Wenn ich denn laufe, dann laufe ich. Norbert Schläbitz
ich noch nie laufen. Da spürte ich fast unmittelbar, wie die Kraft mir entzogen wurde, so als ob ein Ventil geöffnet würde. Noch schlimmer als die kurzen, knackigen Anstiege war aber eine langgezogene, leicht ansteigende und vielleicht zwei bis drei Kilometer lange mehrfach geschwungene Kurve. Sie schien kein Ende zu nehmen. Sie wurde mir von Runde zu Runde länger. Und am Ende dieses Anstieges stand alsbald die Entscheidung an: Nächste Runde oder Abbruch? Ich hätte ja auch „Zieleinlauf“ denken können. Mir stand dabei immer nur der weniger schöne Gedanke an „Abbruch“ im Sinn. Es hätte sich wie eine Niederlage angefühlt, abzubiegen jetzt zum Ziel. Und diese Entscheidung wartete nach diesem zwar sanften, aber langen, langen Anstieg. Gegen Ende des Anstiegs konnte ich die Beine kaum noch heben. Die Oberschenkel waren so müde. Nur mein Wille ließ sie voranbewegen.
Obendrein kam das, was ich bislang nur aus Erzählungen kannte: Krämpfe – erst in der linken Wade, dann in der rechten. Endlich auch mal in den Oberschenkeln. Die Krämpfe hießen mich jedes Mal stehen zu bleiben, um den Krampf zu lösen, zu spüren, dass dies nur unzulänglich gelang, um dann irgendwie doch weiterzulaufen.
In jeder Runde läuft man zwei Verpflegungsstellen an: Zu Beginn habe ich mich im Modus Laufen mit Tee oder Wasser versorgt. Ab Runde drei sehnte ich diese Verpflegungsstellen herbei. Sie gaben mir das Alibi, stehen bleiben zu dürfen. Ich humpelte sie an, so gut ich konnte, schlürfte dort meinen Tee, genoss jede Sekunde, wissend, dass es ja noch weiterging. Eine nette Dame, die mir in Runde vier einen Becher reichte, fragte mich, dem Irrtum erlegen, ich wäre schon in der letzten Runde: „Na, aber jetzt geht es doch wohl ins Ziel? Es ist ja nicht mehr weit.“ Meine Antwort, dass ich noch eine weitere Runde müsste, entlockte ihr den ehrlichen und bestürzend echt klingenden Ausruf: „Um Gottes willen!!!“ Ich musste wohl so aussehen, wie ich mich fühlte. Aufbauend war dieser Ruf gleichwohl nicht. Er spiegelte meine innere Verfassung nur allzu deutlich wider. Du musst unglaublich Scheiße aussehen. Das traf es wohl am genauesten.
Von dieser Wasserstelle an baute ich auch Gehpausen zwischen denselben ein. Zunächst erlaubte ich mir nach jedem gelaufenen Kilometer eine Gehpause von etwa 100 m. Dann aber, endlich in Runde fünf, vielleicht noch fünf Kilometer vom Ziel entfernt, verkürzte ich dieses Intervall rapide: 200 m gehen folgten 200 m – nennen wir es – schlurfen, denn laufen war es längst nicht mehr. Unter großen Mühen und mit jeweiligem Bedauern verließ ich jedes Mal den Gehmodus, um die Simulation eines irgendwie Laufens herbeizuführen. Manchmal bekam ich aufmunternde Rufe von Vorbeilaufenden: „Komm, wir laufen zusammen.“ Jeder Versuch, einer solch freundlichen Aufforderung nachzukommen, scheiterte sehr schnell. Alsbald gab ich es auf, einem solchen Angebot auch nur wenige Meter Folge zu leisten.
Ich war mit mir nicht ganz einig, ob mich solche Angebote aufmunterten und mir halfen oder ob sie mir den letzten Rest gaben, spätestens dann, wenn ich mir eingestehen musste, das macht überhaupt keinen Sinn, es auch nur zu versuchen. Was mich wunderte, war, dass ich nicht längst ans Ende des Feldes gerutscht war. Immer wieder mal wurde ich wieder und dann wieder überholt. Letzter war ich – wie ich später feststellte – noch lange nicht. Das schien mir wie ein Wunder, bei dem Tempo (wobei die Begrifflichkeit „Tempo“ einem Euphemismus gleicht), das ich anschlug.
Anfänglich hatte ich noch öfter auf die Uhr geschaut und frohlockt, wenn ich sah, dass ich unter der geplanten Zeit lief. Irgendwann ließ ich das bleiben. Statt einer Endzeit stand nur noch ein einziger Gedanke im Raum entlang der Strecke: Einfach nur ankommen. Es schien mir, als ob an jedem Baum dieses kleine Motto nur für mich und wenige andere unsichtbar geschrieben stand. Und das tat ich dann auch: ankommen. Irgendwann wusste ich, nach Passieren endloser imaginärer Schilder mit jenem unscheinbaren Motto, dass ich tatsächlich ankommen würde. Das gab zwar keine neue Kraft, aber immerhin doch eine alle Unpässlichkeiten weiter ertragende Motivation.
