Die Tränen der Rocky Mountain Eiche. Charles M. Shawin
sah in die Ferne und träumte von einer anderen Welt. Einer Welt, die nur in seinem Kopf existierte und in der nur er bestimmte. Nicht Cuthbert, nicht der Reverend oder dessen Frau oder sonstwer sagte, was wann und wie zu tun sei, nein, nur er allein war Herr seiner Welt.
Einen Hauch dieser Welt vermittelten ihm die Fallensteller, die sich jedes Frühjahr hier in St. Louis sammelten. In großen Booten schifften sie sich auf dem Missouri ein oder zogen mit Mulikarawanen westwärts, um dann Monate oder gar Jahre in der Wildnis zu verbringen. Dave wusste nicht viel von diesen nomadisierenden Menschen. Mr Blackmore hatte nur einmal bemerkt, dass es besser sei, sich wegen ihrer Rauflust nicht mit ihnen anzulegen.
Aber auch in Mr Blackmore steckte jener Ur-Instinkt, der die Fallensteller hinaus trieb. Wenn es ihm die Zeit erlaubte, nahm er seine Kentucky-Büchse vom Haken und ritt in die Prärie. Manchmal blieb er Tage weg und kehrte dann mit einem Gabelbock oder einem Truthahn zurück.
Einmal durften auch Cuthbert und Dave mit. Sein kleines Herz pochte, als er den blühenden Teppich der Prärie erblickte, den Duft der Blumen und Gräser in sich aufnahm, den Wind in seinem Haar spürte und die riesigen Herden Büffel dahinziehen sah: eine Erfahrung, die er nie vergessen sollte.
Als er zurückkam, schwärmte er seiner Mutter vor und fragte sie, ob sie nicht hinausziehen könnten in die Prärie. Er könnte eine Hütte bauen, und für Wild würde er auch sorgen. Und Geld bräuchten sie dort keines, fügte er schnell hinzu, um eventuelle Einwände im Vornherein abzuwehren.
Mary Hofer schmunzelte. Dave hatte wahrlich selten Grund, sich so herzhaft zu erfreuen, deshalb wollte Mary seine Illusionen nicht mit einem Hammerschlag zerstören und sagte nur: „Das werden wir, Dave. Später werden wir das.”
Leider blieb es bei diesem einen Jagdausflug. So oft aber Dave die Blackmores besuchte, betrachtete er die Büchse, die in der Küche über der Essecke ihren Platz hatte und die ihn stets an das einzigartige Erlebnis erinnerte. Es war keine wertvolle Waffe, und sie war bei weitem nicht so elegant wie die Büchsen in Hawken‘s Werkstatt, aber für Dave war es das schönste Gewehr der Welt.
Später ritt er manchmal auf Bessie, Mr Blackmores gutmütiger Stute, in der näheren Umgebung aus, das Gewehr bekam er aber nie mit. Mr Blackmore wollte es niemandem geben.
Mit großer Befriedigung stellte Dave in jenen Tagen fest, dass sein Wachstum anscheinend erst jetzt begann. Zwar war er noch nicht ganz so groß wie Cuthbert, der Unterschied hatte sich aber deutlich verringert. Und auch die Muskeln begannen zu schwellen. Seine Mum bemerkte einmal, als er draußen vor der Hütte in einem Holztrog badete, er gleiche von Tag zu Tag mehr seinem Vater. Dave war sehr stolz darauf. Sie musste ihm jetzt viel von seinem Vater erzählen, den er nie kennengelernt hatte.
„Er war sehr groß”, sagte Mary und blickte versonnen in die Ferne, so, als sähe sie ihn wirklich vor sich. „Er war ein sehr gutmütiger Mann und ein geschickter Handwerker. Und er war immer sehr lieb und anständig zu mir.”
„Aber er hat doch etwas Böses getan.” Dave sah mit großen Augen zu seiner Mutter empor.
Mary hatte es ihrem Sohn eigentlich noch eine Zeit lang verheimlichen wollen, da er aber anscheinend schon das eine oder andere davon gehört hatte, wollte sie ihm die Wahrheit sagen. Lieber wollte sie es tun, als dass ein anderer es tat, der vielleicht Unschönes dazu-
dichtete. „Weißt du”, sagte sie und kniete sich neben ihm nieder, „Gott gab uns Gesetze, die wir Menschen befolgen müssen. Eines dieser Gesetze verlangt, dass ein Mann und eine Frau erst ein Kind haben dürfen, wenn sie miteinander verheiratet sind.”
„Und ihr wart nicht verheiratet, als ich geboren wurde? Warum nicht, Mum?”
„Weil dein Dad starb, bevor wir heiraten konnten.”
Dave sah lange vor sich ins Badewasser. Er überlegte. Schließlich fragte er: „Und deshalb seid ihr Sünder?”
Mary nickte. „Ja.”
„Das macht nichts”, sagte Dave gleichgültig. „Ich hab dich trotzdem lieb, Mum. Und Dad auch.”
