Verwurzelt in der Caritas. Daniela Blank

Verwurzelt in der Caritas - Daniela Blank


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      Auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert steht die Katholische Kirche mit ihrer Seelsorgetätigkeit vor großen Herausforderungen. Jahrhundertelang waren Gemeinden keiner großen Fluktuation durch Wegzüge ausgesetzt. Die Gemeindepfarrer wussten bisher um jedes einzelne Gemeindemitglied. Durch die Industrialisierung kommt es nun zu tiefgreifenden Veränderungen: „Die Zeiten, wo sich die Gesamtheit der Pfarrangehörigen als eine bodenständige, mit der Scholle verwachsene, seit Generationen mit dem Pfarrleben verbundene Gemeinschaft darbot, sind für die meisten Großstadtgemeinden längst vorüber. Ein großer Teil des weiten Feldes, das die Seelsorge zu bestellen hat, ist nicht mehr das altbekannte, oft erprobte Erdreich, sondern angeschwemmtes Land; denn schon seit Jahrzehnten wird Deutschland von einer gewaltigen Binnenwanderung beherrscht, die eine große Zahl von Menschen aus dem Lande in die Stadt und von einem Ort zum andern hinführt.“91

      Durch die Industrialisierung und die hierdurch verursachte Binnenwanderung sehen sich die Priester plötzlich mit für sie neuen und gravierenden sozialen Problemen, der sogenannten Sozialen Frage konfrontiert. Hiervor konnten sie ihre Augen nicht verschließen.

      „Es muss aus genauer Sachkenntnis der zur Lösung anstehenden Probleme heraus eine institutionelle Änderung der wirtschaftsgesellschaftlichen Verfassung herbeigeführt werden. Deswegen war es notwendig, dass sich der Klerus, soweit er sich in echter Weise als 'Volkslehrer' (Kolping) erkannte, dem Studium der sozialen Frage mit besonderer Eindringlichkeit widmete, um etwas zur Sache sagen zu können.“92

      Die Seelsorger der Kirche sehen sich gezwungen, ihre Methoden diesen gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen, denn „die ererbten Formen der Pastoration entsprachen nicht mehr den Forderungen der gegenwärtigen Lage.“ 93 Der bereits zitierte Wiesen betont „die Notwendigkeit einer Seelsorgehilfe […], die sich ergibt aus der gewaltigen Zunahme der Bevölkerung, aus dem Priestermangel, aus der Apathie und der Verhetzung weitester Kreise gegen Priester- und Ordensstand, aus der Freizügigkeit, aus den Gefahren modernen Großstadt- und Geisteslebens.“94

      Die Seelsorge hat nicht nur die bestehenden Gemeindemitglieder als Zielgruppe, vielmehr ist eine aufsuchende Seelsorge gefragt, die besonders die Menschen im Blick hat, die sich von einem Gemeindeleben entfernen. Sie wird gar als missionarisch bezeichnet: „Die reguläre Seelsorge muß den engen Rahmen ihrer bisherigen Tätigkeit sprengen und sich zur Missionsseelsorge erweitern, die es sich zur Aufgabe macht, die Verlorenen und Abseitsstehenden zurückzugewinnen, die Gefährdeten und Wankenden zu stärken und den Geist der Treugebliebenen zu erneuern.“95

      Ein neuer Begriff taucht auf: Die Großstadtseelsorge96. Dieser wird durch die 1909 von Heinrich Swoboda veröffentlichte Publikation mit dem Titel Großstadtseelsorge geprägt. „Svobodas Werk machte deutlich, daß in den Großstädten und in den Industriezentren eine bedrohliche Lage der religiösen Seelenpflege bestand.“97 Selbst wenn die Städte immer größer werden, dürfe die Seelsorge, die dadurch erschwert wird, laut Swoboda nicht außen vor gelassen werden.98 Swoboda nennt als angemessene Mittel einer erneuerten Seelsorge: „Bessere Erfassung der Zuziehenden, Pflege des seelsorgerlichen Kontaktes durch Hausbesuche, Weckung und Organisation des Laienapostolates für den Dienst der Seelsorge, bessere Aktivierung der Mitarbeit der Frau im Bereich der Pastoration.“99

      Um die neuen Herausforderungen meistern zu können, benötigt es ein organisiertes und strukturiertes Vorgehen. So wird nach einigen praktischen Erfahrungen 1919 offiziell die Pfarrkartei eingeführt. Wiesen berichtet über die vorangegangene Entwicklung der Kartei:

