eXtRaVaGant * Mond oder Sonne. Leona Efuna

eXtRaVaGant * Mond oder Sonne - Leona Efuna


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einen Kopf größer als ich, also sicher fast zwei Meter groß.

      Als ich mit wackeligen Beinen aufstehe, merke ich, dass mein Unter­bewusstsein sich noch immer ungewohnt schweigsam verhält. Meine innere Stimme hört normalerweise auf, meine Aktionen stumm zu beobachten, wenn ich beginne, klar introvertiert zu handeln. Für eine lange Zeit keine Worte mit anderen Menschen zu wechseln, sieht sie als Aufforderung, mich zuzutexten. In mir ist es nie still. Entweder höre ich sie oder die Menschen.

      Ich laufe neben Curtis aus dem Restaurant. Er kramt in seiner Jacken­tasche nach Zigaretten und zündet sich eine an. Ich beobachte ihn stumm und wir laufen wie selbstverständlich nebeneinander nach unten zum Strand. Unser Atem hinterlässt Wolken in der eiskalten Winterluft um uns herum.

      »Warst du schon mal auf Coney Island, Paige?«, fragt er mich und zieht an seiner Zigarette. Wenn Menschen beginnen, Fragen zu stellen, ist es meistens nicht, weil sie möchten, dass ich etwas sage, sondern weil sie bemerken, dass es in einer Konversation nicht darum geht, möglichst viel Zeit damit zu verbringen, Monologe zu führen, während das Gegenüber nur nickt und schweigt.

      Aber bei Curtis ist mir das egal.

      Er sieht aus wie jemand, der eigentlich viel zu erzählen hat, es aber nie wirklich macht.

      Erinnerungen flackern vor meinem inneren Auge auf, mein Herz klopft ungesund schnell, als ich meinen Mund öffne, um zu antworten: »Als ich zehn war, hat mein Dad hier den ganzen Sommer über jeden Tag mit mir schwimmen geübt.«

      Curtis deutet ein Lächeln an und atmet den Rauch aus. Eine schwar­ze Haarsträhne löst sich aus seiner Sonnenbrille und fällt ihm in die Stirn.

      »Du bist also Juliens Tochter.« Wieder sagt er es mehr so, als würde er seine Gedanken aussprechen, und nicht so, als würde er eine Antwort von mir verlangen, also nicke ich nur unmerklich und mustere ihn verstohlen von der Seite.

      »Du redest nicht so gerne, kann das sein?« Curtis’ Mundwinkel zucken, als er seinen Kopf in meine Richtung dreht und mich anschaut. Das Hellbraun seiner Augen wirkt wie flüssiges Gold.

      Ich räuspere mich, öffne meinen Mund und schließe ihn wieder, nur um danach nervös auf meiner Unterlippe herumzukauen. »Meistens ist es in meinem Kopf laut genug.«

      In diesem Moment höre ich das Meer rauschen und die Seevögel schreien, aber in mir ist es still. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so alleine in meinen Gedanken umherwandern konnte, ohne darauf bedacht sein zu müssen, beobachtet zu werden. Dieses neue Gefühl ist wie viel zu schnelles Autofahren auf freien Landstraßen.

      Wir laufen weiter, ich sauge die kühle Luft in meine Lungen und starre auf die unzähligen Wellen, die sich meterhoch aufbäumen, in sich zusammenfallen und langsam an Land treiben.

      »Glaubst du an Schutzengel?«

      Ich wende meinen Blick ab und schaue Curtis an, bevor ich zu einer Antwort ansetze. »Ich hab auf jeden Fall einen, sonst wäre ich schon längst tot.«

      »Vielleicht bin ich ja dein Schutzengel.« Curtis bleibt direkt vor mir stehen. Die einsetzende Dämmerung lässt mich nur Umrisse von ihm erkennen. Mein Atem stockt.

      »Bist du dir sicher, dass du das sein willst?«, frage ich ihn halb scherzhaft und er grinst. »Schneewittchen, Schneewittchen. Da mache ich dir ein exklusives Angebot als dein leibeigener Schutzengel und du ziehst es ins Lächerliche.«

      Brooklyn, New York

      02. Januar

      Robyn,

      Du wirst es hier lieben.

      Mir schießen Tränen in die Augen, als ich meinen Fehler bemerke.

      Sie würde es hier lieben.

      Als ich fünf war und das erste Mal eine Zeit lang bei Dad gelebt habe, hat er mir bei sich ein eigenes Zimmer eingerichtet. Damals war ich ein totaler Neonlila-, Puppen- und Barbie-Fan. Und Dad war ein totaler Fan davon, mir Wünsche zu erfüllen.

