Schöner sterben in Wien. Dagmar Hager

Schöner sterben in Wien - Dagmar Hager


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bald alles aufklären.

      »Ich bin’s«, hörte ich. Danach folgten ein paar Worte in Maschinengewehr-Tschechisch, von denen ich lediglich meinen Namen verstand. Agnes sprach Jelenas Sprache perfekt? Noch ein Puzzleteilchen, das sich einfügte!

      Mit einem Mal verwandelte sich Agnes’ Gesichtsausdruck von skeptisch zu ehrlich erstaunt. »Wirklich?«, fragte sie wieder auf Deutsch. Und dann: »Okay, mach ich.«

      Sie legte auf.

      Mit einem Seufzen riss sie ein Blatt von ihrem Notizblock, kritzelte etwas darauf. Stumm schob sie es herüber und fixierte mich. »Von mir haben Sie nichts gehört! Wir verstehen uns?«

      Ich prägte mir alles genau ein. Von wegen Wohnung im Palais!

      Nach ein paar Sekunden zog Agnes den Zettel wieder zu sich und zerriss ihn in winzige Schnipsel.

      Am liebsten wäre ich sofort zu Jelenas richtiger Adresse gefahren, doch leider hatte ich zuvor noch etwas ganz anderes zu erledigen.

      Wahljahr. Ende September würden wir zu den Urnen schreiten.

      Das hieß, die Spitzenkandidaten trachteten danach, sich dem Volk lässig und wählbar zu präsentieren. Eine gute Gelegenheit, mehr aus ihnen herauszukitzeln als die üblichen Floskeln. Die öffentlich-rechtlichen Kollegen fuhren mit ihnen spazieren. Wir kochten. In unserer Serie »Wahlmenü« panschten wir in der Schauküche eines Werbekunden nach den Rezepten der Kandidaten Gerichte zusammen und unterhielten uns währenddessen mit ihnen über Gott und die Welt. Die simple Idee bescherte uns tolle Quoten. Mein Job war der Blick hinter die Kulissen.

      An und für sich machte es Spaß, aber heute brauchte ich diese vielstündige Aufzeichnung überhaupt nicht. Unkonzentriert und lieblos spulte ich ab, was nötig war. Nicht einmal die Tatsache, dass ich den Kandidaten wählbar fand, half.

      Die Dreharbeiten dauerten bis nach 23 Uhr. Als wir endlich fertig waren, beschloss ich hundemüde, bis morgen zu warten. Außerdem wollte ich Jelena ein wenig schmoren lassen. Sie wusste, dass ich sie kontaktieren würde, nicht aber, dass ich plante, unangemeldet bei ihr aufzukreuzen, um das Überraschungsmoment auf meiner Seite zu haben.

      Gegen Mitternacht kroch ich ins Bett und schlief tatsächlich auch gleich ein. Mein letzter Gedanke galt dieser merkwürdigen Frau, die sich offenbar versteckt hielt.

      Was ich morgen wohl alles zu hören bekommen würde?

      Agnes hatte mir eine Adresse im 16. Bezirk aufgeschrieben, in der Roseggergasse in Ottakring. Dabei handelte es sich um ein Mehrparteienhaus aus den 1980er-Jahren, wie es sie in Wien zu Tausenden gab. Es war relativ schmal, wahrscheinlich eine aufgefüllte Baulücke, mit gesichtsloser, glatter Fassade und vielen Fenstern.

      Auf ihrem stummen Zettel hatten eine Telefonnummer und diese Adresse gestanden. Mehr nicht. Jelena lebte offenbar inkognito hier.

      Etwas verunsichert stand ich vor dem Eingang aus geriffeltem Sicherheitsglas und musterte die Klingelknöpfe mit den kleinen Schildchen daneben. Ich war aufgeregt, denn ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete und ob ich Jelena tatsächlich beichten würde, was ich ihrer Schwester angetan hatte. Es war kurz vor acht Uhr früh und ein Samstag, eine Zeit, zu der sie, wie ich annahm, jedenfalls zu Hause sein dürfte, egal was sie tagsüber so alles trieb.

      In diesem Augenblick öffnete sich die Eingangstür und ein Junge mit einem Longboard unterm Arm erschien. Ohne mich zu beachten, schlurfte er mit verschlafenem Gesicht davon. Ehe die Tür wieder ins Schloss fallen konnte, war ich drin und landete in einem nichtssagenden Stiegenhaus samt Lift und jeder Menge Briefkästen. Da ich das richtige Stockwerk nicht kannte, musste ich jede Wohnungstür einzeln abklappern.

      Pro Etage gab es jeweils drei. Ich inspizierte ein Namensschild nach dem anderen, aber keines passte. Schließlich gelangte ich unters Dach, wo ein Fenster in den Hinterhof wies und den Flur mit Tageslicht erhellte.

      Zwei Türen.

