die geöffnete Tür und durchs Dach fiel fahles Licht in die Hütte. Es roch nach muffigem Rauch; auf dem abgescheuerten Tisch vor ihm lagen Essensreste.

      Dave erhob sich. Ein unbestimmtes Gefühl lähmte seine Gedanken. Irgendwas oder irgendwer war mit ihm in diesem Raum. Er wagte kaum, sich umzusehen. Als er es doch tat, bemerkte er zuerst den Schatten, der schummrig an der Wand klebte. Wie durch einen inneren Zwang drehte sich Dave weiter um die eigene Achse. Und jetzt sah er auch den, der den Schatten warf: Vor ihm stand der alte Indianer. Er schien älter als der Ahorn draußen, das Haar schlohweiß, das dunkle Gesicht von tiefen Falten durchgraben; wie versteinert wirkte es. Dunkle, glanzlose Augen musterten Dave ruhig. Trotz seiner einfachen, aber sauberen Kleidung wirkte der Indianer stolz und erhaben.

      Dave stieß einen entsetzten Schrei aus, eine Sekunde später packte ihn eine knochige Hand am Arm.

      „Wie heißt du?”, fragte der Alte mit rollender Stimme, die Dave an das bedrohliche Grollen eines Präriegewitters erinnerte.

      „David Hofer.”

      Der Indianer ließ Dave los. Er sah ihn aber so finster an, dass der Junge nicht wagte, sich zu rühren. Mit einer vagen Kopfbewegung wies er nach draußen.

      „Wer ist dein Freund?”, fragte er.

      „Mein Freund?”

      „Der, der eben geflüchtet ist”, sagte der Alte.

      „Cuthbert Blackmore”, antwortete Dave leise.

      „Hüte dich vor ihm!”, sagte der Medizinmann und blickte Dave aus verschwommenen Augen an. Er sah ihn so intensiv an, dass Dave zu spüren glaubte, wie dieser Blick seinen Körper durchwanderte und


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