Wenn ich denn laufe, dann laufe ich. Norbert Schläbitz
ausübte denn mehr ein Vermeidungsverhalten. Ich lebte in Essen und ging recht unregelmäßig meinem Studium nach. Ich stand bei aller Gelegenheitsstudiererei doch eines Tages tatsächlich vor meinem Examen, und irgendwie schlich ich wie die Katze um den bekannten heißen Brei um diesen Prüfungsmarathon herum. Diese Zeit war lerntechnisch wenig produktiv, denn ich traute mich nicht recht, den Abschluss anzugehen. Außerdem redete ich mir – per gelungener Autosuggestion – ein, dass meine Sehkraft nachgelassen hätte und das Lesen schwieriger Bücher mir gar nicht guttäte. Also schonte ich mich, nahm Abstand vom Lernen und Lesen. Damit das schlechte Gewissen ob der fraglos völlig berechtigten gesundheitlichen Beeinträchtigungen beim Lesen nicht zu sehr wuchs, begann ich nach jahrelanger Laufabstinenz die Trainingsschuhe wieder zu schnüren. Anstatt mir eine neue Brille verschreiben zu lassen, kaufte ich also neue Laufschuhe. Und ich empfand diesen Entschluss durchaus logisch und völlig folgerichtig.
Von einem unerschütterlichen Ehrgeiz gleich eingenommen, sollte als Endzeit unbedingt eine Zeit unter drei Stunden stehen. Nach mehreren Monaten Training mit Einheiten bis zu 36 km mit einem Kilometer-Schnitt von knapp 4 Minuten, manchmal darunter, fand ich, dass das irgendwie doch knapp werden könnte mit einer Zeit mit einer angestrebten 2 vor dem Komma oder (Doppel-)Punkt, denn bei den letzten Kilometern jeder Einheit konnte ich diesen Schnitt beileibe nicht halten. Die Beine wurden mir schwer, jedes Mal sehr schwer. Ich fürchtete um eine Zeit, die jenseits der drei Stunden hätte liegen können: so bei 3.02 Std. oder 3.03 Std. In meiner Vorstellung kam das einem Desaster gleich. Da brach ich dieses Experiment ab und stellte die Schuhe ungeputzt wieder in den Schrank, denn ich bin ein Schlunz, und Putzen behagt mir nicht. Rückblickend gesehen, ärgere ich mich über diese Entscheidung noch heute. Was würde ich allein für die Trainingszeiten von damals heute geben? Auch hatte ich damals nur einen einzigen Marathon ins Blickfeld genommen, warum nicht mehrere? Dort hätte man das mögliche Desaster von 3.02 Std. oder 3.03 Std., wenn man es denn so sehen musste und es so gekommen wäre, doch problemlos korrigieren können. Aber vorbei ist vorbei.
Das Training hatte gleichwohl seinen eigentlichen Zweck erfüllt. Vom Nichtstun am Schreibtisch beunruhigt, konnte ich meine Zeit mit anderen Aktivitäten füllen und befand die Zeit jetzt gut verwendet. Mein schlechtes Gewissen wanderte in den Untergrund, wo es nicht mehr ganz so heftig an mir nagte, weil eine sinnvoll ausgefüllte Zeit mit Laufen mir was anderes suggerierte. Und nebenher hatte ich meine Augen trefflich schonen können.
Eine neue Brille ließ ich mir dann doch noch verschreiben und sie ungenutzt auf dem Schreibtische liegen, denn die alte versah noch hervorragend ihren Dienst. Dem Prüfungsmarathon konnte ich mich aber immer noch nicht stellen! Zur Vermeidung eines schlechten Gewissens erfand ich daher neue, vom läuferischen Gestus nicht bewegte Gründe. Sie spielen an dieser Stelle keine so nennenswerte Rolle, und ich lasse es, sie zu schildern.
Es mussten dann noch einmal Jahrzehnte vergehen, bis ich das Lauf-Projekt Marathon erneut in Angriff nahm. Mittlerweile stand ich, nachdem mir keine rechten Gründe zur Vermeidung aller Prüfungen mehr eingefallen waren und ich mündlich wie auch schreibend Prüfern die Welt erklärt und weitere Welterklärungen später in ausgesuchten Prüfungen nachgeschoben hatte, mittlerweile stand ich also längst im Beruf, und die beruflich bedingte mehr sitzende und schreibende Tätigkeit hatte mich leicht – wie soll man sagen – angedickt, wobei die Betonung ganz ohne Frage auf dem näher bezeichnenden Adjektiv leicht liegt. Und in Ergänzung meiner Rede könnte ich ein ganz noch hinzufügen. Nicht nur saß ich, schrieb ich, auch genoss ich regelmäßig die gute Kost beim Griechen, die nun nicht gerade für ihre Kalorienschwäche bekannt ist. Gerüchte besagen, es verhielte sich genau andersherum.