      Demnach gleicht mein Zimmer bei ihm einem Alp­traum.

      Kannst du dich noch an Domenico Martini damals in der Neunten erinnern? Dad hat mich vorhin nach "Jungs" gefragt, da musste ich an ihn denken. Du hast mir damals von Anfang an gesagt, dass er nur mit mir spielt, weil du ja einen Sinn für Zwischenmenschliches hast. Und genau deshalb frage ich mich, wie es sein kann, dass bei Steven nicht alle deine Alarmglocken geschrillt haben.

      Natürlich wusstest du genauso gut wie jeder andere, dass Steven oft viel zu viel trank und irgendwelches Zeug konsumierte und deshalb einen Typen bis ins Koma geprügelt hat. Aber das ist es nicht, was mir jetzt die Luft abschnürt, wenn ich an ihn denke. Es steckt mehr dahinter, auch wenn ich das nicht in Worte fassen kann.

      Wie du vielleicht vermutet hast, wusste ich, dass du mit Domenico recht hattest, wie mit eigentlich allem. Aber ich wollte es mir nicht eingestehen, weil die Freude darüber, dass sich ein Junge auch mal für mich und nicht wie immer nur für dich interessierte, einfach zu unfassbar groß war, als dass ich vernünftig hätte handeln können.

      Oder Domenico in dem Fall wenigstens so tat, als würde er es.

      Robyn, ich habe mir vorgenommen, dir von jemandem zu erzählen, um mir dadurch vielleicht etwas klarer über ihn zu werden. Aber je länger ich auf die Tasten und die schwarzen Buchstaben auf dem weißen Blatt starre, um meine Gedanken zu formulieren, desto mehr entgleiten sie mir.

      Manchmal bin ich Chaos, Robyn.

      Und jetzt sitze ich wieder hier, an der Schreib­maschine von Babushka, mit der ich dir schon früher unzählige Briefe geschrieben habe, in Dads Haus in der Nähe vom Gerritsen Beach.

      Es ist mitten in der Nacht und ich schreibe dir.

      Goodbye

      Paige

      PS: Die Empfangsdame im Krankenhaus ist schon richtig am Kotzen, weil ich, seit du dort bist, jeden Tag anrufe und frage, wie es dir geht.

      [03]

      eXtRaVaGant

      Ich sitze in meinem Zimmer und kritzle auf einem Blatt Papier herum. Obwohl, eigentlich ist es viel mehr als nur eine Kritzelei. Die Klavier­tastatur nimmt immer deutlicher Form und Gestalt an. Ich setze einen Violinschlüssel auf ein noch freies Notenblatt.

      Dann schwebt mein silberner Füller über dem Blatt. Ich habe eine Melodie im Kopf. Das Gefühl ist intensiv.

      Zu intensiv dafür, dass ich doch eigentlich genau weiß, dass ich ohne Robyn nie wieder Musik machen kann. Ich setze die Spitze auf dem Blatt an und beginne, die erste Note zu zeichnen.

      Als das Blatt voll ist, halte ich es gegen mein Fenster, durch das gerade die letzten Sonnenstrahlen des Tages fallen und es golden leuchten lassen. Die Melodie hallt in meinem Kopf wider. Ich betrachte die Tastatur vor mir und in meinem Kopf bildet sich ein Zwiespalt. Meine Finger streichen über das Blatt.

      Ein mattes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, als ich stumm die Melodie spiele. Stumm heißt in dem Fall aber nicht leise. In meinem Kopf ist es laut. Ohne die Melodie real zu hören, weiß ich, wie sie klingt. Ich fühle sie.

      ♫

      Ich bürste und föhne meine Haare. Gehüllt in ein Handtuch husche ich in mein Zimmer und ziehe mich um.

      Im Halbschlaf denke ich über das Meer und goldene Augen nach und bevor ich wegdämmere, mache ich eine freudige Begrüßung unten im Flur aus.

      »Die fette Schlampe kommt angerollt!« Deine Mitschüler sehen dich abwertend an. Du läufst mit kleinen schnellen Schritten zu deinem Platz in der hintersten Reihe, streichst dir die Haare nervös hinters Ohr und blickst sehnsüchtig in die erste Reihe.

      Wie gerne würdest du dort sitzen.

      Du seufzt und legst dein Mäppchen und die Bücher und Hefte auf den Tisch.

      Du denkst über die Beliebten in der ersten Reihe nach, mit den unglaublich


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