Die Tränen der Rocky Mountain Eiche. Charles M. Shawin

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin


Скачать книгу
Mensch”, sagte der Medizinmann.

      Dave wurde es unheimlich.

      „Ich muss heim”, würgte er schnell hervor. „Mum wartet auf mich.”

      Doch der Alte schüttelte traurig den Kopf. Nach einer Weile sagte er: „Tu immer, was du tun musst, David Hofer. Die Menschen sind schlecht, höre deshalb nur auf dein Herz.“

      Er trat etwas zur Seite, und Dave stürzte zur Tür hinaus. Er rannte nur noch, sah weder zurück noch zur Seite. Erst kurz vor der Stadt glaubte er sich in Sicherheit. Erschöpft sank er ins Gras.

      Cuthbert war tatsächlich sofort geflüchtet, als Dave durchs Dach gebrochen war. Er versteckte sich hinter einem der Häuser, und als er Dave jetzt sah, trat er erleichtert hervor. Auch er war außer Atem. Und er schämte sich, weil er wie ein Hasenfuß davongerannt war.

      „Das bleibt unser Geheimnis, nicht wahr, Dave?”, keuchte er.

      Daves Herz pochte wild. Er nickte nur.

      „Niemand wird es jemals verraten, okay, Dave?”

      „Ja.”

      Noch immer stand Dave die Angst in den Augen, als er zurück sah, dorthin, wo die Hütte stand. Wie gläsern war sein Blick. Und selbst als er sich eine halbe Stunde später erhob und zur Hütte seiner

      Mutter trottete, zitterten seine Knie. Dieses Erlebnis wirkte in Dave lange nach. Noch Jahre später vermutete er in jedem Indianer etwas Mystisches und Geheimnisvolles. Und auch die Worte des alten

      Medizinmannes, die ihm jetzt noch ohne Bedeutung erschienen, vergaß er nicht.

      Mary Hofer hielt die Schmerzen nicht mehr aus. Auf den Knien schleppte sie sich zur Tür und schrie nach Hastings Blackmore. Aber nur Mrs Blackmore kam, ihr Mann war auf einer Baustelle. Ashley half Mary wieder ins Bett und wollte dann weg, um den Arzt zu holen. Doch Mary hielt sie am Arm fest.

      „Holen Sie bitte Reverend Gardner”, bat sie.

      Ashley starrte die Todkranke eine Zeit lang an. All die Jahre hatte sie Mary gehasst, weil Hastings ihr die Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die sie von ihm so sehr vermisste. Wie oft hatte sie der hübschen Nachbarin den Tod gewünscht. Sollte sich ihr Fluch jetzt tatsächlich erfüllen? Mit einem Mal hatte sie Mitleid mit dieser Frau, und es tat ihr im Herzen weh, sie sterben zu sehen.

      Ashley nickte stumm, dann eilte sie weg. Sie verständigte den Reverend, der versprach, sofort zu kommen, und rannte dann weiter zur Baustelle ihres Mannes. Mr Blackmore war sehr betroffen. Er warf seine Axt in die Ecke und eilte mit seiner Frau zurück zu Mary.

      Dave ahnte nicht, wie es zu diesem Zeitpunkt um seine Mutter stand. Der geheimnisvolle Indianer spukte ihm noch im Kopf herum, als er bei der Hütte ankam. Überrascht sah er, dass Mr und Mrs Blackmore vor der Tür warteten. Mr Blackmore saß am Boden, das Gesicht in die riesigen Hände gelegt.

      „Du kannst jetzt nicht rein”, sagte Mrs Blackmore mit ungewohnt weicher Stimme. „Der Reverend ist bei deiner Mum.”

      Dave verstand nicht, weshalb der Reverend bei seine Mum war. Sie war heute doch erst in der Kirche gewesen.

      „Was ist mit Mum?”

      Ein plötzlicher Gedanke schoss ihm in den Kopf. Er erinnerte sich, dass man den Reverend vor zwei Wochen zu der alten Frau Landers, zwei Häuser weiter, geholt hatte, und kurz darauf war sie gestorben. Mit großen, entsetzten Augen starrte er Mrs Blackmore an.

      Ashley war froh, nicht antworten zu müssen, denn die Tür öffnete sich und Reverend Gardner trat ins Freie. Gardner war in viele Häuser gekommen und hatte im Laufe seiner Priesterarbeit das Elend und den Tod kennengelernt, die ihn mit der Zeit dickfellig hatten werden lassen. Als er aber den Jungen vor der Tür stehen sah, der artig eine Verbeugung machte – die Mutter hatte großen Wert darauf gelegt, Gottesdienern die ihnen zustehende Ehre zu erweisen – und der brav „gelobt sei Jesus Christus” murmelte, da ergriff selbst den Reverend die Wehmut. Etwas unbeholfen legte er seine Hand auf Daves Kopf. Auf die fragenden Blicke des Ehepaars Blackmore antwortete er kurz: „Mary Hofer ist heimgegangen.”

