Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer


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die – ausschliesslich von der sowjetischen Militärführung ausgearbeiteten – Pläne, welche die Tschechoslowakei nicht betrafen, erhalten hatte, muss aufgrund des heutigen Forschungsstandes als unwahrscheinlich bezeichnet werden.97 Viel plausibler ist, dass Šejna vom Operationsbefehl des Warschauer Vertrags in vertraulichen Gesprächen gewisse Bruchstücke erfahren, maximal die tschechoslowakischen Teilaufträge gekannt und sonst von seinem Wissen aus der Generalstabsausbildung und den verschiedenen Übungen profitiert hatte.

      Schliesslich gibt es in Šejnas Buch auch inhaltlich diverse Inkonsistenzen. Unglaubwürdig scheint beispielsweise die Schilderung des angeblich beinahe demokratischen Zustandekommens des Entschlusses zur Ausarbeitung eines strategischen Gesamtplans des Warschauer Vertrags. Die Behauptung, dass im Fall einer Eroberung Westdeutschlands die Entstehung eines gesamtdeutschen Staates hätte vermieden werden sollen, widerspricht den bekannt gewordenen NVA-Dokumenten. Hinsichtlich seiner Aussagen zur Schweiz ist leider der angebliche Meinungsumschwung von 1963, die schweizerische Neutralität nicht mehr zu respektieren, nicht begründet. Auch die Besetzung der Hauptzentren der Schweiz innerhalb der ersten drei Kriegstage und der Einsatz von wertvollen Fallschirmtruppen noch vor der Eroberung Frankreichs sind strategisch widersinnig. Sinnvoll wäre bloss eine Besetzung der für eine Operation gegen Deutschland und Frankreich wichtigen Gebiete aus der Luft gewesen; alles andere ist eine Verschwendung von unersetzbaren Kräften. Als seltsam zu bezeichnen ist ferner die anschliessende Bemerkung bezüglich der Besetzung der Schweiz im Fall eines «lokalen Krieges» in Deutschland, das heisst eines auf Deutschland beschränkten Konfliktes. Wenn etwas die östlichen Truppen in dieser Situation zum Einmarsch in die Schweiz veranlasst hätte, dann doch wohl eher ein befürchteter Flankenstoss der Nato durch die Schweiz. Eine Gefahr, die von irgendwelchen «Faschisten» hätte ausgehen können, welche in der Eidgenossenschaft Zuflucht gesucht hätten und nicht interniert worden wären, scheint sehr gesucht. Diese grundsätzliche Kritik teilt auch Milan Macák in seinem neuesten, Tschechisch geschriebenen Buch mit dem aussagekräftigen Titel «Das Doppelgesicht eines Hazardspielers. Jan Šeina unter der Lupe der militärischen Gegenspionage».98

      Ein weiterer «Überläufer», auf den in der Vergangenheit gerne verwiesen wurde, um die Existenz östlicher Angriffspläne gegen die Schweiz zu belegen, war Vasilij Nikitič Mitrochin, ein ehemaliger Major und Archivar des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Mitrochin hatte sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR mit Kopien von KGB-Dokumenten beim englischen Geheimdienst MI6 gemeldet und war anschliessend mit rund 25 000 Seiten Material nach Grossbritannien gebracht worden. Ab 1999 erschienen verschiedene Bücher über das «Mitrochin-Archiv»99, die unter anderem auch brisante Informationen zur Schweiz enthielten. Für Aufsehen sorgte insbesondere das Bestehen geheimer Waffendepots. Im Rahmen der vorliegenden Studie kommt den Auskünften und Akten Mitrochins nur sehr beschränkte Bedeutung zu, da sie einen späteren Zeitraum als die hier interessierende Forschungsperiode betreffen. Unlängst hat Daniele Ganser die Geheimoperationen der Nato analysiert.100 Die westlichen Dienste vermögen aufgrund dieser Darstellung den Vergleich mit ihren östlichen Kollegen problemlos zu bestehen.

      Aufgrund unserer Forschungsfragen, des bisherigen Forschungsstandes und der Quellenlage in den Archiven wurde folgender Aufbau der Studie gewählt:

      – In einem ersten allgemeinen Einführungsteil werden die Grundzüge der kommunistischen Ideologie dargestellt. Schlüsselbegriffe wie beispielsweise Krieg, Friede und Neutralität werden aus marxistisch-leninistischer Sicht definiert.

      – Diese begrifflich-ideologische Grundlage wird mit der vorwiegend auf Sekundärliteratur basierenden Analyse der Militärpolitik und der Militärdoktrin der Sowjetunion und des Warschauer Vertrags in unserer Forschungsperiode konkretisiert. Dadurch wird die Basis für das Verständnis der verschiedenen Planungen des östlichen Militärbündnisses geschaffen. Der Beschreibung der politischen Ereignisse wird kein grosses Gewicht beigemessen; es sei denn, sie stünden in einem direkten Zusammenhang mit der militärischen Planung.

