Beruf Bäuerin. Susann Bosshard-Kälin
älter als ich. Am Anfang unserer Bekanntschaft war ich noch nicht mündig. Als wir beide und meine Schwester mit ihrem Freund an einem Wochenende auf den Pilatus steigen und in einer Alphütte übernachten wollten, mahnte uns der Vater: «Ihr wisst, dass Mädchen ein Jungfernhäutchen haben. Das soll dann noch ganz sein, wenn ihr morgen heimkommt!» Auf dem Land und in den katholischen Familien wurde man streng erzogen. Niklaus und ich trafen uns nie allein. Oft sind wir nächtelang in unserer Stube auf dem Kanapee rumgehockt. Mein gwundriger kleiner Bruder versteckte sich eines Abends unter dem Sofa, um zu sehen, was seine grosse Schwester mit dem Jungen da so lange machte. Erst als ein kleines Rinnsal unter dem Sofa herauslief, entdeckten wir den Spion. Unverheiratet miteinander zu schlafen, das kam damals überhaupt nicht in Frage. Wir wussten: Das war eine Sünde. Aber wir liebten uns und wollten heiraten. Einen Heiratsantrag hat mir Niklaus nicht gemacht, und eine Aussteuer hatte ich nicht. Von meiner künftigen Schwiegermutter bekam ich die Bettwäsche, die ich lieber nicht gehabt hätte. Das Leinenzeug war steif und hart, und beim Waschen konnte ich die Tücher kaum auswringen.
Als ich zum ersten Mal zu meinen künftigen Schwiegereltern kam, hat mein Herz schon geklopft. Ich sehe es noch vor mir, wie sie und die zwölf Schwager und Schwägerinnen «in spe» mich von Kopf bis Fuss musterten. Zum Glück wusste ich nicht, dass mein Schwiegervater gesagt hatte: «Es soll mir ja keine Schwiegertochter mit Dauerwelle kommen!» Aber ich habe ihm trotzdem gefallen. «Du sollst Vater und Mutter ehren» war für Niklaus’ Familie sehr wichtig, er und alle seine Geschwister sagten den Eltern noch «Ihr». Für sie alle war klar: Wenn das nicht befolgt wird, bringts Unglück.
Bevor wir 1950 heirateten, wollte mein Mann, dass ich die Bäuerinnenschule im Kloster Fahr absolvierte. Es war nicht gerade Bedingung, aber er war der Ansicht, als verheiratete Frau müsse man eine Haushaltungsschule besucht haben. Niklaus’ Schwester Emmi war für den Sommerkurs 1949 im Kloster Fahr angemeldet, und bald hiess es, «geh doch auch gleich mit!» Das Schulgeld hätte ich mir indessen nie und nimmer leisten können. Die Priorin, Schwester Elisabeth Galliker, schenkte mir die gesamte Ausbildung. Von Juli bis Weihnachten lebte ich im Kloster Fahr, im zehnten Kurs der Bäuerinnenschule. Ich war das erste Mal richtig von zu Hause weg, hatte aber überhaupt kein Heimweh. Bei den Schwestern und den vielen neuen Kolleginnen fühlte ich mich wohl. Heim konnte ich nie, aber Niklaus kam mich ab und zu an einem Sonntagnachmittag mit dem Velo besuchen. Weil ich in der Schule 20 und damit volljährig wurde und weil seine Schwester Emmi auch immer mit dabei war, durften wir zu dritt spazieren gehen. Emmi verliebte sich während der Schule in den Knecht auf dem Klosterhof. Dass meine künftige Schwägerin nun auch einen Freund hatte, wusste lange niemand. Ich bin ab und zu beim Klostertor Wache gestanden, wenn sie sich mit ihrem Liebsten heimlich treffen wollte.
Ich hatte das Glück, im Kloster nicht im 14er-Schlafsaal, sondern in einem Viererzimmer wohnen zu dürfen. Unser Schulzimmer war im Riegelbau eingerichtet, und im kleinen Häuschen neben der St.-Anna-Kapelle assen wir. Wir kochten in der Klosterküche fürs ganze Kloster, für die Propstei, für die Schwestern, für die Angestellten und für uns – jeden Tag drei, vier verschiedene Menüs. Die Propstei bekam jeweils das beste Essen, die Schwestern das einfachste.
Wir lernten in der Schule auch Schweine füttern und die Hühnerhaltung. Jeweils eine Woche lang hatte jede von uns Dienst im Hühnerstall – inklusive Misten und Füttern der Tiere. Ich muss heute noch lachen, wenn ich daran denke, dass während dieser Arbeit die «Hühnerschwester» Ursula mit uns Schülerinnen den Rosenkranz betete. Das Metzgen der Hühner hingegen war ein grausiges Thema. Wir hassten es. Eine aus der Klasse weinte jedes Mal und musste zur Strafe etwas ins Opferkässeli geben. Wir hatten die Methode, den Hühnern den Schnabel zu öffnen und mit einer kleinen Schere die Halsader durchzuschneiden. Das sei die humanste Art, Hühner zu töten, hiess es! Auf Weihnachten hin ging es jeweils 30 Truthähnen so an den Kragen. Das Metzgen war auch für mich hart.