      Mr Blackmore war der Erste, der in die Hütte stürzte, seine Frau folgte ihm. Kurz darauf kam sie wieder heraus, um sich um Dave zu kümmern, aber der Junge war verschwunden.

      Dave rannte so weit und schnell er konnte; die Stadt hinaus, irgendwohin. Kraftlos ließ er sich zu Boden fallen. Alles drehte sich um ihn: die Bäume, die welligen Hügel, der Himmel, die Wolken. Sein Kopf war wie leer, so, als schwebe er zwischen den Welten.

      Als er wieder zu denken fähig war, erinnerte er sich an die Predigt, die er erst heute morgen in der Kirche gehört hatte. Und jetzt wusste er, dass seine Mum aufgebrochen war in eine andere Welt.

      Am 15. April 1823 wurde Mary Hofer beerdigt. Hastings Blackmore hatte die schönsten Bretter einer Linde aus seinem Lager gesucht und einen Sarg gezimmert. Als er das Kreuz in das Holz schnitzte, zitterten seine Hände.

      Ashley hatte ihr blaues Sonntagskleid umgenäht, das sie der Toten anzog. Dave dachte, seine Mum sähe darin aus wie eine vornehme Dame. Im Grunde war sie das auch gewesen. Vornehm in ihrer

      Gesinnung, ihrer Großherzigkeit, ihrer unerschöpflichen Liebe und ihrem Glauben.

      Der Elfjährige begriff bei weitem nicht, weshalb seine Mutter hatte sterben müssen. Er hatte gehört, wie Mr Blackmore am Tage vor der Beerdigung gesagt hatte, sie sei an seelischem Leid gestorben, was immer auch das bedeuten sollte.

      Alle, die Mary Hofer gekannt hatten, begleiteten sie auf ihrem letzten Weg zum Gottesacker. Auch Clara Gardner, die Mary am meisten verurteilt hatte, war unter ihnen.

      Unbewusst empfand Dave Hass. Er wusste nicht, woher dieser Hass kam, vielleicht war es die plötzliche Anteilnahme, die seiner Mum vorher immer verwehrt gewesen war. Immer hatte sie sich danach gesehnt, und jetzt weinten einige der Frauen sogar um sie. Eines aber wusste er sehr genau: Diese Menschen waren verlogener und schlechter, als es seine Mum, der sie die Sünde vorgeworfen hatten, je gewesen war. An diesem Tag wünschte Dave, mit seiner Mum aufbrechen zu dürfen in eine andere Welt.

      Der Hass, den Dave in sich barg, ließ keine Tränen aufkommen. Er weinte nicht, als seine Mutter hinaufgetragen wurde auf jenen kahlen Hügel, den tote Holzkreuze bedeckten. Er weinte auch nicht, als sich der Sarg in die rotbraune Erde senkte. Er weinte erst, als er die leere Hütte betrat, das leere Bett sah und das abgetragene alte

      Leinenkleid darauf, und mit einem Mal in vollem Umfang begriff: Seine Mum war ihm für immer genommen.

      Die nächste Zeit war schwer für ihn. Dave wohnte weiterhin in der Hütte, er wollte sie einfach nicht verlassen. Sein Verstand sagte ihm, dass er seine Mum nie wiedersehen würde, doch sein Herz hoffte stets darauf, denn deutlich war hier – zwischen dem einfachen Herd, dem schlichten Tisch und dem leeren Bett – die Aura der geliebten Mutter zu spüren. Täglich lief er den Hügel hinauf zum Grab, auf dem Mrs Blackmore Rosen angepflanzt hatte, und manchmal ertappte er sich dabei, wenn er leise weinend zu seiner Mum sprach.

      Erst viele Tage später ging Dave wieder in die Stadt. Die Aversion, die die St. Louiser gegen seine Mutter offengelegt hatten, übertrug sich nicht unbedingt auf ihn. Zwar war er noch immer Außenseiter, und manchmal wurde er von schlecht erzogenen Kindern ‚Bastard‘ gerufen,;Dave aber hatte gelernt, damit umzugehen. Dennoch versuchte er, die Menschen zu meiden. Ein tiefer Hass war seit der Beerdigung in ihm gewachsen, und er verteufelte diese zur Schau ge-

      tragene Scheinheiligkeit. Im Grunde waren ihm die Kinder lieber als die Erwachsenen; sie sagten wenigstens, was sie empfanden.

      Manchmal, wenn ihm die Einsamkeit in dieser Stadt zu bewusst wurde, erinnerte er sich an den alten Medizinmann in der windschiefen Hütte. Auf irgendeine Weise fühlte er sich zu ihm hingezogen, denn im Grunde waren beide gleich: Auch der Indianer war ein aus der Gesellschaft Ausgestoßener. So schlich er sich einmal trotz seiner Furcht zu der gespenstischen Hütte, fand sie aber verlassen vor. Dave fragte sich, was aus dem Indianer geworden war. Erst Jahre später sollte er von dessen traurigem


Скачать книгу