eXtRaVaGant * Mond oder Sonne. Leona Efuna

eXtRaVaGant * Mond oder Sonne - Leona Efuna


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vergangene Zeiten und Orte. Wir haben überall geschrieben.

      Unzählige Backstageräume.

      Unzählige Kinderzimmer.

      Unzählige Ballettsaalecken.

      Unzählige Gedanken.

      Ich will sie nicht ansehen.

      In dem Karton ist alles, was mir jemals etwas bedeutet hat. Unsere sechs Jahre alten Briefe aus der Zeit, in der ich bei Dad wohnte und du den Nannyhorror hattest. Unsere DVDs und die vielen Fotos, die sich mit der Zeit angesammelt haben, alle Zeichnungen aus dem Kunstunterricht in Alabama, Kalifornien oder Arizona. So viele Erinnerungen an dich.

      Du wogst immer fünf Kilo weniger als ich, obwohl wir genau gleich groß sind. Ich wiege jetzt genau so viel wie du, auch wenn ich weiß, dass du nie gewollt hättest, dass es mir schlecht geht.

      Ohne dich ist die Erde ein beschissener Ort.

      Erinnerst du dich an deine Blumenkind-Songs? Es waren keine richtigen Songs, du machtest nur Reime aus Wörtern, die dir in den Sinn kamen, und ich liebte es, Robyn.

      "Always be happy, you’re a frickin’ flower child. Never be sad, shine bright, heal the world with your light."

      Ich war zwar nie ein Blumenkind, meine Definition für Hippie, aber ich liebte deinen Singsang genau so sehr wie unsere Gesangseinlagen mitten im Unterricht, bis selbst die Lehrer schmunzelten.

      Ich weiß nicht, ob es dir bewusst war, aber du brachtest Leute oft zum Schmunzeln. Alleine hätte ich mich Dinge, wie im Unterricht zu singen, niemals getraut.

      Ich bewege genau in diesem Moment meine Lippen und forme die Wörter in meinem Kopf.

      Wie kann man einen Menschen so sehr vermissen wie ich dich? Weißt du noch, wie du immer sagtest: "Baby, als deine dich liebende beste Freundin sage ich dir jetzt, dass ich eine wunderbare Überraschung für dich habe"?

      Ich hasste deine wunderbaren Überraschungen, weil ich in diesen Überraschungen immer mehr im Mittelpunkt sein musste, als mir lieb war, und weil sie meistens darauf hinausliefen, dass ich mit dir auf der Bühne stand und irgendetwas "klimpern" sollte, wie du es nanntest.

      In solchen Momenten nanntest du mich "Baby", ich lachte darüber und wir flochten uns witzige Frisuren zu

      dröhnend

      lauter

      Musik.

      Goodbye

      Paige

      [02]

      New York

      Mom gibt mir knapp vierundzwanzig Stunden Zeit, mich zu verabschieden, mehr von meiner Umgebung als von den Menschen. Sie gibt mir auch Dads Adresse.

      Dad heißt Julien, trägt den gleichen Nachnamen wie ich, und neben seinem Musikschullehrerberuf spielt er Klavier und Gitarre in einer Hardrockband. Von ihm habe ich wohl die Musikliebe geerbt. Wenigstens eine Sache, die wir gemeinsam haben.

      Auf Google Maps scheinen mir das himmelblaue Haus und sein winziger Garten mit dem weißen Zäunchen im Stadtteil Gerritsen Beach im Süden von Brooklyn und der nahe gelegene Marine Park bekannt.

      Wie etwas aus meinen Träumen.

      Oder eine ferne, alte Erinnerung.

      Nachdem Boston meine allererste richtige Heimat wurde, soll ich jetzt also nach New York City ziehen.

      Eine Stadt, die vier Autostunden entfernt liegt.

      Bei dem ersten Versuch, meine Sachen zu packen, ende ich mit einem meiner Lieblingsbücher in einer Zimmerecke. Als ich das realisiere, klappe ich das Buch zu.

      Alles, was ich mache, ist nur ein Ablenkungsmanöver, programmiert von meinem Kopf, der um einiges klüger ist als mein Herz.

      Ich bin froh, dass gerade Weihnachtsferien sind, sonst hätte sich die Nachricht von Robyns Unfall wie ein Waldbrand verbreitet und nicht so unscheinbar wie eine vor sich hin flackernde Kerze.

