Sternstunden und Schandflecke der Kirchengeschichte. Josef Imbach
zur Sensation. Das hält er nicht aus. Er entzieht sich der Menge durch Flucht. Seine nächste Behausung richtet er in der Wüste ein, auf dem Berg Kolzim. Eines hat der Außenseiter inzwischen begriffen: Je mehr ein Mensch sich in der Menge sonnt und zu ihr redet, desto größer ist die Gefahr, dass er sich aufspielt. Wer im Mittelpunkt steht, denkt an die Wirkung, die er erzielen möchte, sucht Zustimmung – und ist gar nicht mehr so richtig bei sich. Auf dem Berg Kolzim ist Antonios ganz bei sich. Hier findet er seine innere Ruhe. Jetzt erfährt er auch, was das ist: Gelassenheit. Sein Biograf, der Bischof Athanasios, schreibt, dass Antonios sich fortan »an der Schau der göttlichen Dinge ergötzte«. Ja: ergötzte! Das kann später ein dahergelaufener Spötter nicht begreifen. Wie Antonios diese Einsamkeit überhaupt aushalte, will dieser wissen, zumal er sich als Analphabet die Zeit nicht einmal mit der Lektüre eines Buches zu vertreiben vermöge (tatsächlich konnte er, wie sein Biograf kleinlaut gesteht, nicht einmal lesen). Dabei liegt Antonios nichts ferner, als die Zeit zu vertreiben! Den Spötter bringt er zum Schweigen, indem er ihm sagt, wie er sie nutzt: »Mein Buch ist die Schöpfung. Wenn ich Gottes Wort lesen will, brauche ich nur hineinzuschauen.«
Der am Berg Kolzim Untergetauchte wird bald erneut entdeckt. Wie vormals in Kome und später in Pispir kommen die Leute in Scharen. Wollte Antonios weiter nach Osten fliehen, müsste er sich übers Rote Meer absetzen, das vor ihm in Sichtweite liegt. Stattdessen entscheidet er sich für einen Kompromiss. Er bleibt in seiner Einsiedelei. Unten am Berg, wo heute das Antoniuskloster steht, leben einige seiner Schüler in Hütten. Die versperren allen, die zu ihm wollen, den steilen Pfad. Aber bloß während eines halben Jahres. Die andere Jahreshälfte verbringt Antonios wiederum in Pispir. Dort erzählt er den Pilgerscharen, was er die Monate zuvor im Buch Gottes gelesen hat. Ob Antonios, wie Athanasios in der erwähnten Lebensbeschreibung berichtet, wiederholt auch Reisen nach Alexandreia unternahm, um die dort verfolgten Christen im Glauben zu stärken, ist nicht nachgewiesen.
Antonios starb im biblischen Alter von 105 Jahren. Schon zu seinen Lebzeiten haben Unzählige von ihm gelernt, dass sie vor sich selbst davonlaufen, wenn sie sich rund um die Uhr in Betriebsamkeit flüchten.
Obwohl zurückgezogen lebend, mischte sich der Eremit Antonios dennoch ins Tagesgeschehen ein. Tatsächlich werden dem laut Athanasios ungebildeten Wüstenvater fast dreißig Briefe zugeschrieben, von denen vermutlich bloß acht echt sind. Aber selbst von diesen Letzteren entstammt kein einziger seiner Feder, weil der des Schreibens Unkundige sich genötigt sah, seine Ermahnungen zu diktieren. Die ihm zugeschriebene Ordensregel wurde vermutlich von seinem Schülerkreis zusammengestellt. Hauptthema dieser Regel ist die Abkehr des Mönchs von der Welt und die Abtötung weltlicher Begierden. Ob Antonios mit Kaiser Konstantin und dessen Söhnen im Schriftwechsel stand, wie sein Biograf behauptet, scheint mehr als fraglich.
Antonios gilt als Begründer des christlichen Mönchtums.Das trifft so nicht zu. Wohl förderte er die Kontakte zwischen Anachoreten, die einzeln oder in kleinen Gruppen lebten. Klosterähnliche Einrichtungen aber verdanken ihre Entstehung dem Eremiten und Altvater Pachomios, von dem noch die Rede sein wird.
Der Gedanke an ein gemeinschaftliches Leben war Antonios völlig fremd. Ihm und den übrigen Einsiedlern ging es um die individuelle Gottbegegnung und um die persönliche Heiligung.
Wie bereits berichtet, starb Antonios hochbetagt. Noch effektiver als er soll sein Eremitenkollege Paulos von Theben die Jahre gemehrt haben, der gleichfalls abhold allen irdischen Freuden der Welt den Rücken kehrte und eine karge Wüstenexistenz den städtischen Lustbarkeiten vorzog. Oder sagen wir besser: vorgezogen haben soll.
Die wundersamen Nachrichten über sein Leben verdanken wir dem heiligen Hieronymus (347–420), der eine Vita Pauliprimi eremitae, eine Lebensbeschreibung dieses allerersten Eremiten, verfasste. Darin berichtet der berühmte Theologe und verdienstvolle Bibelübersetzer (er übertrug die Bibel ins Lateinische) derart ungewöhnliche Dinge, dass nicht nur die Geschichtsforschenden, sondern auch die gewöhnlich Sterblichen sich fragen, ob Paulos der Große (wie er auch genannt wird) seine Existenz nicht der Fantasie des Verfassers verdanke. Manche Fachleute gehen heute davon aus, dass Hieronymus sich von seinem schriftstellerischen Ehrgeiz dazu verleiten ließ, die Vita Antonii des Athanasios mit seiner legendären Lebensbeschreibung des Paulos zu überflügeln.
