Schöner sterben in Wien. Dagmar Hager
Weitere Minuten verstrichen, in denen ich verzweifelt versuchte, mich zu beruhigen, die Eisenklaue in der Kehle zu lockern. Schließlich hatte ich mich wieder unter Kontrolle. Halbwegs zumindest.
Brennende Fragen drängten sich auf.
War es überhaupt noch wichtig, warum, wie ich annahm, Jelena mir den Führerschein ihrer Schwester untergejubelt hatte?
Ja.
Würde ich die Polizei rufen?
Selbstverständlich!
War Jelena eines natürlichen Todes gestorben?
Nie im Leben!
Das hing doch alles zusammen! Sie war vor ihrem Tod offensichtlich untergetaucht. Ich hatte nach ihr gesucht und herumgefragt. War es meine Schuld? Hatte ich Jelena mit meinen Nachforschungen unabsichtlich das Leben gekostet? Musste ich tatsächlich jetzt auch noch ihren Tod auf meine Kappe nehmen?
Schon wieder steckte ich in Schwierigkeiten, die mir wie Blei auf der Seele liegen und mich vor sich hertreiben würden. Doch es war zu spät. Aus dieser Gleichung konnte ich mich nicht mehr herausnehmen, viel zu tief war ich darin verstrickt, trug Verantwortung. Die Frage war nur: wie viel? Ob ich also wollte oder nicht: Ich musste und würde weitermachen.
Der erste Schritt: nicht wie üblich kneifen, sondern den Polizeinotruf wählen. Alle Routinen anlaufen lassen. Und parallel dazu mein eigenes Süppchen kochen.
Noch einmal betrat ich das Schlafzimmer, sah mich um, ohne jedoch irgendetwas Verdächtiges zu bemerken. Wie in Trance beugte ich mich zu Jelenas totem Körper hinab und berührte sanft ihr wirres braunes Haar. »Ich werde herausfinden, was passiert ist«, murmelte ich, »es tut mir so unglaublich leid. Bitte verzeih! Und diesmal werde ich es richtig machen.«
Mit zusammengebissenen Zähnen richtete ich mich wieder auf.
Drehte mich um.
Im Durchgang stand eine reglose Gestalt.
9
MARLENA
»Was ist denn hier passiert?«
Marlena fixierte die bleiche Frau mit den langen dunklen Haaren, die soeben herumgewirbelt war.
Ferdl hatte ihr nicht erzählt, wer ihn gebeten hatte, nach Jelena zu suchen. Es herauszufinden war jedoch ein Kinderspiel gewesen. Ihr Onkel würde die Aktion nicht gutheißen, nichtsdestotrotz hatte sie sich vor dem Palais auf die Lauer gelegt und an die Journalistin drangehängt. Gestern Abend bis fast Mitternacht, heute Morgen seit sechs Uhr früh.
Unbemerkt war sie der Frau bis zu einem Mehrparteienhaus nach Ottakring gefolgt und – angetan mit Laufsachen, Mütze und Brille – hineingeschlüpft, das Paradebeispiel einer Bewohnerin, die soeben vom Joggen kam.
Danach musste sie nur noch die richtige Tür finden.
Manchmal verstand sie selbst nicht, was sie trieb. Sie folgte ihren Instinkten, und das so erfolgreich, dass ihr Onkel sie gerne zur Gänze in der Agentur angestellt hätte, was aber kein Thema war.
Seit ihrer Kindheit hatte Marlena jeden Sommer Zeit bei ihrem anderen Onkel Vlastemil in Wien verbracht, liebte die Stadt und sprach nahezu perfektes Deutsch. Vor ein paar Jahren war sie zur Gänze hergezogen. Ursprünglich, um auf die Uni zu gehen, doch dann hatte sie die Idee für das gehabt, was sie mittlerweile neben Nachforschungen hauptberuflich betrieb: ihren Umwelt-Blog »Green Things«, in dem sie interessante Menschen und nachhaltige Ideen präsentierte. Mittlerweile konnte sie, dank sorgsamer Produktplatzierungen, Ads, Bannern und bezahlter Postings, gut davon leben.
Jetzt allerdings war sie zur Gänze in ihr Alter Ego als Ermittlerin geschlüpft.
Im sechsten Stock bemerkte sie sofort die offen stehende Wohnungstür und stand wenig später vor der zu Tode erschrockenen Lilly Speltz.
»Sie ist tot!«, stammelte die bleiche Journalistin, um Besonnenheit bemüht.
»Weshalb entschuldigen Sie sich denn bei ihr?«, fragte Marlena verwundert.