      Neben der einen eine leere Schuhablage und ein Schirmständer. Auf der Fußmatte mit der Aufschrift »Die Novaks« ein Fußball ohne Luft.

      An der zweiten hing weder ein Schild noch irgendein anderes Indiz, das auf Bewohner hindeutete. Nichts als tristes Grau und sogar noch eine gute alte Klinke. Sicherheitsschlösser hatten es nicht hierhergeschafft, die Zeit schien seit den 1980ern stillzustehen. Türen, Geländer, Lift, alles war abgenutzt und nie erneuert worden.

      Ich fasste mir ein Herz und presste den Daumen auf den roten Knopf rechts neben dem Museumsstück. Was konnte mir schon Schlimmeres passieren, als dass ich jemanden aufweckte und mich für die Unannehmlichkeit entschuldigen musste.

      Doch es blieb still.

      Ich kam mir dumm vor. Entweder war Jelena tatsächlich nicht zu Hause, oder sie stellte sich tot. Verständlich, ich an ihrer Stelle würde ebenfalls den Teufel tun, einer Fremden zu öffnen. Also doch ein Anruf. Ich suchte im Speicher nach der Nummer, wählte und drückte währenddessen probehalber die Klinke hinunter.

      Die Tür gab nach.

      Verwundert hielt ich inne. Stoppte das Telefonat. Lauschte.

      Jetzt wurde eine Entscheidung fällig. Sollte ich mich lieber verziehen oder Hausfriedensbruch begehen, der mir im schlimmsten Fall als Einbruch ausgelegt werden konnte? Peinlich in jedem Fall.

      Mein Bauchgefühl siegte.

      Vorsichtig betrat ich den Flur. Mein erster Eindruck: penibelste Ordnung. »Hallo! Ist da jemand?«, durchbrach ich die Grabesstille und bemerkte einen Knoten in der Magengegend. Weitere Schritte, nochmaliges Rufen. Rechts von mir leere Garderobenhaken, darunter ein geschlossener Schuhschrank aus Holz. Blanke weiße Wände, auf dem Fußboden Parkett, eher strapazierfähig als teuer. Kein Teppich oder anderer Schnickschnack.

      »Jelena!«, versuchte ich es erneut. »Sind Sie zu Hause?«

      Die Wohnung war nicht besonders groß, es gab nur noch zwei weitere geschlossene Türen, einen offenen Küchen- und Wohnbereich mit blankgescheuerten Arbeitsflächen, ein helles Sofa aus Stoff, einen niedrigen Couchtisch und ein leeres Bücherboard. Alles Massenware. Kein Fernseher, keine Bilder, keine Pflanzen, keine Jelena.

      Alles in mir drängte danach, von hier zu verschwinden, doch das konnte ich vergessen. Also ersparte ich mir sinnloses Rufen, machte weiter und landete in einem winzigen Badezimmer mit Dusche. Ebenso minimalistisch eingerichtet, ebenso sauber. Jelena schien ein kleiner Putzteufel zu sein.

      Blieb nur noch die letzte Tür. Man musste kein Raketenwissenschaftler sein, um zu erahnen, dass sich dahinter das Schlafzimmer verbarg.

      Ich stieß sie auf.

      In den letzten Tagen hatte ich viel versucht, um Jelena Jelinek zu finden.

      Nun hatte ich es geschafft.

      Sie lag auf dem Boden, und ich brauchte sie nicht zu berühren, um zu wissen, dass sie tot war. Wohl noch nicht lange, aber zweifelsohne. Erst jetzt bemerkte ich den beißenden Geruch, der es noch nicht geschafft hatte, sich flächendeckend über alles zu legen.

      Ich würgte.

      Jelena war hübsch gewesen, ein zartes Persönchen. Vollkommen bekleidet lag sie seitlich und mit angezogenen Beinen auf dem Fußboden, wirkte unverletzt. Ein Wust dunkler Haare ergoss sich über ihr verkrampftes Gesicht, Blase und Darm hatten sich entleert und ihre grüne Freizeitkluft verschmutzt. Dazu bröckelige Flecken überall, Erbrochenes, aber bereits angetrocknet. Sie musste also schon vor etlichen Stunden gestorben sein – vielleicht genau zu der Zeit, als ich in der Schauküche halbgare Scherze gemacht hatte.

      Ach Jelena, dachte ich mehr traurig denn entsetzt, wäre ich gestern noch gekommen, hätte ich vielleicht …

      Wo war ich da bloß wieder hineingeraten?

      Sorgsam schloss ich die Tür. Ich brauchte einen Plan, und den auszuhecken, war unmöglich mit einer Leiche vor Augen. Reiß dich zusammen, Lilly, rief ich mich zur Ordnung und suchte meinen Blick im Spiegel, während ich durchatmete. Noch mal würgte. Im Grunde war ja nur eines passiert: Ich hatte eine Tote entdeckt. Niemand wusste über die


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