Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
ob ein Krieg aus Lenins Sicht gut oder schlecht war, entschieden also – entsprechend der marxistischen Geschichtsauffassung – der Klassencharakter sowie die Zielsetzung dieses Kriegs.79
Gut – mit Lenins Worten «revolutionär», «fortschrittlich» oder «rechtmässig»80 – waren für Lenin nur Kriege, die von der unterdrückten Klasse zum Zwecke des Sturzes der herrschenden Klasse geführt wurden.81 Dazu zählte er die folgenden Kriege: erstens Freiheitskriege von Nationen gegen die sie unterdrückenden imperialistischen Grossmächte, zweitens die Bürgerkriege «des Proletariats gegen die Bourgeoisie, für den Sozialismus»82 als natürliche, und unter gewissen Bedingungen unausweichliche Folge des Klassenkampfes, und drittens die sogenannten «revolutionären Kriege».83 Mit dem Ausdruck «revolutionäre Kriege» bezeichnete Lenin einerseits defensive Kriege des Sozialismus zur Verteidigung des siegreichen Proletariats gegen die «Bourgeoisie» anderer Länder, andererseits aber auch offensive Kriege eines sozialistischen Staates zur Ausbreitung der proletarischen Revolution, das heisst Kriege mit dem Zweck, in anderen Staaten den Kommunismus einzuführen.
Inbegriff des schlechten – «reaktionären», «räuberischen» oder «habgierigen»84 – Kriegs war für Lenin der sogenannte «imperialistische Krieg».85 Damit war ein Krieg gemeint, der von im Stadium des Imperialismus befindlichen Ländern geführt wurde. Lenin verurteilte alle «imperialistischen Kriege» scharf und unterstützte in keinem Fall eine imperialistische Kriegspartei. Diesbezüglich unterschied er sich also von Marx und Engels, die ja Kriege zwischen kapitalistischen Staaten nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern stets überprüft hatten, ob der Sieg einer Seite der Sache des Kommunismus nützlich sein könnte. Wie ist die eindeutig ablehnende Haltung Lenins gegenüber «imperialistischen Kriegen» zu erklären? Zum einen ist sie darauf zurückzuführen, dass in Lenins Augen einem Krieg zwischen imperialistischen Staaten – im Gegensatz zu einem Krieg zwischen kapitalistischen Staaten – jegliches «progressive» Element fehlte.86 Dies deshalb, weil gemäss Lenins Imperialismus-Theorie im Imperialismus als der höchsten und letzten Stufe des Kapitalismus Fortschritte grundsätzlich ausgeschlossen sind.87 Zum anderen hing Lenins Haltung damit zusammen, dass die Arbeiterklasse – und damit der Rückhalt der kommunistischen Bewegung – verglichen mit den Zeiten von Marx und Engels viel grösser war: Anders als im 19. Jahrhundert, als die wenigen Marxisten angesichts ihrer geringen Macht praktisch gezwungen waren, für eine der «bourgeoisen» Kriegsparteien Stellung zu beziehen, um Fortschritte in Richtung proletarische Revolution zu erreichen, konnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die nun über beträchtliche Einflussmöglichkeiten verfügenden Kommunisten es sich leisten, einen Krieg komplett abzulehnen. Statt lediglich zuzuschauen und auf den Sieg einer Seite zu hoffen, waren die Kommunisten jetzt in der Lage, selbst im Sinn ihrer Sache aktiv zu werden: Sie konnten versuchen, die zwangsläufig instabilere Lage in den am Krieg teilnehmenden Ländern direkt auszunutzen und den «imperialistischen Krieg» in Bürgerkriege umzuwandeln mit dem Ziel des – wenn möglich weltweiten – Sturzes der Bourgeoisie.88
Im Zusammenhang mit der letzten Bemerkung darf darauf hingewiesen werden, dass es Lenin selbst gelang, sich die revolutionäre Wirkung von «imperialistischen Kriegen» zur Erreichung der eigenen Ziele zu Nutze zu machen: Im Jahr 1917 profitierte er von der inneren Schwäche Russlands nach den Niederlagen im Ersten Weltkrieg und führte mit Erfolg eine proletarische Revolution, die sogenannte «Oktoberrevolution», durch. Aus dieser ging der erste sozialistische Staat der Welt hervor: die Sowjetunion.