Die Ausbildung war damals, kurz nach dem Krieg, schon sehr gut. Ich profitierte für den Haushalt, aber auch menschlich, im Zusammenleben mit den anderen Frauen im Internat, sehr viel. Und immer wieder lernten wir, aus Wenigem etwas zu machen. Viele meiner Kolleginnen nähten sich im Fahr eine Tracht, manche die Fahrertracht mit weisser Bluse und blauem Rock. Solche Extravaganzen konnte ich mir nicht leisten. Ich stickte auf einem Leintuch eine Hohlsaumbordüre. Nach mir ging dann meine Schwester Bernadette in die Fahrer Bäuerinnenschule – und blieb im Kloster. Als Ordensschwester lebt sie dort seit 1958. So habe ich natürlich noch heute einen sehr engen Kontakt zum Fahr. Auch drei unserer Töchter haben später die dortige Bäuerinnenschule besucht.
Nach dieser gründlichen Ausbildung war ich reif für die Ehe! 14 Tage vor unserer Heirat bezogen Niklaus und ich am Hang gegen den Pilatus unser kleines Pacht-Heimetli Griäsigä in Horw. Es gab Arbeit in Hülle und Fülle. Für Flitterwochen wäre es dort oben mit Blick auf den Vierwaldstättersee, Bürgenstock und Rigi sicher schön gewesen. Aber für uns bedeutete der kleine Hof viel, viel Arbeit. Der Schüttstein in der Küche etwa war nur ein Loch, das direkt ins Güllenloch runter ging. Wirklich gefallen hat mir nur das eingebaute Bauernbuffet in der Stube. Aber wir waren jung und verliebt. Da geht fast alles. Bis zur Hochzeit am 15. Juni 1950 im Hergiswald schliefen wir selbstverständlich noch in getrennten Zimmern. Ich denke heute manchmal, wie verklemmt doch früher alles war. Aber ich bin heute noch stolz auf den schweren Verzicht.
Schon bald nach der Hochzeit war ich schwanger. Unsere ersten beiden Kinder, 1951 Niklaus, den Stammhalter, und 1952 Marianne, bekam ich dort oben am Berg. Später hatten wir in Boswil im Aargau eine Pacht auf dem Hof einer Witwe. Nach zwei Jahren und mittlerweile vier Kindern mussten wir dort auch wieder fort. In den ersten sieben Ehejahren kam jedes Jahr ein Kind. Das war unglaublich streng. Ich möchte nie mehr von vorne anfangen.
Niklaus hatte genug vom Wechsel von einer Pacht zur anderen und wollte etwas Eigenes. Wir suchten und suchten. Was uns angeboten wurde, war viel zu teuer. An Neujahr 1955 hatten wir noch kein Daheim für unsere 7-köpfige Familie, und wir wussten, dass wir im März auf der Strasse stehen würden. Mein Mann spielte mit dem Gedanken, nach Kanada auszuwandern und dort ein neues Leben zu beginnen. Aber ich sträubte mich mit Händen und Füssen. Auswandern kam für mich nicht in Frage. Meine Familie, meine Geschwister hätten mir so gefehlt. In der Bauernzeitung fanden wir schliesslich ein Heimet im Welschland zum Verkauf ausgeschrieben: im freiburgischen Franex. Zu einem Preis, der bedeutend günstiger war als in der Deutschschweiz und den wir uns leisten konnten. Niklaus schlug zu.
Ich sprach kein Wort Französisch als wir ankamen. Noch heute, nach bald 60 Jahren im Welschland, spreche ich nicht gut Französisch. Es bleibt mir einfach nicht. Für Heimweh hatte ich keine Zeit, aber im Hinterkopf hatte ich die Hoffnung: Da bleiben wir nicht ewig. Später meinte Niklaus: «Wir machen weiter, bis die Kinder raus sind.» Und schliesslich übergaben wir den Hof unserem Sohn Othmar und bauten uns ein Stöckli … in Franex!
Ja, unser Hof ist schon am Ende der Welt, wie meine Geschwister sagen. Eigentlich war es dann doch wie Auswandern für mich. Der Hof total abgelegen, ohne asphaltierte Zufahrtsstrassen, mit uralten Gebäuden, einer winzigen Küche mit gestampftem Sandboden. Im März 1955 kamen wir mit Hab und Gut an, und im Mai gebar ich unser nächstes Kind. Daheim. Ins Spital nach Estavayer-le-Lac wollte ich nicht. Ich konnte mich ja nicht verständigen. So kam die Hebamme aus dem Dorf, aber sie sprach kein Deutsch! Glücklicherweise reisten zwei meiner Schwestern an und halfen, wo sie konnten. Die Geburt ging problemlos. Ich hatte ja mittlerweile Erfahrung: Sie sollten während der Wehen ein Leintuch unter meinen Rücken rollen und einen Zuber mit warmem Wasser bereithalten, um das Neugeborene zu baden, hiess ich die Helferinnen. Dass unsere kleine Pia von der Hebamme mit jener Seife gewaschen wurde, die wir brauchten, wenn wir aus dem Stall kamen, scheint unserer Tochter nicht geschadet zu haben. Noch heute witzeln wir: Nur dank der Stallseife hast du so eine feine Haut!
Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit! Nicht nur im Haushalt, sondern auch auf dem Betrieb und auf den Feldern. Ich half bei den Zuckerrüben, die wir von Hand ausdünnen mussten, bei den Kartoffeln und schliesslich beim Mais, als wir mit der Rindermast anfingen. 1963 bauten wir einen neuen Stall und endlich ein neues, geräumiges Haus für unsere Familie, die immer noch grösser und grösser wurde.
In der Westschweiz gibt es wenige Familien mit so vielen Kindern. Wir waren Exoten. Empfängnisverhütung war damals noch nicht so einfach wie heute. Wir probierten es mit verzichten,