      – Im zentralen dritten Teil wird das Bild der Schweiz aus östlicher Sicht in verschiedenen Facetten gemalt. Insbesondere geht es um die Wahrnehmung der Schweiz aufgrund der Berichte von östlichen Diplomaten und um die Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralität. Grundlage zu diesem Teil bildet die Dissertation Nevals.

      – Am Beispiel weniger ausgewählter Dokumente soll im vierten Teil das schweizerische «Feindbild» fassbar gemacht werden, um die Grundlage zu schaffen, die konkreten Planungen mit diesem zu konfrontieren.

      – Ebenfalls als Frucht von Archivstudien werden anschliessend im forschungsmässig gewichtigen fünften Teil die zugänglichen militärischen Planungen des Warschauer Vertrags gegen Westeuropa detailliert dargestellt und insbesondere die Betroffenheit der Schweiz im westeuropäischen Kontext untersucht.

      – Daraufhin wird im sechsten Teil der nachrichtendienstliche Aspekt aus schweizerischer Optik, das heisst aufgrund der uns zugänglichen Spionageprozesse, beleuchtet. Diese Ergebnisse werden mit den leider nur noch spärlich vorhandenen Dokumenten in östlichen Archiven verglichen und ergänzt.

      – Im argumentativen Schlussteil sollen vor allem die drei Forschungsfragen beantwortet werden.

      Die Darstellung der einzelnen Teile erfolgt chronologisch. Dabei wird die Periode von 1945 bis 1966 grundsätzlich in drei Hauptphasen unterteilt, nämlich in die Regierungszeiten der drei sowjetischen Parteiführer in der uns interessierenden Epoche: die Ära von Josef Stalin (1945–1953), diejenige von Nikita Chruščev (1953–1964) und die ersten beiden Jahre der Ära von Leonid Brežnev.101

      Um die Entwicklung der Militärdoktrin der Sowjetunion und des Warschauer Vertrags aufzuzeigen, macht es – wie gezeigt werden wird – Sinn, die Ära Chruščevs zusätzlich in eine erste und eine zweite Phase zu unterteilen. Als Übergangszeitpunkt kann dabei Ende 1959/Anfang 1960 festgemacht werden, als Chruščev die dominierende Rolle der strategischen Nuklearwaffen proklamierte und als der Warschauer Vertrag von einer politischen Allianz in einen Militärpakt transformiert wurde. Ausserdem muss die «Chruščev-Phase II» zeitlich bis etwa 1966 ausgedehnt werden, zeichnete sich doch erst dann wieder eine Veränderung bezüglich der Militärdoktrin ab.

      Feiner strukturiert werden kann der Zeitraum zwischen 1945 und 1966 ferner durch die ereignisgeschichtlichen Höhepunkte des Kalten Kriegs: 1945 Kriegsende, 1948/49 erste Berlinkrise (nach dem Prager Umsturz im Februar 1948), 1953 Tod Stalins, 1956 Doppelkrise, 1958 bis 1961 zweite Berlinkrise, 1962 Kubakrise. Nach östlicher Optik müsste eine sinnvolle Periodisierung wohl bis 1968, bis zum gewaltsamen Ende des Prager Frühlings, erweitert werden; für das Projekt zur Erforschung der Geschichte des Schweizerischen Generalstabs ist jedoch das eidgenössische Schlüsseljahr 1966 als Endpunkt gewählt worden.

      Die Studie wird ergänzt durch eine Liste der verwendeten Abkürzungen, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister. In einer beigelegten CD und DVD sind diverse Dokumente, Karten und Filmmaterial zur Vertiefung von Einzelthemen verfügbar.

TEIL I: Die marxistisch-leninistische Ideologie als Grundlage des Verhaltens des Ostblocks1
Matthias Wild

      1.1 Einleitende Bemerkungen

      Der Einfluss des Marxismus-Leninismus auf das Wahrnehmen, das Beurteilen und das Handeln der Entscheidungsträger im Ostblock wurde von der westlichen Forschung teilweise unterschätzt.2 Es ist zwar eine Tatsache, dass die Ideologie im hier interessierenden Zeitraum 1945–1966 nicht mehr die gleich grosse Rolle spielte wie zu Lenins Zeiten; die politischen Entscheidungen waren nun zunehmend von Pragmatismus und Routine geprägt. Daraus zu folgern, die Ideologie sei irrelevant geworden und die sowjetische Aussenpolitik sei primär vom «nationalen Interesse» geleitet worden und ausschliesslich pragmatisch gewesen, ist jedoch falsch. Der Marxismus-Leninismus war in den Ländern des


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