Wirklich aufgefallen war mir mein allmählich gewachsener Umfang zunächst nicht. Nur auf Fotos von mir fand ich mich seltsam anders geworden, zwar nicht und nie dick, aber eben anders. Die Zuschreibung dicklich hätte ich aber nach wie vor mit ehrlicher Überzeugung weit von mir gewiesen. Mein Eindruck, den ich heute beim Durchschauen jener fotografischen Zeitdokumente habe, ist, dass bei weiterer Zunahme um – sagen wir – fünf Kilo die Zuschreibung dick gleichwohl nicht ganz verkehrt gewesen wäre. Damals führte ich alles auf eine proportionale Verzerrung von – man glaubt es kaum – schlecht gemachten Fotos zurück, auf Fotos, die mich in ein nicht ganz so gutes Bild gerückt hatten, aus ungünstigem Winkel sozusagen geschossen.
Ich wohnte längst nicht mehr in Essen, sondern in Paderborn, wohin mich mein Beruf verschlagen hatte. Und der Zufall wollte es, dass meine Vermieterin Magda es mit dem Laufen versuchen wollte. Das muss so um das Jahr 1999 gewesen sein. Ich erinnerte mich an meine mittlerweile schon Jahrzehnte zurückliegende aktive Zeit und bot mich gleich sportlich an. 1999 schnürte ich erstmals seit langer Zeit wieder die Laufschuhe, und über die nächsten Jahre hinweg liefen Magda und ich fast jeden Samstag sehr regelmäßig unsere knapp 10 Kilometer. Nie weniger, aber auch nie mehr. Angedickt blieb ich weiterhin, ich wusste den Kalorienverlust in geeigneter Weise zu kompensieren, und obendrein hatte ich ja ohnehin ein ganz anderes schlankeres Bild von mir. Wozu mich also disziplinieren? Die These von den schlecht gemachten Fotos hielt mich nach wie vor von jeder tieferen Einsicht ab. Abermals: Mir ist es heute, beim Anblick von Fotos aus jener Zeit, rätselhaft, wie ich mir das jemals einreden konnte.
Eines Tages, es war das Jahr 2007, kehrte Magda mit Stefan, ihrem Mann, aus dem Urlaub zurück. Schon lange wohnte ich nicht mehr bei den beiden, schon lange waren wir Freunde geworden, und heute sind die beiden – das sei am Rande nur erwähnt und in Klammern gesprochen – nicht nur sehr gute Freunde, sondern mir Schwägerin und Schwager, liebe Verwandte, wie man sie sich nur wünschen kann. Stefans Schwester Maria ist mir – ebenfalls im Jahre 2007 – erst lieb und später, als aus „lieb“ Liebe geworden war, dann 2011 meine Frau geworden. Klammer zu.
Auf unserer samstäglichen Runde machte mich also Magda (nicht Maria) mit der Idee vom Marathon bekannt. „Wie bist du denn auf diese Idee gekommen?“, fragte ich weder sehr begeistert noch überzeugt. Sie hatte im Urlaub einen Holländer getroffen, ihm erzählt, dass sie schon seit Jahren laufe, eben jene 10 km, und der warf unbekümmert in den Raum: „Ja, dann musst du doch den Marathon laufen.“ Da war sie nun, die Idee vom Marathon. Einfach so dahergesagt, ob von sexuellen Missständen jenes Holländers geprägt, weiß ich nicht zu sagen, glaube es aber eher nicht. Jedenfalls legte dieser Satz einen Keim in Magda ab, der wuchs, sich manifestierte und endlich – nach dem Urlaub – sich mir strahlend mitteilte.
Zwar war ich skeptisch, doch ich bot mich an, eine Laufgruppe zu suchen, die dieses Ziel anvisierte. Einen Alleinversuch hatten wir gleich ausgeschlossen. Die Idee auszusprechen war ein leichtes Unterfangen gewesen, eine geeignete Laufgruppe zu finden dagegen ungleich schwerer, denn entweder hatten Vereine so was gar nicht in ihrem Programm, mangels Teilnehmer eben wieder eingestellt oder es gab kostenpflichtige Laufkurse über 10 Wochen, die aber ans Ende nicht den Marathon, sondern den Halbmarathon setzten. Außerdem starteten sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn wir wollten jetzt sogleich mit dem Training loslegen und nicht erst in einigen Wochen wie angeboten.
Endlich fand ich googelnd einen Anlaufpunkt beim Lauftreff Elsen-Wewer nahe Paderborn. „Dann kommt doch einfach mal vorbei“, meinte Ulrich, der die Lauftruppe geradezu genial betreut, und sich für mich alsbald als das Herzstück sowie die unverzichtbare Seele unserer Lauftruppe darstellte. Ohne Ulrich wäre der Lauftreff Elsen-Wewer ärmer. Wo immer Menschen sich zusammenfinden, braucht es ein Zentrum, um das die Gruppe sich reiht und sie vereint. Ulrich ist so ein Mensch. Genug des Lobs. „Wir haben gerade eine Laufgruppe gebildet, die im nächsten Jahr ihren ersten Marathon angehen will. Samstag um 14 Uhr treffen wir uns, und je nach Leistungsgrad und Laufziel teilen wir uns auf. Und dann geht es los.“ Und so – ging es also los!
Nix mit Sex und so, aus einer unerfüllten sexuellen Begierde geboren, die Potenz sich noch einmal beweisen (wie beim Laufen das auch immer gehen soll?) oder was weiß ich. Ein Holländer war es und Magda, dass das Projekt Marathon von uns in Angriff genommen wurde.
Mit