Angeblich wurde Paulos im Jahr 228 als Sohn vermögender Eltern in Ägypten geboren. Nach deren Tod und wegen Erbstreitigkeiten mit seinem Bruder zog der der damaligen Gesellschaft Überdrüssige während der Christenverfolgungen unter Kaiser Decius (249–251) als Einsiedler und Asket in die ägyptische Wüste. Im Gegensatz zu Antonios, in dessen Umfeld sich zahlreiche Eremiten niedergelassen hatten, soll Paulos über Jahrzehnte hin völlig allein gelebt haben, versorgt nur von einer Wasserquelle, einer Dattelpalme und einem Raben, der ihm täglich ein halbes Brot brachte. Als er trotz Vitaminmangels 113 Jahre alt geworden war, hatte der damals schon 90-jährige Antonios ein Traumgesicht, in welchem ihm die Existenz des älteren Einsiedlers kundgetan ward. Gleichzeitig erhielt er den Auftrag, ihn aufzusuchen. Was die beiden miteinander beredeten, entnimmt die Legende fast wörtlich der von Hieronymus verfassten Lebensbeschreibung. Paulos, der über die Jahrzehnte hin keinerlei Kontakt zur übrigen Welt hatte, befragt seinen Besucher nach den dortigen Zuständen:
Mein Bruder, nun siehst du vor dir den, welchen du so mühsam gesucht hast; aber du siehst nur das erschöpfte Alter, weiße Haare und einen Menschen, der bald Staub sein wird. Doch sage mir, wie geht es jetzt in der Welt, richtet die Sünde noch so viel Unheil an, gibt es noch Götzendiener, bauen die Leute ihre Häuser noch so fest, als ob sie niemals sterben müssten? Antonios gab hierüber Bescheid, so gut er konnte.
Als Paulos kurze Zeit darauf stirbt, wird er von Antonios beigesetzt. Das Grab auszuheben hätte der greise Wüstenvater wohl nicht mehr geschafft. Diese Arbeit wurde ihm von zwei Löwen abgenommen. Behauptet die Legende.
Nachdem Antonios sich in die Wüste abgesetzt hatte, folgten zahlreiche andere Zivilisationsmüde seinem Beispiel. Die bauten in seiner näheren Umgebung in Gebieten mit kleinen Wasserquellen ein ganzes Dorf für Gleichgesinnte – und dieser Trend machte Schule. Von dem legendären Paulos hingegen behauptet Hieronymus, dass dieser über Jahre und Jahrzehnte hin völlig isoliert von seiner Mitwelt gelebt habe. Wollte er damit, nachdem er sich 384 nach dem Tod seines Gönners Papst Damasus wegen seiner Kritiker nach Betlehem abgesetzt hatte, seine eigenen Vorstellungen vom Einsiedlerleben propagieren? Oder hegte er gar die Absicht, die neue Lebensweise mittels eines von ihm skizzierten Vorbilds zu rechtfertigen?
Historisch an der Begegnung der beiden Eremiten ist nicht das von der Legende geschilderte Treffen, wohl aber der Umstand, dass die Wüstenväter untereinander einen losen Kontakt pflegten. Das sollte sich mit dem Auftreten des Pachomios ändern.
Über Pachomios’ Wirken gibt uns (zumindest in Ansätzen) eine stark ausgeschmückte Lebensgeschichte (Vita Pachomii) Bescheid, die dessen Schüler Theodoros um 365 verfasst haben dürfte. Als Sohn heidnischer Eltern wurde Pachomios um 292 im oberägyptischen Esneh (heute Esna) geboren. Als Zwanzigjähriger wurde er gegen seinen Willen zum Militärdienst eingezogen, schon nach kurzer Zeit jedoch aus dem kaiserlichen Heer entlassen. Während seines Heeresdienstes wurde er gewahr, wie sich christliche Kameraden um die schlecht behandelten Rekruten kümmerten. Wenn das Sprichwort zutrifft, dem zufolge Worte bestenfalls zu überzeugen vermögen, Beispiele aber mitreißen, dann ist das hier der Fall. Pachomios ließ sich taufen und schloss sich der christlichen Gemeinde an.
Bald danach entschied er sich für ein Leben als Einsiedler. Nach wenigen Jahren Wüstenaufenthalt fasste er einen Entschluss, der für die spätere kirchengeschichtliche Entwicklung einschneidende Folgen haben sollte.
Bislang hatten die Wüstenväter im Nahen Osten und in Nordafrika für sich allein gelebt und nur sehr lose Beziehungen untereinander unterhalten. Zwar versammelten manche von ihnen Schüler um sich, die sich jedoch getrennt von ihnen aufhielten. Diese Anachoretenverbände unterstanden keiner Regel, die einen festen Zusammenhalt garantiert hätte – bis Pachomios um 325 auf den Gedanken kam, in der Nähe von Theben ein Koinobion, eine Einsiedlergemeinschaft, zu gründen, die sich schnell zu einer Art Kloster entwickelte.
Damit ein gemeinschaftliches Leben gelingt, braucht es feste Normen, eine Einsicht, welche Pachomios zur Niederschrift eines