Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer


Скачать книгу
1962)"/>

      Abb. 10: Vladimir Il’ič Lenin. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1962)

      Den Sozialismus mit seiner «Diktatur des Proletariats» betrachtete Lenin als eine kurzfristige Übergangsphase.23 Dies erwies sich jedoch je länger, je mehr als Fehleinschätzung. Im Verlauf der 1960er-Jahre korrigierte die KPdSU deshalb ihre bisherige Haltung und «erkannte», dass der Sozialismus ebenfalls eine «relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmassstab» sei.24 Keine Änderungen gab es bezüglich der Einschätzung des Kommunismus. Er galt weiterhin als höchste Stufe in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und wurde definiert als «eine klassenlose Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel einheitliches Volkseigentum und sämtliche Mitglieder der Gesellschaft sozial völlig gleich sein werden, in der mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auf der Grundlage der ständig fortschreitenden Wissenschaft und Technik auch die Produktivkräfte wachsen und alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums voller fliessen werden und wo das grosse Prinzip herrschen wird: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Der Kommunismus ist eine hochorganisierte Gesellschaft freier arbeitender Menschen von hohem Bewusstsein, in der gesellschaftliche Selbstverwaltung bestehen wird, in der die Arbeit zum Wohle der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis für alle, zur bewusst gewordenen Notwendigkeit werden und jeder seine Fähigkeiten mit dem grössten Nutzen für das Volk anwenden wird.»25 Der Staat, der als «Herrschaftsapparat zur systematischen Ausübung der Diktatur einer bestimmten Klasse über andere Klassen» entstanden sei, verschwinde beim Übergang zum Kommunismus und werde ersetzt durch die gesellschaftliche Selbstverwaltung.26

      Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: Marx und Engels sowie ihre Anhänger gingen von der Grundannahme aus, dass für den Verlauf der Geschichte letztlich immer die wirtschaftliche Entwicklung ausschlaggebend sei. Von dieser Grundannahme leiteten sie die These ab, dass sämtliche menschlichen Gesellschaften dazu bestimmt seien, kommunistisch zu werden; und sie vertraten die Ansicht, dass diese Tatsache zu begrüssen sei.

      Von besonderer Bedeutung für die marxistisch-leninistische Einschätzung der Nachkriegsentwicklungen war die Theorie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Diese basierte im Allgemeinen auf der von Marx formulierten These, dass es durch den Grundwiderspruch des Kapitalismus – den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Form der Aneignung – zu tiefgreifenden periodischen Wirtschaftskrisen, Kriegen und Klassenkämpfen komme,27 sowie im Speziellen auf Lenins Imperialismustheorie:28 Lenin behauptete, dass der Kapitalismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in sein höchstes und letztes Stadium eingetreten sei – in das Stadium des Imperialismus. Dieses sei gekennzeichnet durch die Entstehung von Monopolen, durch die in Politik und Wirtschaft führende Rolle von Grossbanken sowie durch internationale Kartelle und koloniale Ausbeutung. Durch den Imperialismus gerate der Kapitalismus in eine allgemeine Krise; er werde zum «parasitären, verfaulenden»,29 «sterbenden»30 Kapitalismus am «Vorabend der sozialistischen Revolution».31 Seine Ablösung durch den Sozialismus und den Kommunismus werde notwendig und unvermeidlich.

      Allerdings kam es trotz Krisen und Kriegen nicht zum erwarteten raschen Untergang des Kapitalismus. Dieser Entwicklung trug die KPdSU zu Beginn der 1960er-Jahre Rechnung: Sie passte die Theorie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus an die Realität an. Die offizielle Doktrin lautete nun, dass die Krise des Kapitalismus beziehungsweise der Übergang zum Kommunismus eine Periode von längerer Dauer sei und in drei Etappen unterteilt werden könne:32

      Die erste Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus habe begonnen mit der Entfesselung des Ersten Weltkriegs durch die imperialistischen Länder. Durch die Oktoberrevolution habe der Kapitalismus aufgehört, das einzige und allumfassende sozial-ökonomische Weltsystem zu sein; der Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus sei zum «Hauptinhalt der Weltgeschichte» geworden. Der «revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse» in den kapitalistischen Ländern habe einen stürmischen Aufschwung erlebt, worauf die «imperialistische Bourgeoisie» mit härtesten Gewaltmassnahmen gegenüber den Werktätigen reagiert und in einzelnen Ländern faschistische Regimes errichtet habe. Die aggressivsten Gruppen der «Monopolbourgeoisie» hätten durch Anwendung nackter Gewalt, vor allem in Form eines neuen Weltkriegs, einen Ausweg aus der Krise zu finden versucht.

