Wenn ich denn laufe, dann laufe ich. Norbert Schläbitz
Training ist auch kontraproduktiv, wenn ich zu viel will, der Körper aber weder mag noch kann. Die meisten Trainingseinheiten spule ich, Körper und Geist im Einklang, einfach so herunter. Hemd, Hose, Socken, Schuhe und mein unvermeidliches Stirnband, gegebenenfalls noch am Handgelenk ein Schweißband. Mehr brauch ich nicht.
Ach, mein Stirnband. Da habe ich so einen kleinen Spleen, eine Marotte entwickelt. Das Stirnband ist zunächst mal eine unvermeidliche Größe bei mir. Ich neige zum starken Schwitzen. Ohne Stirnband läuft mir nach spätestens einem gelaufenen Kilometer der Schweiß über das Gesicht und – schlimmer noch – in die Augen, was unschön brennt. Ich habe mich schon oft gefragt, wie andere damit klarkommen. Für mich stellt das eine große Behinderung dar. Mit dem Stirnband kann ich das eindämmen, und nach dem Training ist es wie ein nasser Lappen nass. Also: Ohne Stirnband geht praktisch nichts.
Bei Wettkämpfen trage ich zumeist mein blaues Stirnband mit dem Aufdruck Wilson. Und da beginnt dann der Spleen oder die Marotte. Er – also Wilson – ist sozusagen mein bester Freund beim Marathonlauf und mein unverzichtbarer Begleiter. Wilson weiß alles über mich beim Lauf. Er bekommt alles mit: meine Stärken, meine Schwächen, meine gesamte Tagesform, und vielleicht steht er sogar in Kontakt mit meinen Gedanken, Gefühlen, wer weiß?, so nah wie Wilson ihnen ist. Wilson, mein Begleiter.
Hieß der angemalte Basketball in dem Film Cast away mit Tom Hanks nicht auch Wilson? Auf alle Fälle hieß der Sieger des Berlin-Marathons im Jahre 2013 mit Vornamen auch Wilson. Wenn das kein Zeichen ist, dann weiß ich es nicht.
Nun denn und also: Wilson hat es einfach drauf. Ersatzweise habe ich noch ein schwarzes Stirnband von Nike. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht näher erläutern kann, spielt es bei mir nur die zweite Geige. Es tut mir Leid für dich, Nike. Da ist nichts zu machen. Mittlerweile hat Wilson seine eigene innere Spannung zu großen Teilen schon verloren, er wirkt wie ausgeleiert, abgespannt. Kein Wunder nach so vielen Trainingsstunden und Wettkampfkilometern. So schade das ist und auch, dass er mir mittlerweile manchmal ins Gesicht rutscht, ich greife doch, wenn es darauf ankommt, auf ihn zu. Er bleibt meine erste Wahl.
Ich denke mal, ich bin nicht der einzige Marathonläufer, der sich so eine Marotte zu Eigen gemacht hat. Ich erinnere mich an einen Lauffreund aus Paderborn, genauer von unserem Lauftreff Elsen-Wewer, der lief immer mit einem Vereinshemd vom 1. FC Köln. Wenn ich das noch recht in Erinnerung habe, trug dieses aus leicht einsichtigem Marathongrund die Nummer 42.
Das Schöne beim Laufen ist, dass man keine festen Zeiten braucht. Auch das Sportgerät bleibt überschaubar. Als Anfänger reicht ein altes Baumwollhemd und eine kurze Hose. Lediglich bei den Schuhen sollte man nicht sparen. Und dann schaut man erst einmal, ob Laufen für einen etwas ist. Ich laufe gerne und oft morgens in der Frühe. Mein Bio-Rhythmus ist irgendwie so eingestellt. Die morgendliche Frische tut ein Übriges, mich zum Laufen zu ermuntern. Also raus vor die Tür, ich falle fast in die Natur, und schon geht es los. Bei den Streckenrunden variiere ich nur selten. Es gibt so zwei, drei, vier unterschiedliche Runden, und die laufe ich so gut wie immer. Ich bin da nicht so anspruchsvoll und auf Abwechslung erpicht. Vor die Tür zu treten heißt genauer, zum Elbe-Seiten-Kanal zu laufen, der etwa drei Kilometer von meinem Zuhause liegt. Manchmal mache ich ein paar Schlenker, dann erreiche ich ihn nach 6 Kilometern.
Tja und dann laufe ich erst Kilometer um Kilometer in die eine Richtung, passiere die eine oder andere Brücke, und je nachdem, ob ich mir eine 15-km-, 20-km- oder 30-km-Einheit vorgenommen habe, wechsle ich irgendwann auf die andere Seite, und ich laufe im Grunde dieselbe Strecke zurück. Also: Fürs Auge wird da nicht so sehr viel geboten. Das Streckenprofil sieht praktisch immer gleich aus. Es ist immer flach, es gibt keine großen Richtungsänderungen, nur geradeaus, bestenfalls mal eine endlos langgebogene Kurve, die sich beim Laufen aber auch beinahe gerade ausnimmt.
