Du bist gut so, wie du bist!. Dr. Catherine Senécal

Du bist gut so, wie du bist! - Dr. Catherine Senécal


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durchaus möglich ist, eine biologische Anfälligkeit in sich zu tragen, ohne dass diese sich in Form schädlicher Verhaltensweisen äußert. So geht es neben anderen Faktoren, die bei Kindern und Jugendlichen zur Entstehung einer Essstörung beitragen, auch um den Persönlichkeitstyp und den sozialen Druck, der angesichts des allgemeinen Schlankheitskults empfunden wird. Dabei handelt es sich um das bio-psycho-soziale Modell, das unter Wissenschaftlern anerkannt ist. Und da wird es für Eltern und Gesellschaft interessant, denn der soziale Faktor ist einer, den wir wirklich beeinflussen können!

      Können wir mit unserem Verhalten gegenüber unseren Kindern Essstörungen und einem problematischen Körperbild vorbeugen?

      Aus Sicht vieler Eltern scheint man von vornherein auf verlorenem Posten zu stehen bei dem Versuch, Essstörungen verhindern zu wollen. Schließlich ist unsere Welt voller Werbung, in der Frauen als Objekte dargestellt werden, und in der ein ganzer Industriezweig mit dem Thema Gewichtsreduktion jedes Jahr Milliarden Dollar umsetzt. Doch das familiäre Umfeld kann zu einem Schutzraum werden, so wie die Wurzeln eines Baumes ihm erlauben, im Boden verankert zu bleiben und dadurch auch den heftigsten Stürmen zu trotzen.

      Es gibt klinische Beweise, die durchaus ermutigend sind und den Schluss nahelegen, dass Vater oder Mutter sehr wohl Einfluss auf das Körperbild ihrer Kinder nehmen und zur Prävention einer Essstörung beitragen können. Und das sogar, wenn ein Elternteil selbst an einer Essstörung leidet. Studien haben gezeigt, dass das Risiko des Kindes, selbst eine Essstörung zu entwickeln, um 40 % sinkt, wenn solche Elternteile an einem Präventivprogramm teilnehmen.7 So sollen Eltern (hauptsächlich sind es Mütter), die an Präventivmaßnahmen teilnehmen, weniger familiäre Konflikte bei den Mahlzeiten haben und eher auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingehen können.8

      Diese Programme bestehen aus mehreren Treffen, schließen beide Elternteile ein und ermöglichen ein Gespräch zwischen den Teilnehmern und den Referenten. Sie sollen die Wirksamkeit des Programms und den langfristigen Einfluss auf die Eltern des Kindes erhöhen. Und diese Art Präventivmaßnahmen, bei denen es um das Kind geht, könnten sogar die Symptome der Essstörung bei dem betroffenen Elternteil bessern, auch wenn sie nicht das Niveau einer Einzelbehandlung erreichen.9

      Soweit ich weiß, gibt es zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen sehr wenige universelle Präventivmaßnahmen für Kinder und ihre Eltern (zum Beispiel in Schulen).10 Dabei weiß man inzwischen, wie wichtig die schützende Rolle der Eltern im Fall einer Essstörung ihres Kindes ist. Kurz, die Prävention sollte nicht allein aufseiten des Kindes erfolgen, wie es allzu häufig der Fall ist. Eine gesunde Beziehung zum Körper und zur Nahrung ist etwas, das über lange Zeit aufgebaut wird. Dazu bedarf es der aktiven Beteiligung eines ganzen Dorfes, eines Zuhauses und der Schule.

      Aus den Fehlern der Vergangenheit lernen

      Das Thema Prävention hat schon früh mein Interesse geweckt. Zu Beginn meiner Doktorarbeit musste ich beim Durchforsten der Suchmaschinen enttäuscht feststellen, dass zu diesem Zeitpunkt kein einziges Programm wirklich funktionierte. Schlimmer noch, bei mehreren dieser Präventivprogramme war von einem iatrogenen Effekt die Rede, das heißt, dass es infolge von Präventivmaßnahmen mehr Fälle gab als vorher, wenn man den Jugendlichen erklärte, was mit Essstörungen gemeint ist und warum man auf keinen Fall auf die damit verbundenen kompensatorischen Methoden zurückgreifen sollte (Diäten, Erbrechen, Abführmittel etc.)! Statt sie davon abzubringen, brachte die Präsentation dieser kompensatorischen Methoden die bereits gefährdeten Jugendlichen nur auf Ideen, die den Beginn der Erkrankung beschleunigten.