Da ging ein Ruck durch ihr Gegenüber. »Was haben Sie hier verloren?«
Marlena kam näher, reichte der Frau gerade bis zum Kinn. »Keine Angst, ich weiß von der Geschichte!«
»Na wunderbar. Und wer sind Sie?«
Marlena antwortete nicht gleich, sondern warf einen Blick auf die Leiche, versuchte einzuschätzen, womit sie es hier zu tun hatte. Erst dann wandte sie sich wieder Lilly zu.
»Ich bin Marlena Houdek, Onkel Ferdls Nichte. Ich habe Jelena für Sie gefunden. Ist sie das?«
10
LILLY
Stämmig, mit frechem blondem Bubikopf und durchdringend grünen Augen – so stand Marlena Houdek vor mir, die ganze Person ein Ausbund an Selbstsicherheit. Noch immer zitterten mir die Knie. Als ich sie vorhin in der Tür entdeckt hatte, war ich überzeugt davon gewesen, dass nun alles aus war – und hatte dabei auch einen unvermuteten Hauch von Erleichterung verspürt.
»Verdammt noch mal«, hörte ich ihre seltsam raue Stimme, die so gar nicht zu dem zu kurz geratenen Körper passen wollte. »Sie müssen die Polizei rufen. Und zwar gleich. Aber verraten Sie mir vorher noch, warum Sie Jelena unbedingt finden wollten.«
Tut mir leid, Mädchen. So schlimm die Situation auch ist, ich werde es dir nicht auf die Nase binden, dachte ich. Wer weiß, inwieweit ich dir letztlich vertrauen kann.
Es war an der Zeit, den Spieß umzudrehen. »Was tun Sie hier, Marlena? Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen den Auftrag erteilt zu haben, mich zu beschatten!«
Sie wirkte ehrlich. »Stimmt. So wie es aussieht, haben wir beide Klärungsbedarf. Doch nicht jetzt. Jelena ist möglicherweise keines natürlichen Todes gestorben und Sie sollten keine Sekunde länger warten, Alarm zu schlagen, sonst wirft das ein sehr seltsames Bild auf Sie!«
Mir graute vor den Ermittlungen und ihren Folgen. Kaum war etwas Gras über die Sache mit Georg gewachsen, steckte ich prompt in der nächsten schrägen Geschichte, die noch dazu unmittelbar mit der alten Sache zu tun hatte. Ich sah mich schon Fingernägel kauend im Gefängnis schmoren. Wahrscheinlich hatte ich aber ohnehin nichts Besseres verdient. Und dann wäre es zumindest vorbei.
Mit verkrampftem Magen wählte ich die europäische Notrufnummer 112.
Als ich mich umdrehte, war Marlena verschwunden. Zum Glück, denn wie hätte ich der Polizei erklären sollen, was sie in der Wohnung zu suchen gehabt hatte? In Kürze allerdings würde ich dafür sorgen, dass sie es mir erklärte.
Ich hatte es befürchtet.
Vor mir standen genau die beiden Kriminalbeamten, die damals auch den Tod von Georg untersucht hatten. Bruce und Colin. Der Ältere hatte eine Glatze und markante Gesichtszüge wie Bruce Willis, der Jüngere die dichten Augenbrauen mit Eigenleben und das Grinsen des Schauspielers Colin Farrell.
Vor allem Colin mochte mich nicht und ließ mich das auch sogleich spüren. »Frau Speltz, sieh einer an. Und diesmal gibt’s auch tatsächlich eine Leiche!«
Vollidiot.
Es wurmte ihn, dass Georg nach wie vor verschwunden blieb und er mir nichts nachweisen konnte, was für mich sogar ein wenig nachvollziehbar war. Dennoch hielt ich nicht viel von ihm. Er gab offenbar den Bad Cop.
Inzwischen war das Vollprogramm angelaufen. Die erste Bewertung der polizeilichen Kommission hatte ergeben, was Marlena und ich auch schon vermutet hatten: dass ein Tötungsdelikt nicht ausgeschlossen werden konnte. Kurz danach war die Tatortgruppe aufgetaucht.
Bruce übernahm. »Es ist unklar, wie sie gestorben ist, deshalb behandeln wir die Situation als Mord und wie immer legen wir die Latte hoch. Wir werden hier alles auf den Kopf stellen und keinen Quadratzentimeter auslassen. Wenn da etwas ist, werden wir es auch finden. Beim letzten Fall hat es Tage gedauert. Letztlich war es DNA auf einem Zündholz, die den Täter überführt