Die Salbenmacherin und der Fluch des Teufels. Silvia Stolzenburg

Die Salbenmacherin und der Fluch des Teufels - Silvia Stolzenburg


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Olivera den ganzen Weg von Martin Groß’ Haus bis zu ihrem eigenen Heim in der Burgstraße. Das arme Kind litt Höllenqualen und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was ihm fehlte. Matthäus hatte gesagt, zwei weitere Kinder wären an demselben Leiden erkrankt, und auch er schien ratlos zu sein. Olivera dachte an die Worte der Magd. Das Antoniusfeuer war heimtückisch und tödlich, aber wenn sie sich nicht irrte, äußerte es sich auf eine vollkommen andere Art und Weise. Tief in Gedanken versunken, betrat sie den Hof ihres Hauses, der bis auf den Hofhund und ein paar freilaufende Hühner verlassen dalag. Mathes war vermutlich unterwegs, um von einem der Bauern Getreide für den Winter zu kaufen, der Rest des Gesindes befand sich im Haus. Jona und Cristin schienen bereits zurück zu sein, da sie den dunklen Schopf des Mädchens durch die offen stehende Tür des Schuppens sehen konnte.

      Grübelnd überquerte sie den Hof, betrat das Haus und ging in die Offizin. Dort holte sie ein halbes Dutzend ledergebundene Bücher aus dem Regal und legte sie auf einen Tisch. Außer Kräuter- und Steinbüchern besaß sie Abschriften von Galens Methodi Medendi – den Methoden des Heilens –, Avicennas Canon Medicinae – dem Kanon der Medizin – und Trotulas Passionibus Mulierum – den Leiden der Frau. Diese, eine Mitgift ihrer Großmutter, stellten einen unvorstellbaren Schatz dar. Zudem befand sich eine Anzahl orientalischer Traktate in ihrer Sammlung, zusammen mit Schriften des Hippokrates und Heilkräuterbüchern mehrerer Mönche, die sie von einem fahrenden Händler gekauft hatte.

      Da sie sämtliche Bücher mehrmals gelesen hatte, brauchte sie nicht lange, um zu finden, wonach sie suchte. In einem Folianten, der die Schriften des Hippokrates enthielt, stieß sie auf eine Beschreibung dessen, was er die »Heilige Krankheit« nannte. Diese äußerte sich in anfallartigen Krämpfen, Schreien und dem Niederstürzen der Kranken, wenn diese sich nicht im Bett befanden. Dem populären Glauben nach handelte es sich um ein göttliches oder dämonisches Eingreifen in die menschliche Natur, doch der gelehrte Arzt hatte eine andere Erklärung. Für Hippokrates ging diese Krankheit vom Gehirn aus, verursacht durch kalten Schleim, der das Blut erstarren ließ. Nicht ein Miasma, eine göttliche »Unreinheit«, war seiner Ansicht nach die Ursache für die Krämpfe, sondern das in den Adern stockende Blut. Folglich empfahl er als Heilmittel Schröpfen und Purgieren, falls nötig, auch die Öffnung des Schädels.

      Hastig klappte sie das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. Nach kurzem Überlegen beschloss sie, ins Spital zu gehen, um mit Matthäus über das zu reden, was sie gelesen hatte. Er wusste, dass sie die Schriften der gelehrten Ärzte kannte, und hatte bisher stets ihren Rat gesucht. Anders als sein Vorgänger war er vor allem anderen auf das Wohl der Kranken bedacht. Persönliche Eitelkeiten waren ihm fremd.

      Sie verließ die Offizin und ging zurück in den Hof, wo Mathes vom Bock des Einspänners sprang, dessen Ladefläche mit Säcken vollgepackt war. Der vergangene Sommer war regnerisch und kühl gewesen, die Ernte nicht so gut wie erwartet. Deshalb hatte Olivera darauf bestanden, mehr Vorräte als gewöhnlich anzulegen, damit sie den Winter über genügend Mehl in der Speisekammer hatten. Sie winkte ihm zum Gruß zu, ehe sie zum Tor lief und zurück auf die Straße trat.

      Die Burg im Rücken, eilte sie den Hügel hinab zum Rathaus, vor dem an diesem Tag ein großer Viehmarkt stattfand. Das Blöken von Schafen vermischte sich mit dem Brüllen der Ochsen und dem Meckern der Ziegen, die sich um den Schönen Brunnen drängten. Zahlreiche Käufer sammelten sich zwischen den Verschlägen der Händler, die zum Teil von weit her angereist waren. Auf einem Teil des Marktplatzes, der mit einer roten Kordel abgetrennt worden war, warfen feurige Vollblüter wiehernd die Köpfe. Dort tummelten sich die reichen Nürnberger, die Fern- und Gewürzhändler, für die es eine Frage des Ansehens war, ein Pferd von solch edlem Blut zu besitzen.