      „Sie unterrichtet über die religiösen, sozialen Verhältnisse der Gläubigen, über die Fürsorgebedürftigen, gibt die Unterlagen für die rechte Vereinsseelsorge, für die Propaganda der guten Presse usw. […] Stadtvikar Litzinger aus Dortmund hat zuerst 1912 in der Präsideskorrespondenz des Volksvereins eine instruktive Schrift über die Pfarrkartei herausgegeben, 1914 trat dann Johannes Karl Kammer mit einem neuen Kartensystem an die Öffentlichkeit. Ein anderes gab der Caritasverband heraus, das zuerst in Hannover und später in Freiburg praktisch durchgeführt wurde. […] Diese Vielheit wäre für die Seelsorge der Zu- und Abwandernden von Nachteil gewesen. Von den hochwürdigsten Bischöfen ist daher auf der Bischofskonferenz zu Fulda 1919 eine Einheitskarte sanktioniert worden, die von der Zentralstelle für kirchliche Statistik in Köln herausgegeben wird.100

      Die einzuführende Pfarrkartei ist vor allem mit Hausbesuchen verbunden, die durchgeführt werden müssen. Wiesen bezeichnet die Hausbesuche als neue und notwendige pastorale Methode, die neben der Vereinsseelsorge steht:

      „Die neue Zeit verlangte neue Methoden in der Pastoral. Zwei Seelsorgsmittel wurden eifrig, namentlich in den Großstädten und Industriegebieten, aufgegriffen: Die Vereinsseelsorge und die systematischen Hausbesuche.“101

      Die bereits genannten Vinzenzkonferenzen und Elisabethvereine sind Beispiele für eine solche Vereinsseelsorge.

       Caritashilfe/Seelsorgehilfe als Ausbau des Laienapostolates

      Bereits vor dem Ersten Weltkrieg zieht man in Erwägung, Laien in die berufliche Mitarbeit in der Seelsorge einzubeziehen. Dies liegt in der großen Not in der Seelsorge der Großstadtpfarreien begründet. Für die notwendige Umorientierung der Seelsorge vor allem in den Großstädten entstehen nun neue Begrifflichkeiten. Die Idee einer Caritashilfe in der Seelsorge kommt auf.102 So werden seelsorgerlich-caritative Dienste bezeichnet, welche (noch) nicht von der ordentlichen Seelsorge übernommen wurden.103

      Die beiden neuen Begriffe Caritashilfe und Seelsorgehilfe, die zumeist synonym verwendet werden, werden verstanden als eine „dauernde, planmäßige Unterstützung der lehr- und hirtenamtlichen Tätigkeit des Seelsorgers durch Laienkräfte.“104

      Unter dem Begriff Laie wird dabei eine katholisch getaufte Person verstanden, welche keine lehr- und hirtenamtliche Funktion einnimmt. Wiesen stellt die Berufung eines jeden Christen, „der durch das Sakrament der Taufe und der Firmung lebendiges Glied und Mitstreiter der Kirche geworden ist“105, hervor. Die katholischen Vereine stellen bereits ein wichtiges Element in der Bekämpfung von Armut und in der Unterstützung der Seelsorgearbeit des Pfarrers dar. Sie sollen neben den neu gegründeten Caritasverbänden auch weiterhin eine wichtige Rolle für die Seelsorgehilfe spielen:

      „Die caritativen Vereine sollten daher in der organisierten Seelsorgehilfe, die auch so bezeichnend Caritashilfe genannt wird, eine hervorragende Rolle einnehmen. Zwar werden weder Vinzenz- noch Elisabethvereine noch der örtliche Caritasverband ausschließlich Träger dieser apostolischen Arbeit sein, weit weniger noch die Fürsorgevereine, aber bedeutsame Faktoren des Laienapostolates werden sie immerhin darstellen müssen.“106

      Der Begriff Laienapostolat wird 1922 durch die päpstliche Enzyklika Ubi Arcano von Papst Pius XI. kirchlich eingebracht. Dieser fordert eine „Teilnahme des Laien am hierarchischen Apostolat der Kirche.“107 Zu diesem Zeitpunkt gibt es bereits erste praktische Erfahrungen mit Laien als Helfende in den Gemeinden. „Wie so oft in der Kirchengeschichte ging die Praxis der theologischen Reflexion voraus […].“108 Dieses neue Laienapostolat ist eingegliedert in die Seelsorge und soll die Seelsorge des Pfarrers systematisch unterstützen, wie Wiesen ausarbeitet:

      „Daneben steht aber eine andere laienapostolische Bewegung. Sie wird getragen von der ordentlichen Seelsorge unter inniger, lebendiger Eingliederung in den Organismus der kirchlichen Gemeinde. […] Mit dieser Arbeit bringen wir ein wertvolles neues Moment in die Seelsorgearbeit und in die kirchliche Liebestätigkeit hinein: das systematische Aufsuchen der Not und der Hilfsbedürftigen.“109

      Dabei ist Wiesen der Auffassung, dass dem Laienapostolat im Gegensatz zum Priestertum „keine besondere Beauftragung [zugrunde liegt, Anm. DB], sondern […] aus dem allgemeinen christlichen Gebot der Nächstenliebe“110 hervorgeht.

      In der beruflichen Seelsorgehilfe sind zunächst vor allem Mitglieder der Kongregationen


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