Der Zieleinlauf selbst geht abwärts, was mir half, meinen Körper zu richten, eine halbwegs gescheite Laufhaltung einzunehmen. Es half mir, so was wie eine Art Endspurt hinzulegen, um dann endlich stehen bleiben zu dürfen, nach genau 42,195 km. Im Untergrund schlummerte sogleich eine erste glimmende Freude, aber der zu lange strapazierte Körper überlagerte dieses Gefühl noch. Zwei, drei Positionen vor mir war ein Läufer ins Ziel getrudelt, der zusammen mit seinem weißen Husky die Strecke bewältigt hatte. Auch an dem Hund war die Strecke nicht unbeeindruckt vorübergegangen. Nach dem Zieleinlauf legte jenes schöne Tier sich erschöpft zur Seite und war von nichts zu bewegen, seine vier Pfoten nochmals in Bewegung zu setzen. Mein Wunsch, mich daneben zu legen, war riesengroß. Und doch bei aller Erschöpfung, die Freude glimmte im Stillen weiter, bis sie ein flackernd-kleines Feuer wurde: Ich war ein Marathoni nun.
Trainingsalltag.
Von Flow bis Schweinehunden
Marathontraining – ich bin da hin- und hergerissen. Mittlerweile, nach einigen Jahren Marathon, habe ich da meine Erfahrungen. Manchmal ist es ok, aber manchmal ist es nicht ok. Wenn es „nicht-ok“ ist, dann erscheint mir mein Training wie eine Last. Schon zu Beginn fühlen sich die Beine müde an. Gleichzeitig meldet sich die listige Idee, du könntest doch aufhören. Morgen ist doch auch noch ein Tag. Ehrlich gesagt, ist das eine grottenschlechte Idee. Sie ist nicht nur der Tagesform geschuldet, sondern auch der Bequemlichkeit. Ein Training abzubrechen, ist schließlich keine große Sache. Im Gegenteil, die Couch verheißt Gemütlichkeit, ein kaltes Bier zudem Genuss. Endlich noch ein Buch, ein Film und – größtes Glück – mit meinem Schatz essen gehen (und vielleicht noch etwas mehr, doch darüber will ich schweigen hier), woran fehlte mir dann noch?
Auch einfach nur rumlungern – dösen mit unserer Katze auf dem Bauch. Und unsere Katze Minimou würde eine solche Früh-, Nachmittags- oder Abendgestaltung durchaus begrüßen. Das ist für sie das Größte. Zumindest glauben wir, das an ihrem Verhalten abzulesen. Wenn wir oder ich auf dem Sofa liege/n und sie von der Rückfront um die Ecke lugt, dann scheint es mir, dass ihre Augen erwartungsvoll leuchten, wenn sie einen von uns da so rumliegen sieht. Noch ein tiefer Augenblick zwischen Mensch und Katze, man sieht ein Einverständnis erlangen (nicht, dass ein Einverständnis zwingend nötig wäre, sie täte trotzdem, was sie für richtig hielte), und sie springt auf die Couch, den Schoß sodann, zwei, drei Drehungen, um den Bauch zurechtzudrücken, und dann Ruhe. Das alles könnte man tun. Doch alles zu seiner Zeit, die zu jeder Zeit sein kann, man weiß es nun mal nicht.
Zeiten allein mit Gemütlichkeit verstreichen zu lassen ist keine gute Idee, wenn man sich einen Marathon zum Ziel setzt, denn dieselben Verlockungen stünden mir auch am nächsten Tag vor Augen, möglicherweise dann mit einer Tagesform, die sich noch etwas schlechter anfühlte als die vom Tag zuvor. Und so rutscht man allmählich aus seinem Trainingspensum heraus, wenn man der Idee zu dösen immer wieder nachgibt. All die schönen Sachen lassen sich zumeist auch nach dem Training mit einem noch besseren Gefühl machen. Ich versuche also, Bequemlichkeitsideen nicht nachzugeben (kommt aber schon mal vor, ich gestehe es. Die nicht gelaufenen Kilometer addiere ich dann dem Folgetag mit dessen Trainingskilometern zu.)
Der Schritt vor die Tür, und los geht es. Die ersten Meter, der erste Kilometer wird gerne vom Schweinehundsyndrom begleitet, wenn es regnet, schneit, nass, kalt und dunkel ist: Was machst du da? Warum tust du das? usf. Dieser Schweinehund begleitet mich schon mein ganzes Leben, sobald Anstrengungen anstehen. Ich nehme ihn mittlerweile so, wie er ist, und lass ihn fragen, bohren: Meistens verliert er sowieso. Und wahrscheinlich wäre ohne ihn nach dem Lauf das Gefühl nicht so schön, der Versuchung widerstanden zu haben, wobei ich gegen Versuchungen prinzipiell ansonsten gar nichts habe.
An anderen Tagen kann ich es kaum erwarten, die Schuhe fest zu schnüren. Da kribbelt es in den Beinen. Ich muss dann raus. Selbst das Wetter spielt dann nur eine nachgeordnete Rolle. Es geht nicht anders. Ich muss dann laufen. Maria kennt das schon. An solchen Tagen ist es „ok“ und mehr als das. Es ist ein Muss!
Ich laufe zwischen drei und fünf Mal die Woche. In der Regenerationsphase nach einem Marathon laufe ich drei Mal die Woche maximal 50 km. Wenn dann die heiße Trainingsphase beginnt vor einem Marathon, laufe ich 4, manchmal 5 Mal die Woche zwischen 75 und 85 km, selten mehr, aber auch selten weniger. Eingestreut in die Woche ist dabei ein langer Lauf von 25 km aufwärts bis maximal 30 km. In der Regel sehe ich zu, dass es der 30-km-Lauf wird, aber ich erzwinge mittlerweile nichts mehr, das Körpergefühl muss stimmen