Die Liebe ist ein schreckliches Ungeheuer. Franziska Schläpfer

Die Liebe ist ein schreckliches Ungeheuer - Franziska Schläpfer


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sich Briefe zu schreiben. Die Verleger Bettina Kiepenheuer und Martin Hürlimann verfassten zwar je ihre Autobiografie, hüteten aber ihre Intimsphäre. Bei beiden Paaren wirkte die Liebe eher unterschwellig, wie eine freundschaftliche Grundmusik. Im Zentrum stand ihr Lebenswerk; ihre Zusammenarbeit brachte sie wechselseitig in Bestform. Die Engadiner Schriftstellerin Johanna Gredig und der Bergeller Zöllner Agostino Garbald sahen sich nach der ersten Begegnung im Herbst 1860 ein einziges Mal vor ihrer Hochzeit, unterhielten sich aber in der Zwischenzeit mit umwerfend spöttischen Briefen. Das Leben im engen Bergtal war dann weniger heiter, aber ihre weiblichen Romanfiguren stattete die Autorin so aus, wie sie gern gewesen wäre: «Das Mädchen soll nicht zum Fachmenschen, nicht zur Gattin, nicht zur Mutter erzogen werden, sondern vor allen Dingen sei das allgemein Menschliche in ihr auszubilden. Ihr Herz soll weit, ihr Verstand klar sein. Sie soll wissen, dass sie zuerst ein Ganzes für sich, nicht die Hälfte eines Andern ist. […] Sie soll allein stehen können.» Überraschend, wie wenig aus der grossbürgerlichen Welt des kunstsinnigen Industriellenpaars Jenny Sulzer und Sidney W. Brown nach aussen drang. Kein Hochzeitsbild, die Liebesbriefe verbrannt. Die Ehe lässt sich nur anhand von Jennys täglichen Notizen rekonstruieren. Umso mitteilsamer und streitlustiger waren die Revolutionäre im Ärztekittel: Meistens getrennt, verständigten sich der Zürcher Fritz Brupbacher und die Russin Lidija Kotschetkowa vor allem schriftlich.

      Die grosse romantische, unverbrüchliche Liebe kommt nicht vor. Umso variantenreicher spielten die neun Paare die Liebe durch. Sie konnte sogar, wie für Lidija Kotschetkowa, zum «schrecklichen Ungeheuer» werden.

      Anne-Marie Blanc und Heinrich Fueter

      Sie spielten unterschiedliche Rollen in einer Beziehung, die permanent auf die Probe gestellt, aber getragen wurde von nicht nachlassender Zärtlichkeit: Anne-Marie Blanc, «Grande Dame» der Schweizer Theaterwelt, oft im Ausland auf Tournee, verkörperte auf der Bühne und im Film zwar das Frauenbild jener Epoche, war aber im wirklichen Leben ihrer Zeit voraus. Heinrich Fueter, unternehmerischer Filmpionier, brachte unter einen Hut, was in der Regel Frauen leisten: Er führte seine Condor-Film AG zum Erfolg, erzog drei Buben, pflegte Freundschaften und Familie – und versäumte keine Hauptprobe seiner Gattin. Sie wirkte in etwa 200 Theaterproduktionen und vierzig Filmen mit, er produzierte in dreissig Jahren Hunderte von Filmen auf allen Gebieten dieser Kunst.

      Auf einer Fotografie von 1977 verdichtet sich die Beziehung: Anne-Marie Blanc und Heinrich Fueter tanzen, altmodisch langsam, so sieht es aus. Sie schauen sich an – und der Betrachterin ist sonnenklar: ein Liebespaar. 58 und 66 Jahre alt. Ein Liebespaar, das einige Turbulenzen hinter sich hat. Das über Jahre und Distanzen im Gespräch blieb, Hunderte von Briefen schrieb, Telegramme, Karten. Heinrich mit kleiner, präziser Schrift, in einer Sprache mal poetisch, mal ironisch, wirkt meist brillant. Anne-Marie schwungvoll rund, sachlich, treuherzig humorvoll – voller Bewunderung für ihren sprachmächtigen Ehemann. Ein Liebespaar, das auch zweifelte, verzweifelte, kämpfte – stilvoll durchaus. Ein Paar, das sich in Phasen der Ungewissheit die schönsten Liebesbriefe schrieb und wieder und wieder zum Schluss kam: «Wir gehören zusammen.»