      Wie ist dieser traurige Befund zu erklären? Eine Hypothese besagt, dass Kinder im Schulalter sich einfach in einem Entwicklungsstadium befinden, welches es ihnen nicht erlaubt, das Ausmaß der Gefahren hinter ihrem Handeln zu begreifen. Allgemein gesprochen sind sie kaum empfänglich für die langfristigen Konsequenzen ihres Handelns (zum Beispiel die gesundheitlichen Probleme im Zusammenhang mit den Methoden der Kompensation). Viel empfänglicher sind sie dagegen für den kurzfristigen Nutzen, den sie daraus ziehen können (zum Beispiel die Möglichkeit, ihr Erscheinungsbild zu verbessern). Jugendliche wiederum sind in der Pubertät einem wahren Hormoncocktail ausgesetzt. Sie sind viel eher damit beschäftigt, von Gleichaltrigen akzeptiert zu werden, und neigen zu Experimenten, bei denen sie ihre Grenzen austesten. Eine andere Methode musste her, um die Botschaft zu übermitteln …

      Seit den ersten Präventivprogrammen in Schulen ist viel Zeit vergangen. Neue Ansätze zur Prävention haben das Licht der Welt erblickt und sich als wirksam erwiesen.

      Eine Übersicht über die Fachliteratur11 hat die Ergebnisse aus 112 wissenschaftlichen Artikeln zusammengetragen, welche die Präventivmaßnahmen gegen Essstörungen bewerten, die zwischen 2009 und 2015 stattgefunden haben. Die Autoren dieser Rezension haben bemerkt, dass die meisten präventiven Studien auf Jugendliche und junge Mädchen abzielten, bei denen das Risiko sehr hoch war, eine Essstörung zu entwickeln. Die verschiedenen Präventivmaßnahmen zeigten bis zu drei Jahre nach Beendigung der Programme eine leichte bis mittlere Wirksamkeit, um die Risikofaktoren in Zusammenhang mit Essstörungen zu reduzieren. Alles in allem waren die Ergebnisse positiv … aber nicht umwerfend.

      Immerhin konnte man erkennen, dass die wirksamsten Maßnahmen zur Verringerung der Symptome von Essstörungen, der Sorge um das Gewicht und um das Körperbild bei Jugendlichen sowie der Rückgriff auf Diäten zur Gewichtsreduktion auf folgenden Strategien beruhten:

      ✶ Eine bessere Medienerziehung (um eine kritische Haltung gegenüber den präsentierten Inhalten zu erlangen)

      ✶ Die kognitive Dissoziation (Widersprüche zwischen den Gedanken oder Überzeugungen einer Person werden herausgestellt)

      ✶ Kognitive Verhaltensmaßnahmen (die Neuausrichtung von Gedanken und Verhaltensweisen)

      ✶ Maßnahmen, die auf ein gesundes Gewicht abzielen (Normalgewicht, bei dem der Körper sein Potenzial voll ausschöpfen kann)

      Eine ältere Rezension12 kam zu dem Schluss, dass die wirksamsten Programme die interaktiven seien (bei denen die Teilnehmer miteinander sprechen), die über mehrere Sitzungen laufen, für Menschen mit hohem Risikofaktor bestimmt sind (bei Mädchen über 15) und von Fachleuten abgehalten werden.

      Präventivprogramme, die im schulischen Umfeld schwer umzusetzen sind

      Ein groß angelegtes Programm13, das kürzlich in Deutschland durchgeführt wurde, hat eine gewisse Wirksamkeit bei älteren Schülern (17 Jahre) gezeigt. Allerdings fiel den Forschern auch auf, dass die Schulen schwer von den Programmen zu überzeugen waren. Und auch die Durchführung bis zum Ende fiel ihnen schwer, nachdem sie die Programme einmal akzeptiert hatten. Ein vergleichbares Programm wurde in England abgehalten. Hier sollte der Unzufriedenheit junger Mädchen im Hinblick auf ihr Körperbild14 entgegengewirkt werden. Man kam zwar zu dem Schluss, dass die Maßnahmen wirksam waren, doch die Ergebnisse schwankten von Schule zu Schule stark, und die für diese Weiterbildung verantwortlichen Lehrer hätten besser geschult werden müssen, um die Inhalte getreu vermitteln zu können.

      Alles in allem handelt es sich um Programme, die in einem Schulsystem schwer umzusetzen sind, in dem das Personal und die Lehrkräfte ohnehin überfordert sind. Wir haben es also mit einem alarmierenden Befund zu tun: Gegenwärtig werden wenig Geld und Zeit bereitgestellt, um allen Schulen geeignete Präventivprogramme zur Verfügung zu stellen. Was also tun?

      ✪

      Zwei große Herausforderungen

       1. Diesem Thema in der Gesellschaft wirklich Vorrang geben!

      Obwohl Essstörungen zu einer erhöhten Sterblichkeit und mehr Suiziden führen und die Behandlungskosten für diese Art psychischer Erkrankungen enorm sind, übersteigt die Finanzierung durch die Regierung Kanadas im Jahr im Durchschnitt nicht 2,41 $ für jeden Betroffenen. Zum Vergleich: Für jeden von Autismus Betroffenen werden im gleichen Zeitraum 462,14 $ ausgegeben, und für jeden an Schizophrenie Erkrankten sind es immer noch 103,31 $.15 In Australien und den USA fällt diese Unterfinanzierung angeblich noch gravierender aus.


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