      ♫

      Ich stehe vor dem Haus, in dem ich meine ganze bisherige Teenagerzeit verbracht habe. Mom hievt nacheinander meine drei Koffer ins Auto und schlägt die Kofferraumtür dann schwungvoll zu. Sie ist immer noch um einiges stärker als ich. Sie meint, das komme vom Ballett. Ich sehe mit zusammengekniffenen Augen ein letztes Mal zurück und versuche, alles genau so, wie es jetzt ist, in Erinnerung zu behalten.

      Old Lady Jenkins, die unter uns wohnt, öffnet die Haustür, und Fox, ihr Bulldogenmännchen, läuft ihr gehetzt hinterher, als sie auf den Gehweg tritt. Wie immer schaut ihr ausgeleiertes, altrosa Nachthemd unter ihrem Mantel hervor und ihr Gesichtsausdruck ist grimmig. Als sie uns entdeckt, wendet sie ihren Blick ab und tut so, als hätte sie uns nicht gesehen.

      »Du hast alles?« Ich nicke und öffne dann die Autotür.

      Ich lockere die Schnürsenkel meiner Schuhe, streife sie mir von den Füßen und kuschle mich in den Sitz.

      ♫

      »Paige, wir sind bald da.«

      Schlaftrunken schlage ich die Augen auf, bringe meine zerzausten, quer im Gesicht verteilten Haare in Ordnung und schiebe meinen Haarreif zurecht. Unzählige Wolkenkratzer rauschen an uns vorbei. Manhattan. Vor uns liegt die Brooklyn Bridge.

      Eine halbe Stunde später schlüpfe ich wieder in meine Schuhe und steige aus dem Auto, ohne sie zu binden.

      Dads Haus und der Garten haben sich gut gehalten, sie sehen sogar aus, als wurde ihnen erst kürzlich wieder neues Leben eingehaucht. Sicher hat Dad einen Gärtner engagiert, ich denke nicht, dass er selbst die Blumen so schön pflanzen kann.

      Ich schnappe mir einen der Koffer und klingle. Auf dem Klingel­schild steht jetzt außer ›Courtney‹ noch ›Winter‹.

      Ach du Scheiße.

      Dad hat es wahr gemacht und irgendeinen Studenten bei sich einziehen lassen.

      Er steht in der Tür, lächelt, und nimmt mir eilig einen Koffer ab.

      »Hi«, meine ich nur, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.

      Ich laufe durch den Flur.

      Im Hintergrund höre ich Mom und Dad gereizt diskutieren.

      Dann komme ich im Wohnzimmer an und erschrecke.

      Dort sitzt ein skurril aussehender Typ, der anscheinend die Play­station wieder zum Laufen gebracht hat. Irritiert durch mein erschrockenes Fiepen dreht er sich zu mir um, steht hektisch auf und kommt auf mich zu.

      Das kann doch nicht Dads Ernst sein.

      »Hey Kleine, ich bin Damian. Und du siehst aus, als hättest du das dringende Bedürfnis, mir deine schmutzigsten Geheimnisse zu verraten.« Der Junge mit den langen Haaren und dem sehr ausgeprägten deutschen Akzent hält mir seine Hand hin. Ich schüttle sie, skeptisch, was das hier werden soll.

      »Hey, ich bin Paige«, sage ich mit brüchiger Stimme und es ist mir unangenehm, dass er nichts darauf antwortet.

      Damian, der eine Baggy und ein Shirt trägt, das ihm einige Num­mern zu groß ist, geht einen Schritt nach hinten und schaut mich abwartend an.

      »Ähm.«

      Wehe, du sagst es so, dass es idiotisch klingt.

      »Tut mir leid, aber bist du nicht zu jung, um zu studieren?«

      Damian sieht mich einen Moment lang an, bis er in schallendes Gelächter ausbricht.

      Und ich komme mir wirklich vor wie eine Idiotin.

      »Äh, ja.«

      Super, Paige, jetzt denkt er, du wärst vollkommen bescheuert.

      Als ich merke, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt, drehe ich mich zur Treppe und versuche, meinen Koffer nach oben zu schleppen. Erfolglos. Damian geht pfeifend die Treppe


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