      Anne-Marie Blanc nahm ihr Leben früh in die eigene Hand; heiraten wollte sie nicht. Wenn doch, dann müsste es ein reicher alter Mann sein, erklärte die 19-Jährige. Ein gutes Jahr später ist sie verheiratet – der Mann ist weder alt noch reich. Das kam so: Am 25. September 1938 bestand sie in Bern die Matura, am 1. Oktober reiste sie nach Zürich, offiziell in die Ferien zu den Cousins Hans und Bianca Fischer, inoffiziell mit dem Ziel, Schauspielerin zu werden. Hans, später unter dem Kürzel «fis» als Grafiker, Maler, Kinderbuchautor und Illustrator international bekannt, war damals Bühnenbildner des Cabaret Cornichon, kannte die Zürcher Theaterwelt – und arrangierte für seine Cousine ein Gespräch mit Oskar Wälterlin, dem neuen Direktor des Schauspielhauses. Sie rezitierte ein paar Monologe und erklärte, den Umweg über eine Schauspielschule könne sie sich nicht leisten. Wälterlin hatte auch kein Geld für sein «Findelkind» und engagierte Anne-Marie als Elevin ohne Honorar. Einen Monat später stand sie unter der Regie von Leopold Lindtberg für einen Hofknicks erstmals auf der Bühne des Schauspielhauses. Noch einen Monat später – sie mimte gerade die zweite Bäuerin im «Tell», zwei Sätze pro Abend – begleitete sie eine Kollegin zum Presseball im Hotel Baur au Lac. Es war schon Mitternacht. Sie passierten eben die Drehtür, da stürmte ein junger Mann auf sie zu: «Heini Fueter. Wartet hier, ich besorge uns einen Tisch.» Sagte es und verschwand. Zwei andere Herren führten die Damen aufs Parkett. Anne-Marie tanzte bis zwei Uhr morgens, sass dann mit ihrem Kavalier im Bierkeller, als Fueter dazukam. Jetzt war die Reihe an ihm. «So hat die Sache mit meinem Mann angefangen.» Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick. Ihr Plan war ein anderer: ein unabhängiges Leben führen, nicht ständig einen Mann um sich haben. Schauspielerin wollte sie werden, und man sollte sie dabei bitte «nicht stören». «Vielleicht war es meine nicht ganz sorgenfreie Jugend, die mich in die Theaterwelt flüchten liess», erzählt die 89-Jährige in Susanna Schwagers Buch «Das volle Leben». Dort habe sie früh gelernt, welch «merkwürdige Spielarten» das Leben kennt. «Dass es im Schicksal immer auch Chancen gibt. In meinen Rollen lernte ich fürs Leben. Und aus dem Leben viel fürs Theater.» Sie sei wohl von ihrer ersten grossen Liebe, ihrem Vater, einfach «wahnsinnig enttäuscht» worden. «Die Frauen prägten meine Jugend, aber nachher wurde mein Leben von Männern bestimmt. Mein Mann und meine Söhne erzogen mich, nicht umgekehrt.» Ihre Karriere verdanke sie Heinrich Fueter, der dafür sorgte, dass sie arbeiten konnte.

      «Mein innig geliebtes Herz», schreibt Anne-Marie Blanc am 12. September 1954 aus Göttingen: «Dein Brief … ist eine Goldene Medaille wert, wenn man bedenkt, dass er das Produkt einer 15-jährigen Ehe ist. So schnell macht uns das niemand nach!» Besonders stolz ist sie über sein Kompliment, sie sei im Grunde der einzige Mensch, der ihn wirklich verstehe, über alles «äussere Auseinandergerissensein» und alle beruflichen Verpflichtungen, «die anderen unwesentlich erscheinen», hinweg. Ihr «Wandertrieb» sei wohl ein Erbteil ihres Vaters, aber ihre Verbundenheit, die nach aussen hin so locker, ja beinahe zweigleisig scheinen möge, sei viel tiefer, «weil sie dauernd auf Probe gestellt wird». Vielen sei unbegreiflich, «dass wir diese ewigen Trennungen, diese Hetzerei, dieses Hintansetzen persönlicher Empfindungen auch um Dinge willen auf uns nehmen, die sich in den Augen anderer nicht lohnen». Je mehr sie darüber nachdenke, desto überzeugter sei sie, sie hätten aus der gegebenen Situation das Beste gemacht. «Wäre ich in Zürich geblieben am Schauspielhaus, wäre für meine künstlerische Entwicklung kein bisschen mehr geschehen, so wie die Verhältnisse dort liegen.» Mehr Möglichkeiten als in Deutschland bekomme sie nirgendwo, obwohl ihr die «gebratenen Hühner» auch hier nicht in den Mund flögen. «Dazu müsste ich unerhört geschickt und menschlich unsympathischer oder etwas Einmaliges sein.» Das sei sie leider nicht. Vielleicht ziehe sie beruflich mal «das grosse Los», vielleicht auch nie. Vorläufig wolle sie weitermachen – «immerhin ermöglichen wir uns und unseren Kindern ein anständiges Leben, ohne dass wir uns zu schämen brauchen. Aufgeben oder warten wäre beinahe eitel und überheblich».

      Aufgeben, das kennt auch Heinrich Fueter nicht. 1949 gelang es ihm, seine Condor-Kurzfilme in Europa und den USA als sogenannte Beiprogrammfilme vor dem Hauptfilm zu platzieren. Drei Jahre später schaffte sein Team den sensationellen Dokumentarfilm «Mount Everest 1952»; es begleitete im Frühling und Herbst die Schweizer Expedition mit den Bergsteigern Raymond Lambert und Tensing Bothia, welche erstmals die Südroute erschlossen, 240 Meter unter dem Gipfel aber scheiterten. Als Kältetest wurde das Filmmaterial über Wochen im Kühlschrank der Familie Fueter gelagert. Und die Kameraleute übten im Garten das Fortkommen in hochalpiner Ausrüstung. 1953 produzierte Condor den ersten Farbfilm über eine Herzoperation.

      Am 2. September 1959, Anne-Maries 40. Geburtstag, erinnert Heinrich an den Beginn des Zweiten Weltkriegs und wie sie in seiner Altstadtwohnung mit zwanzig Kerzen und Freund Karl Schmid am Spätnachmittag Anne-Maries 20. Geburtstag gefeiert und diesen um Mitternacht, als die Züge mit den Mobilisierten sternförmig in alle Richtungen fuhren, im Zürcher Bahnhofbuffet «mit drei Bechern Hürlimann Hell» begossen hatten. Das «Experiment Ehe» sei gelungen – «welche Verbindung zweier Menschen ist keines? Ich glaube,


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