      Die zweite Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus habe begonnen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs und sich fortgesetzt mit den sozialistischen Revolutionen in einer Reihe von Ländern Europas und Asiens.33 Diese Etappe sei durch vier Merkmale charakterisiert gewesen: 1. das Abfallen mehrerer Länder Europas und Asiens vom Kapitalismus und die Verwandlung des Sozialismus in ein Weltsystem; 2. den fortschreitenden Zerfall des imperialistischen Kolonialsystems; 3. das Heranwachsen neuer Widersprüche zwischen Staaten des imperialistischen Lagers, vor allem aufgrund des amerikanischen Imperialismus und seines Kampfes um die Weltherrschaft; 4. die weitere Vertiefung und Erweiterung der Klassenantagonismen in den kapitalistischen Ländern. Die Imperialisten hätten sich mit diesen historischen Veränderungen nicht abgefunden: «Unmittelbar nach Kriegsende begannen sie eine fieberhafte Aufrüstung, um ein neues Weltgemetzel vorzubereiten, und sie entfesselten den kalten Krieg34 gegen die Länder des Sozialismus. Die zweite Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus war durch die verstärkte Aggressivität des Imperialismus, durch die Verschärfung der die Welt bedrohenden Kriegsgefahr gekennzeichnet.»35

      Im November 1960 kamen die Vertreter der kommunistischen Parteien zum Schluss, dass in der Entwicklung der allgemeinen Krise des Kapitalismus eine neue, dritte Etappe begonnen habe. Diese Etappe, welche im Gegensatz zu den beiden früheren Etappen nicht im Zusammenhang mit einem Weltkrieg entstanden sei, sei gekennzeichnet durch das beschleunigte Hinüberwachsen des «Monopolkapitalismus» in den «staatsmonopolistischen Kapitalismus».36 Am deutlichsten zum Ausdruck komme der staatsmonopolistische Kapitalismus in der Politik der «kapitalistischen Integration», welche «gigantische staatsmonopolistische Vereinigungen» wie die Montanunion, Euratom, EWG und EFTA hervorgebracht habe. Diese seien – im Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Kartellen privater Monopole – das Resultat einer Übereinkunft zwischen Regierungen; dahinter stünden jedoch ebenfalls die Interessen und der Wille der Finanzoligarchie: «Der ‹Gemeinsame Markt› – das ist das ‹Europa der Trusts›, die moderne Form der Neuaufteilung der Märkte zwischen den grössten Monopolen.»37 Die so entstandenen internationalen staatsmonopolistischen Vereinigungen seien ein Mittel der Imperialisten zur Unterdrückung der demokratischen Bewegungen, der Arbeiterbewegungen sowie – mittels einer Politik des «Neokolonialismus» – der nationalen Befreiungsbewegungen. Initiiert worden sei die kapitalistische Integration von den USA, welche auf diese Weise versuchen würden, das «Vereinigte Europa» in das «Fahrwasser» ihrer aggressiven Politik gegen die sozialistischen Länder zu bringen und so ihre führende Rolle in der kapitalistischen Welt abzusichern. Untrennbar mit dem Staatsmonopolismus verbunden seien die Militarisierung der Wirtschaft sowie die Aufrüstung und der Ausbau der Militär- und Polizeifunktionen, was langfristig auf die Erschöpfung der Volkswirtschaft hinauslaufe. Dies ziehe eine Reduktion der Staatsausgaben für soziale und kulturelle Zwecke nach sich und führe zur «Aufpeitschung des Chauvinismus». Alle diese Erscheinungen würden Lenins Voraussagen über die zunehmende «Fäulnis» des Kapitalismus in seinem letzten Stadium38 bestätigen. Und auch wenn die kapitalistische Wirtschaft in einzelnen Fällen trotz ihrer «Fäulnis» weiterwachse, so sei der Prozess der fortschreitenden Veränderung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten des sozialistischen Lagers dennoch nicht aufzuhalten. Die «gegenwärtige Epoche» wurde dementsprechend charakterisiert als eine Epoche, in welcher «der Imperialismus […] in das Stadium seines Niedergangs und Untergangs eingetreten» sei, als «eine Epoche der Revolutionen» sowie «des Übergangs immer neuer Völker zum Sozialismus und des endgültigen Sieges von Sozialismus und Kommunismus auf der ganzen Welt».39

      Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg galt im


Скачать книгу