(5) Angesichts der grundsätzlichen Übereinstimmung Lenins mit Marx und Engels hinsichtlich der Funktion von Krieg und hinsichtlich der Einstellung zum Krieg überrascht es nicht, dass sich auch seine Haltung zum Akt der Aggression nicht von jener seiner Vorgänger unterschied:89 Gemäss Lenin kam es für die Bewertung eines Kriegs nicht darauf an, ob der Krieg seinen äusseren Merkmalen nach einen Angriffs- oder einen Verteidigungskrieg darstellte, sondern einzig und allein darauf, welche Klasse mit welchen Zielen diesen Krieg führte.90 Dementsprechend lehnte auch Lenin eine Aggression nicht grundsätzlich ab, sondern er befürwortete das Beginnen eines Kriegs immer dann, wenn dies durch die «ausgebeutete Klasse» zur Erreichung ihrer revolutionären Ziele geschah.91
Während Marx und Engels die Idee eines solchen «revolutionären Krieges» hauptsächlich auf die innerstaatliche Ebene – also auf einen Bürgerkrieg – bezogen hatten, befasste sich Lenin auch mit der Möglichkeit eines «revolutionären Krieges» auf der zwischenstaatlichen Ebene. Dies deshalb, weil ihm die Vision eines sozialistischen Staates zunehmend realistisch erschien. Bereits 1915 schlug er vor, dass nach dem Sieg des Sozialismus in einem Land das Proletariat dieses Landes den «Aufstand gegen die Kapitalisten» in anderen Ländern entfachen «und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen» sollte.92 Als dann die Revolution in Russland den ersten «proletarischen Staat» hervorgebracht hatte, gewann diese Auffassung praktische Bedeutung: Dem neuen Sowjetstaat wurde die Pflicht zuteil, dem revolutionären Proletariat anderer Länder bei Bedarf zu Hilfe zu kommen, wenn nötig in Form eines offensiven «revolutionären Krieges».93
(6) Zum eben Gesagten ist einschränkend hinzuzufügen, dass Lenin wie Marx und Engels die Anwendung von Krieg als Mittel zur Förderung des Kommunismus nur unter den beiden Voraussetzungen guthiess, dass erstens das entsprechende Ziel der «ausgebeuteten Klasse» nicht mit friedlichen Mitteln zu erreichen war94 und dass zweitens der Sieg in diesem Krieg als sicher angesehen werden konnte.95 Nach der Entstehung der Sowjetunion gesellte sich dazu noch eine dritte Voraussetzung: Es musste gesichert sein, dass der politische Nutzen, den die Sowjetunion – als staatliche Verkörperung des Kommunismus – aus einem von ihr geführten Krieg zog, die Nachteile für sich – und damit für den Kommunismus als Ganzes – sowohl kurz- wie auch langfristig klar überwog.96 Mit anderen Worten: Ein Krieg durfte, selbst wenn der Sieg in diesem sicher erschien, nur dann angefangen werden, wenn er das von der kommunistischen Bewegung bereits Erreichte nicht gefährdete.
(7) Was die erste dieser drei Voraussetzungen für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass Lenin im Unterschied zu Marx und Engels eindeutig der Überzeugung war, dass das Hauptziel der kommunistischen Bewegung, die weltweite Errichtung des Sozialismus, mit friedlichen Mitteln – das heisst auf evolutionärem Wege – nicht erreicht werden könne.97 Lenins Meinung nach war auf jeden Fall Gewalt notwendig, um die bestehende Ordnung zu stürzen: «Wir haben stets gewusst, gesagt und immer wieder gesagt, dass man den Sozialismus nicht ‹einführen› kann, dass er im Verlauf des angespanntesten, heftigsten, bis zur Raserei, bis zur Verzweiflung zugespitzten Klassenkampfes und Bürgerkrieges heranwächst, dass zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus eine lange Periode der ‹Geburtswehen› liegt, dass die Gewalt stets Geburtshelfer der alten Gesellschaft ist, dass der Übergangsperiode von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft ein besonderer Staat entspricht (d. h. ein besonderes System der organisierten Gewalt über eine bestimmte Klasse), nämlich: die Diktatur des Proletariats. Die Diktatur des Proletariats aber setzt voraus und bedeutet einen Zustand des latenten Krieges, einen Zustand militärischer Kampfmassnahmen gegen die Gegner der proletarischen Staatsmacht.»98
(8) Bezüglich der zweiten genannten Voraussetzung für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten – der Bedingung, dass der Sieg in diesem Krieg höchstwahrscheinlich sein musste – ist zu ergänzen, dass Lenin grundsätzlich wie Marx und Engels die wirtschaftliche Basis einer Gesellschaft als Hauptfaktor für den Sieg in einem Krieg betrachtete.99 Allerdings kam seiner Meinung nach einem anderen Faktor immer stärkere Bedeutung zu: Ausgehend von der Tatsache, dass Kriege zunehmend zu einer Angelegenheit des gesamten Volkes wurden, behauptete Lenin, der Ausgang eines Kriegs könne durch die «Moral» der Bevölkerungen der an diesem Krieg beteiligten Staaten entschieden werden. Dies gelte insbesondere dann, wenn ein «proletarisches» Land gegen ein «bourgeoises» Land kämpfe. In einem solchen Fall – so Lenin – würden die Truppen des Ersteren mit riesiger revolutionärer Begeisterung kämpfen, während diejenigen des Letzteren nur widerwillig dienen würden. Als Beleg für diese Behauptung verwies Lenin auf den russischen Bürgerkrieg von 1918–1920, in welchem die «bourgeoisen»