      Ohne auf das Getümmel zu achten, setzte Olivera ihren Weg fort, bis das Heilig-Geist-Spital vor ihr auftauchte. Auf den spitzen Dächern hockten Zugvögel, die schimpfend das Weite suchten, als sich ein Flügel des großen Tores mit einem lauten Schlag hinter einem Fuhrwerk schloss. Obwohl der übliche Andrang von Mägden, Knechten, Werkleuten und Bedürftigen herrschte, gelangte Olivera rasch in den Hanselhof, in dem es auch an diesem Tag geschäftig zuging. Sie fröstelte, als sie in die Schatten des riesigen Gebäudekomplexes eintauchte, hinter dem die Pegnitz rauschte. Zu ihrer Linken ragte die Spitalkirche in den Himmel, deren Glocke in diesem Moment die halbe Stunde schlug. Eine Gruppe von Insassen des Spitals war mit Holzhacken beschäftigt, andere kehrten oder holten Wasser aus dem Ziehbrunnen. Einige der stärkeren Männer halfen beim Entladen des Fuhrwerks, das unter einer alten Linde zum Stehen gekommen war. Die Kranken und Schwachen waren in der Siechenstube untergebracht, in der Tag und Nacht die Kusterin und mehrere Mägde über ihr Wohlergehen wachten. In den beiden größten Gebäuden des Spitals, die parallel angeordnet waren, befanden sich die Stuben. Daran grenzten je eine Küche für die Patienten der unteren und oberen Stuben an, ein Waschraum, eine Badestube für die Männer und eine für die Frauen und das heimliche Gemach für die Insassen. Außerdem waren hier die Einrichtungen für die armen Pfründner, das Narrenhäuslein und die Unterkunft für die Findlinge und Waisen untergebracht.

      Da sich Matthäus meist in der Siechenstube aufhielt, wandte sich Olivera dorthin und betrat kurz darauf den Vorraum der großen Halle. Den Gestank von Schweiß, Kot und Urin nahm sie kaum mehr wahr, weil sie sich inzwischen daran gewöhnt hatte. Die Halle wurde von Säulenreihen in zwei gleich große Bereiche geteilt, in denen die Frauen und die Männer lagen. Bettkasten reihte sich an Bettkasten, viele der Kranken stöhnten leise vor sich hin oder schrien vor Schmerz. Die weißen Wände der Stube wurden von wenigen Fensterschlitzen unterbrochen, durch die schwaches Sonnenlicht auf den sauberen Boden fiel. Am Kopfende des langen Raumes befand sich eine Kanzel, von der ein Kaplan die Messe für die Bettlägerigen lesen konnte.

      Nachdem sich ihre Augen an das Dämmerlicht in der Stube gewöhnt hatten, entdeckte Olivera Matthäus am Bett eines alten Weibleins, an dessen Hinterteil er sich zu schaffen machte. Die Frau litt unter Hämorrhoiden, die laut Hippokrates durch die Erhitzung des Blutes am After infolge von überschüssigen Gallensäften entstanden. Mithilfe eines Instrumentes führte Matthäus ein Zäpfchen in den Anus der Kranken ein, um ihre Beschwerden zu lindern. Da Hämorrhoiden diejenigen, die an ihnen litten, vor Lungenentzündung und anderen Krankheiten schützen konnten, vermied man es so weit wie möglich, sie zu verätzen oder zu veröden.

      »Olivera«, begrüßte er sie, nachdem er die Alte auf den Rücken gedreht und zugedeckt hatte.

      »Ich muss mit dir über Martin Groß’ Tochter reden«, kam Olivera ohne Umschweife zur Sache.

      »Hat die Arznei geholfen?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, sie leidet an dem, was Hippokrates die Heilige Krankheit nennt.«

      Matthäus runzelte die Stirn. »An der Fallsucht?«

      Olivera nickte.

      Der Medicus nagte nachdenklich an seiner Lippe.

      »Hast du sie bei deinem letzten Besuch geschröpft?«, erkundigte sich Olivera.

      »Ich hatte sie zur Ader gelassen, aber das hat wenig Wirkung gezeigt.« Er rieb sich das Kinn. »Ich kenne die hippokratische Schrift zu dieser Krankheit. Er spricht auch davon, dass der Schädel zu öffnen ist, wenn Schröpfen und Purgieren sich als nutzlos erweisen. Du könntest recht haben mit deiner Vermutung«, gab er zu.

      »Kannst du ihr helfen?«

      Er zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf die lange Reihe der Betten. »Ich habe hier noch eine Weile zu tun«, sagte er. »Bereite ihr eine Arznei aus Helleborus und Wolfsmilch. Ich komme zu ihr, sobald ich kann.«

      Olivera nickte und machte Anstalten zu gehen.

      »Ich hoffe, deine Vermutung trifft zu«, seufzte Matthäus. »Eines der Waisenkinder hier im Spital zeigt dieselben Symptome wie das Mädchen.«

      Olivera spürte eine böse Vorahnung in sich aufsteigen. Was, wenn sie sich irrte? Was, wenn eine neue Pest drohte? Noch war nicht klar, ob das Leiden tödlich verlief. Aber was, wenn es so war? Mit einem unguten Gefühl verließ sie die Siechenstube und kehrte in die Burgstraße zurück, um die Arznei zuzubereiten, um die Matthäus sie gebeten hatte.

      Kapitel


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