Ich könnte auch ganz andere Strecken laufen, durch den Wald zum Beispiel. Mache ich aber nicht oder fast nie. Das versteht nicht jeder. Ich schätze die gerade Linie. Der Boden ist immer eben. Ich muss wenig auf Unebenheiten achten. Eigentlich muss ich auf nix achten, bis auf irgendeine Brücke, wo ich mir vorgenommen habe, auf die andere Seite zu wechseln, und dann geht es zurück. Nicht dass es der Überquerung der Brücke bedürfte, ich könnte ja auch dieselbe Strecke am gleichen Ufer zurücklaufen. Es ist um der Abwechslung willen, dass ich am anderen Kanalufer zurücklaufe, wenn man denn von Abwechslung hier reden möchte, denn recht eigentlich bleibt es ja dieselbe Strecke, nur vom anderen Ufer aus betrachtet.
Lediglich im Sommer, wenn es heiß ist, ändere ich manchmal die Strecke. Und das hat keineswegs was mit der Sonne zu tun, der man mit zunehmender Uhrzeit nur schwer entgehen kann, sondern mit den Bremsen, die den Elbe-Seiten-Kanal irgendwie zuhauf bevölkern. Die sind eine echte Strafe. Sie sind lästig, hartnäckig, und ihre Bisse setzen mir erheblich zu. Ein großer Freund davon bin ich nicht. Selbst die nehme ich aber zuweilen in Kauf, um von meiner Gewohnheit nicht abweichen zu müssen. Ich bin da stur wie eine Katze: Auch die hassen Veränderungen und schätzen das Gewohnte. Vorne rum kann ich mit den Händen schlagen und so manche Bremse auf nacktem Arm erledigen sowie mit fuchtelnden Händen meinen Kopf vor ihnen, die sich auch schon mal im Haar, auch Ohr, verheddern, leidlich schützen. Schon mehr als einmal ist mir so ein Scheißding auch in den Mund geflogen. Selbst diese Unpässlichkeiten nehme ich klaglos nicht, aber doch in Kauf, nur um der Gewohnheit nicht zu weichen.
Erst zum Nachdenken hat mich ein anderes Bremsenereignis gebracht, als – an einem besonderen Bremsentag – diese Viecher auch meinen Rücken unaufhörlich attackierten. Mir war das gar nicht so bewusst unterwegs. Nur zwickte mich immer wieder was unangenehm am Rücken. Aber ich trug ja ein Hemd, und deshalb kam mir gar nicht in den Sinn, dass dies Bremsenbisse sein könnten. Erst zuhause spürte ich diverse rötliche Entzündungen auf meinem Rücken. Und mein Schatz zählte dann sage und schreibe 19 Bremsenbisse. Das war selbst mir zu viel. Da ich so meine Erfahrungen gemacht habe und weiß, zu welchen Tageszeiten und bei welchen klimatischen Bedingungen Bremsen gerne unterwegs sind, weiche ich dann doch manchmal auf andere Strecken aus. Man glaubt es kaum: Selbst mich beschleicht zuweilen die Vernunft.
Selten verlege ich meine Trainingseinheiten in den Nachmittag. Dann begleitet mich gelegentlich mein Schatz mit dem Fahrrad. Mein Schatz, das ist Maria. Und Maria ist eine tolle Begleiterin, nicht nur im Leben, auch am Elbe-Seiten-Kanal. Maria führt immer eine Wasserflasche mit und erinnert mich dann und wann, wie es denn mit einem Schluck Wasser wäre? Das sind die seltenen Male, wo ich auch beim Training trinke. Ich kann diese Gürtel einfach nicht leiden, in die man Flaschen stecken kann. Sie schlackern hin und her, egal wie eng man sie bindet. Also laufe ich 20, 30 Kilometer oft ohne einen einzigen Tropfen Wasser. Mit Maria ist das Luxus pur, wenn sie mir das Wasser reicht.
Kaum einmal bei solchen gemeinsamen Läufen entwickelt sich ein Gespräch. Aber das macht nichts. Man ist beieinander und spürt sich auch. So hängt jeder seinen Gedanken nach. Ich bin ohnehin beim Laufen zumeist in mich versunken. Wenn Maria mich begleitet, ist zwar jeder für sich mit seinen Gedanken, und man ist doch gemeinsam. Anders erklären kann ich es nicht. Nur dass es schön ist, diese Verbundenheit auch ohne große Worte zu spüren.
Abwechslung bringt auf meinen Strecken so mancher Frachtkahn mit sich. Ich liefere mir so das eine oder andere Mal ein kleines Wettrennen mit ihnen. Je nach dem, wie schwer die Lasten sind, die sie tragen, fällt das mal schwerer oder auch nicht. Eine wirkliche Chance haben sie nur dann, wenn ich müde bin und sie nicht so schwer beladen sind. Dann lasse ich sie von dannen ziehen. Mittlerweile kenne ich so manchen von ihnen, denn sie fahren diese Strecke öfters. Und sehen sie auch anfangs alle ziemlich ähnlich aus, so weiß ich nach einigen Begegnungen, den kennst du doch.
Wenn es rund läuft, fließen die Kilometer nur so davon, ich spüre die Kraft, und da ist es die reinste Freude, sich treiben zu lassen. Der berühmte „Flow“-Effekt, der Eindruck, beinahe zu fliegen, stellt sich manchmal ein. Schon in jungen Jahren, Jahrzehnte früher, habe ich mit ihm Bekanntschaft gemacht bei meinen Runden um den Baldeneysee in Essen. Dass sich die Bekanntschaft jetzt jenseits der 50 Jahre erneuern würde, hätte ich nicht gedacht. Der Flow-Effekt erzeugt ein