Mary war froh, dass es ihr Sohn so gelassen aufnahm. Er war noch ein Kind und sah die Welt mit anderen Augen. Was ihr Sorgen machte, war, dass Dave wegen ihr zum Außenseiter abgestempelt wurde.
Wieder, wie schon so oft, versank sie in schweren Gedanken, wie die Zukunft wohl für ihn ausshen würde.
Dave dachte längst nicht mehr darüber nach, wer welche Sünde beging. So oder so, sie waren sein Dad und seine Mum. Das war ihm genug. „War Dad sehr stark?”, wollte Dave nun wissen.
„Ja, er war sehr stark.”
„So stark wie Mr Blackmore?”
„Gewiss”, sagte sie. Und nachdem sie sich umgesehen hatte, fügte sie kichernd hinzu: „Dein Vater war aber nicht so dick.”
Beide lachten herzhaft.
Es war das letzte Mal, dass Dave seine Mutter so lachen sah. Die Krankheit ließ sich nun nicht länger verbergen. Der Bauchdruck nahm zu, und Mary musste häufig erbrechen. Oft war Blut dabei. Als Folgeerscheinung verlor sie enorm an Gewicht, und ihre Haut wurde aschfahl.
Doktor Finn, den Mr Blackmore durch Dave holen ließ und bezahlte, war machtlos. Er gab ihr ein schmerzstillendes Mittel, mehr konnte er nicht tun.
Die Arbeit bei den zwei Familien musste Mary aufgeben, in der Kirche aber wollte sie unbedingt weiter arbeiten, wenn es ihr auch hart ankam. Gerade jetzt suchte sie die Nähe Gottes, der sie nie verlassen hatte, dessen war sie sich trotz ihres schweren Schicksals sicher. In der Hausarbeit wure sie von Dave unterstützt, der Holz hackte, Wasser holte und alles tat, um ihr das Leben etwas zu erleichtern. Mr Blackmore kam so oft wie möglich, und Weihnachten 1822 lud er Mary und Dave zu sich ins Haus ein. Mrs Blackmore war einverstanden und briet eine fette Gans, zu der sie weißen Wein servierte. Die Gans vertrug Mary nicht, ließ sich aber ein Glas Wein einschenken. Das sei der erste Wein, sagte sie, und wohl auch der letzte. Sie sagte es mit einem bekümmerten Blick auf ihren Jungen.
Als der Frühling kam, trat unerwartet Besserung ein. Mary hatte das Gefühl, als beseele neue Kraft ihren abgemagerten Körper. Sie nutzte jetzt mehr als früher die Zeit zu einem Spaziergang in der aufblühenden Natur – noch nie empfand sie sie so voller Wunder –, genoss die lauwarme Prärieluft und dankte ihrem Schöpfer. Schon aus diesem Grund wollte sie unbedingt in die Kirche.
Viele waren zum Gottesdienst erschienen; die meisten wussten von Mary Hofers Krankheit und sahen in ihr die gerechte Strafe für ihre begangene Tat, wenngleich jetzt der eine oder andere Mitleid mit ihr empfand.
Mary und Dave gingen die Reihen entlang und hofften, dass jemand rutschte und ihnen Platz bot. In der vordersten Reihe saß Mrs Clara Gardner, die Frau des Reverend. Ihr, die nur „die Sittenwächterin” genannt wurde, war es maßgeblich zuzuschreiben, wie die anderen Frauen Mary behandelten. Das Seltsame war, dass Mary ihr es nicht verübelte, wusste sie doch selbst, dass sie sich der Sünde schuldig gemacht hatte. Und als Frau eines Priesters hatte Mrs Gardner wohl auch die Pflicht, auf Sitte und Moral zu achten.
Neben Mrs Gardner war noch Platz frei, sie aber hob nur den Kopf und sah in kühler Abweisung weg.
‚Selbst im Hause Gottes‘, dachte Mary.
In der hintersten Bank fanden sie und Dave einen Platz, dort setzten sie sich demütig nieder.
Als Reverend Gardner seine Stimme erhob, erfüllte sein kräftiger Tenor das Kirchenschiff. Er sprach von der Zeit des Aufbruchs. Des Aufbruchs zum Säen, des Aufbruchs in ein neues Land, wie es jetzt wieder die Siedler taten, die gen Westen zogen. Es könne aber keinen Aufbruch geben ohne einen vorherigen Abschied, sagte der Reverend, egal, wohin man auch aufbräche.
Unwillkürlich ergriff Mary Hofer die Hand ihres Sohnes. ‚Was wird aus ihm?‘, fragte sie sich. Sie sah ihn lange von der Seite an, ohne dass es Dave bemerkte.
„Gott will, dass wir ständig aufbrechen, immer wieder von neuem”, rief der Reverend seiner Gemeinde zu. „Gott schenkte uns diese Erde, und er machte uns zu Herren